Detaillierte Zusammenfassung des Urteils des schweizerischen Bundesgerichts (5A_69/2025 vom 24. Juni 2025)
Parteien:
* Beschwerdeführerin (Superfiziaten): A._ SA
* Beschwerdegegnerin (Superfiziantin): Commune de B._
Streitgegenstand:
Der Rechtsstreit betrifft die Gültigkeit einer vorzeitigen Heimfallerklärung eines Baurechtsvertrags (Dienstbarkeit des Superädifikats) und die Auslegung sowie Anwendung von Art. 108 Ziff. 1 des Obligationenrechts (OR) im Kontext einer angeblichen schwerwiegenden Vertragsverletzung.
I. Sachverhalt und Verfahrensgeschichte
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Ursprung des Baurechts:
- Am 17. Juli 1959 räumte die damalige Gemeinde C.B._ (heute Teil der Gemeinde B._) der D.B.__ SA für eine feste Dauer von 99 Jahren eine persönliche Dienstbarkeit des Superädifikats ein. Diese Dienstbarkeit, im Grundbuch als selbstständiges und dauerndes Recht (s.DDR) eingetragen, erlaubte den Bau und Betrieb eines Hotel-Restaurants mit Terrassen. Als Gegenleistung war ein jährlicher Baurechtszins von 100 CHF geschuldet.
- Durch Vertrag vom 27. Juni 1980 wurde das Baurecht geändert: Die Fläche wurde erweitert, der jährliche Zins erhöht und indexiert. Wesentlicher Punkt: Art. 5 lit. a sah vor, dass bei einem vorzeitigen Heimfall aus zwingenden Gründen des öffentlichen Interesses die Gemeinde verpflichtet war, die Gebäude und das Mobiliar zu ihrem Verkehrswert zurückzukaufen und den Baurechtsnehmer sowie allfällige Mieter für entstandene Verpflichtungen, Investitionen und Schäden vollumfänglich zu entschädigen. Art. 5 lit. b und 6 regelte den Heimfall bei einem Verschulden des Baurechtsnehmers: Die Gemeinde konnte die Gebäude gegen eine von einer dreiköpfigen Expertenkommission festzusetzende Billigkeitsentschädigung zurücknehmen, ohne Verpflichtung zur Übernahme des Mobiliars. Die Fälle, in denen ein Verschulden angenommen wurde, waren in Art. 5 lit. b Ziff. 1 bis 7 abschliessend aufgeführt.
- Eine weitere Anpassung erfolgte am 12. Juli 1990 (Flächenerweiterung, Zinserhöhung).
- Am 27. Februar 2003 trat die in Liquidation befindliche Baurechtsgesellschaft ihr Recht mit Zustimmung der Gemeinde und gegen Erhöhung des Baurechtszinses an die A.__ SA (die Beschwerdeführerin) ab.
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Entwicklung des Projekts und Kündigung:
- Ab September 2008 wurde das Projekt "E._" zur Errichtung eines neuen Hotelkomplexes initiiert. Ein Architektenwettbewerb empfahl im Februar 2012 das Projekt "F._".
- Parallel dazu liefen seit 2013 Überlegungen zur Änderung der lokalen und detaillierten Gestaltungspläne (PAL/PAD) für das Projekt "E.__".
- Am 29. Juni 2017 kündigte die Gemeinde B.__ (die Beschwerdegegnerin) den Baurechtsvertrag. Die Parteien konnten sich über die Höhe der Entschädigung nicht einigen.
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Bisheriger Rechtsweg:
- Am 21. August 2018 reichte die Gemeinde Klage ein, u.a. zur Feststellung der Kündigung und der Entschädigungsfrage. Die Baurechtsnehmerin beantragte die Abweisung der Klage, die Feststellung der Ungültigkeit der Kündigung und das Fortbestehen des Baurechts. Eventualiter stellte sie eine Widerklage auf Schadenersatz/Gewinnentgang bzw. Verlängerung des Baurechts.
- Das Zivilgericht der Broye stellte am 15. Juni 2021 die Gültigkeit der Kündigung fest, erklärte sich aber für die Entschädigungsfrage als unzuständig (Verweis auf Expertenkommission).
- Das Freiburger Kantonsgericht (Ie Cour d'appel civil) wies am 31. Oktober 2022 den Rekurs der Baurechtsnehmerin ab und bestätigte die erstinstanzliche Entscheidung.
- Der erste Bundesgerichtsentscheid (ATF 150 III 63): Am 12. Dezember 2023 (5A_941/2022) hiess das Bundesgericht die Beschwerde der Baurechtsnehmerin teilweise gut, hob das kantonale Urteil auf und wies die Sache zur Neubeurteilung zurück. Das Bundesgericht hielt fest, dass die Gemeinde die Anforderungen von Art. 107 Abs. 1 OR (analog angewendet) nicht beachtet hatte, da sie der Baurechtsnehmerin keine Nachfrist zur vertragskonformen Wiederherstellung der Situation angesetzt hatte. Es liess jedoch offen, ob diese Formalität gemäss Art. 108 Ziff. 1 OR (analog) entbehrlich gewesen wäre, weil eine Nachfrist angesichts des Verhaltens der Baurechtsnehmerin von vornherein aussichtslos gewesen wäre. Diesbezüglich erging der Rückweisungsauftrag.
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Verfahren nach Rückweisung und erneuter kantonaler Entscheid:
- Nach der Rückweisung durch das Bundesgericht reichten beide Parteien neue Sachverhaltsbehauptungen und Beweismittel ein.
- Am 4. Dezember 2024 wies das Kantonsgericht den Rekurs der Beschwerdeführerin erneut ab und bestätigte die Gültigkeit der Kündigung. Es ging davon aus, dass die Voraussetzungen von Art. 108 Ziff. 1 OR erfüllt seien.
II. Rügen der Beschwerdeführerin vor dem Bundesgericht
Die Beschwerdeführerin erhob eine zivilrechtliche Beschwerde und eine subsidiäre Verfassungsbeschwerde. Sie beantragte primär die Abweisung der Klage der Gemeinde, die Feststellung der Ungültigkeit der Kündigung und des Fortbestehens des Baurechts. Zudem beantragte sie die Rückweisung der Sache an die erste Instanz zur Behandlung ihrer Widerklage und ein Verbot für die Gemeinde, das Baurecht zu kündigen, solange die Planungsarbeiten (PAL/PAD) nicht rechtskräftig seien.
III. Erwägungen des Bundesgerichts
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Zulässigkeit der Beschwerde und Feststellungsbegehren:
- Die zivilrechtliche Beschwerde ist grundsätzlich zulässig; die subsidiäre Verfassungsbeschwerde daher unzulässig (Art. 113 BGG).
- Die Feststellungsbegehren der Beschwerdeführerin betreffend die Ungültigkeit der Kündigung und das Fortbestehen des Baurechts sind unzulässig, da ihre reformatorischen Begehren (Abweisung der Klage der Gemeinde) ausreichend sind und Feststellungsbegehren subsidiären Charakter haben (vgl. ATF 141 II 113 E. 1.7).
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Bindung an den Rückweisungsentscheid und Sachverhaltsfeststellung:
- Das Bundesgericht wies die Rüge der Beschwerdeführerin wegen Verletzung der Dispositionsmaxime und des Willkürverbots (Art. 9 BV) zurück. Im Rahmen der Dispositionsmaxime (Art. 55 Abs. 1 ZPO) müssen die Parteien die Tatsachen vorbringen und beweisen, nicht die anwendbare abstrakte Rechtsnorm. Es obliegt dem Richter, das Recht von Amtes wegen anzuwenden (iura novit curia; Art. 57 ZPO) und dabei alle im Prozess festgestellten Tatsachen zu berücksichtigen, unabhängig davon, welche Partei sie vorgetragen hat (vgl. BGE 138 III 289 E. 12.1). Die Vorinstanz durfte daher die Voraussetzungen von Art. 108 Ziff. 1 OR aufgrund der im Verfahren festgestellten Tatsachen prüfen.
- Das Bundesgericht legt seinem Urteil den von der Vorinstanz festgestellten Sachverhalt zugrunde (Art. 105 Abs. 1 BGG), ausser bei offensichtlich unrichtiger oder rechtsverletzender Feststellung (Art. 105 Abs. 2 BGG).
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Gültigkeit der Kündigung (Anwendung von Art. 108 Ziff. 1 OR):
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Rechtliche Grundlagen:
- Gemäss Art. 108 Ziff. 1 OR kann der Gläubiger die Rechte aus Art. 107 Abs. 2 OR (Rücktritt vom Vertrag oder Festhalten am Vertrag und Schadenersatz) ausüben, ohne eine Nachfrist angesetzt zu haben, wenn sich aus dem Verhalten des Schuldners ergibt, dass eine solche Frist nutzlos wäre.
- Dies setzt eine klare und definitive Verweigerung der Leistung voraus oder ein Verhalten, das als solches zu interpretieren ist (ATF 121 III 453 E. 4b; 110 II 141 E. 1b). Es genügt nicht, wenn der Schuldner um einen Aufschub bittet, erklärt, er könne derzeit nicht leisten, oder Zweifel an der Gültigkeit des Vertrags äussert (ATF 110 II 141 E. 1b).
- Die Beweislast für die Nutzlosigkeit der Frist liegt beim Gläubiger. Bestehen Zweifel am Willen zur Leistungserfüllung, muss eine Nachfrist angesetzt werden (ATF 111 II 159 E. 2; 110 II 141 E. 1b).
- Obwohl in der Regel weniger streng als bei Art. 107 Abs. 1 OR, gilt auch für Art. 108 Ziff. 1 OR das Erfordernis der unverzüglichen Erklärung des Rücktritts gemäss Art. 107 Abs. 2 OR. Eine Ausnahme besteht, wenn das Berufen des Schuldners auf das Fehlen einer solchen Erklärung treuwidrig wäre (ATF 143 III 495 E. 4.3.2).
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Anwendung auf den vorliegenden Fall:
- Das Bundesgericht hält fest, dass die von der Vorinstanz festgestellte schwerwiegende Verletzung der Unterhalts- und Betriebspflichten der Beschwerdeführerin über Jahre hinweg allein nicht ausreicht, um eine definitive Leistungsverweigerung oder Unmöglichkeit der Leistungserbringung aufgrund des Zustands des Gebäudes anzunehmen, welche die strengen Anforderungen von Art. 108 Ziff. 1 OR erfüllen würde.
- Das Schreiben der Gemeinde vom 9. März 2017 zeigt, dass die Gemeinde selbst die Haltung der Beschwerdeführerin nicht als definitive Verweigerung interpretierte. Die Gemeinde wollte "gerne wissen", was die Beschwerdeführerin "damit (d.h. mit dem Hotel-Restaurant) zu tun gedenkt", und forderte sie auf, "Informationen über den Betrieb dieses Gebäudes und einen neuen Stand der Situation des Projekts 'E.__' zu geben". Dies deutet darauf hin, dass die Gemeinde noch Informationen und Absichten erwartete und nicht davon ausging, dass eine Nachfrist nutzlos wäre.
- Die Antwort der Beschwerdeführerin vom 29. März 2017 war ebenfalls keine klare und definitive Verweigerung. Sie erwähnte zwar, dass ein Grossteil der Zimmer ohne grössere Investitionen unbrauchbar sei, kündigte aber gleichzeitig an, einen neuen Mieter zu suchen.
- Die Begründung der Beschwerdeführerin, sie würde vor der Mietersuche nicht renovieren, oder ihre Annahme, ihre Pflichten seien durch das neue Projekt ausgesetzt oder geändert, können gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung nicht als klare und definitive Leistungsverweigerung qualifiziert werden.
- Die mehrfachen Kontakte der Gemeinde mit der Beschwerdeführerin, deren genauer Inhalt (ausser dem Schreiben vom 9. März 2017) nicht feststeht, reichen ebenfalls nicht aus, um eine implizite definitive Verweigerung abzuleiten. Es ist nicht erwiesen, dass die Gemeinde regelmässig zur Einhaltung der Unterhalts- und Betriebspflichten gemahnt hatte.
- Der Verweis auf den früheren Bundesgerichtsentscheid (ATF 150 III 63 E. 8.3.2.1), wonach der Superfiziant sein Heimfallrecht geltend machen kann, solange die Verletzung andauert, sofern kein stillschweigendes Einverständnis oder Rechtsmissbrauch vorliegt, bedeutet nicht, dass die formalen Anforderungen von Art. 107 ff. OR entfallen. Die Feststellung, dass kein Rechtsmissbrauch seitens der Gemeinde vorlag, ersetzt nicht die Erfüllung der Voraussetzungen von Art. 108 Ziff. 1 OR.
- Entscheidend ist zudem: Die Gemeinde erklärte den vorzeitigen Heimfall am 27. Juni 2017, also rund drei Monate nach ihrem letzten schriftlichen Kontakt vom 9. März 2017 und der Antwort der Beschwerdeführerin vom 29. März 2017. Dies genügt der Anforderung der unverzüglichen Erklärung des Rücktritts gemäss Art. 107 Abs. 2 OR, die auch in Fällen von Art. 108 OR gilt, nicht.
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Fazit zur Kündigung: Da die Voraussetzungen von Art. 108 Ziff. 1 OR nicht erfüllt sind, war die Kündigung des Baurechtsvertrags durch die Gemeinde ungültig. Die Rüge der Beschwerdeführerin wird daher gutgeheissen.
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Neue Begehren der Beschwerdeführerin im Rechtsmittelverfahren:
- Die Beschwerdeführerin beantragte, die Gemeinde solle daran gehindert werden, das Baurecht zu kündigen, solange die Planungsarbeiten (PAL/PAD) nicht rechtskräftig seien. Das Kantonsgericht hatte diese Begehren als unzulässig erklärt, da sie auf neuen Tatsachen beruhten, die sich nach der Kündigung (Juni 2017) ereignet hatten und somit ausserhalb des Rückweisungsauftrags des Bundesgerichts lagen.
- Das Bundesgericht bestätigt die Einschätzung des Kantonsgerichts. Die Beurteilung, ob eine Nachfrist nutzlos wäre (Art. 108 Ziff. 1 OR), muss auf den Zeitpunkt der Kündigungserklärung erfolgen. Spätere Entwicklungen sind für diese rückwirkende Prognose irrelevant und fallen daher nicht in den Rahmen des Rückweisungsauftrags. Die Rüge der Beschwerdeführerin wird diesbezüglich abgewiesen.
IV. Ergebnis und Konsequenzen
- Die subsidiäre Verfassungsbeschwerde wird als unzulässig erklärt.
- Die zivilrechtliche Beschwerde wird gutgeheissen.
- Das angefochtene Urteil wird dahingehend reformiert, dass die Klage der Gemeinde vom 21. August 2018 abgewiesen wird. Dies bedeutet, dass die Kündigung des Baurechtsvertrags ungültig war und das Baurecht fortbesteht.
- Die Sache wird an die erste Instanz zurückgewiesen, damit diese über die Zulässigkeit und Begründetheit der Widerklage der Beschwerdeführerin vom 15. Februar 2019 entscheidet. Das Bundesgericht begründet diese Rückweisung an die erste Instanz damit, dass die Widerklage in den Vorinstanzen weder geprüft noch instruiert wurde und die Parteien das Recht auf zwei Instanzen mit voller Kognition haben sollen.
- Die Gerichtskosten werden der Beschwerdegegnerin auferlegt, und diese wird zur Zahlung einer Parteientschädigung an die Beschwerdeführerin verurteilt. Die Regelung der kantonalen Kosten und Parteientschädigungen wird an die kantonale Instanz zurückgewiesen.
V. Kurze Zusammenfassung der wesentlichen Punkte
Das Bundesgericht hat die Kündigung eines Baurechtsvertrags durch die Gemeinde als Baurechtsgeberin für ungültig erklärt. Es entschied, dass die strengen Voraussetzungen von Art. 108 Ziff. 1 OR für die Entbehrlichkeit einer Nachfrist nicht erfüllt waren. Eine jahrelange Pflichtverletzung des Baurechtsnehmers reicht allein nicht aus, um eine klare und definitive Leistungsverweigerung anzunehmen. Zudem interpretierte die Gemeinde das Verhalten des Baurechtsnehmers selbst nicht als endgültige Verweigerung, da sie noch um Informationen bat, und die Kündigung erfolgte nicht unverzüglich nach dem letzten Austausch. Die neuen, nach der Kündigung eingetretenen Sachverhalte waren für die rückwirkende Beurteilung der Kündigungsvalidität irrelevant. Die Sache wurde zur Behandlung der Widerklage an die erste Instanz zurückgewiesen.