Zusammenfassung von BGer-Urteil 2C_68/2024 vom 30. Juni 2025

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Detaillierte Zusammenfassung des Urteils des Schweizerischen Bundesgerichts 2C_68/2024 vom 30. Juni 2025

Das vorliegende Urteil des Schweizerischen Bundesgerichts (BGer) befasst sich mit der Rechtmässigkeit des Abschusses eines schadenstiftenden Wolfs aus einem Wolfspaar im Kanton St. Gallen. Die Beschwerde wurde von Pro Natura – Schweizerischer Bund für Naturschutz, Sektion St. Gallen-Appenzell (nachfolgend Pro Natura), gegen einen Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons St. Gallen eingereicht, welcher die Abschussbewilligung des kantonalen Amts für Natur, Jagd und Fischerei (ANJF) bestätigt hatte.

1. Ausgangslage und Sachverhalt

Im Herbst 2023 kam es auf der Alp "A._" im Schilstal und auf der Heimweide "B._" im Weisstannental zu Wolfsangriffen auf Schafe. Im Schilstal wurden im August und September 2023 insgesamt vier Schafe gerissen, wobei einer der Risse der Wolfsfähe F35 des Wolfspaares M111 und F35 zugeordnet werden konnte. Zum Schutz der Herde waren dort Herdenschutzhunde eingesetzt. Im Weisstannental wurden am 11. November 2023 acht Schafe gerissen, wobei die DNA-Proben keinem Wolf zugeordnet werden konnten. Auf dieser Heimweide wurden Elektrozäune eingesetzt.

Das Schils- und Weisstannental ist Streifgebiet des Wolfspaares M111/F35 (ohne Jungtiere) und des Calfeisental-Rudels (bestehend aus zwei Elterntieren und sechs Jungwölfen). Die Streifgebiete überschneiden sich.

Mit Verfügung vom 16. November 2023 ordnete das ANJF den Abschuss eines der beiden Tiere aus dem Wolfspaar an und entzog einem allfälligen Rechtsmittel die aufschiebende Wirkung. Das Verwaltungsgericht des Kantons St. Gallen bestätigte diesen Abschuss mit Urteil vom 11. März 2024, nachdem es zunächst superprovisorisch die aufschiebende Wirkung gewährt, diese dann aber wieder entzogen hatte. Pro Natura erhob daraufhin Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten an das Bundesgericht.

2. Zulässigkeit der Beschwerde (Kurzfassung)

Das Bundesgericht prüfte die Eintretensvoraussetzungen und bejahte die Beschwerdebefugnis von Pro Natura als gesamtschweizerisch tätige Umweltschutzorganisation gemäss Art. 12 NHG i.V.m. Art. 89 Abs. 2 lit. d BGG, da der Wolf eine geschützte Tierart ist (Art. 79 BV). Obwohl die Gültigkeit der Abschussverfügung (bis 19. Januar 2024) zum Zeitpunkt des Urteils abgelaufen war und Pro Natura kein aktuelles Rechtsschutzinteresse mehr hatte, verzichtete das Bundesgericht ausnahmsweise auf dieses Erfordernis. Es begründete dies mit dem öffentlichen Interesse an der Beantwortung der aufgeworfenen Fragen, deren grundsätzlicher Bedeutung und der Tatsache, dass sich solche Fragen aufgrund der befristeten Abschussverfügungen immer wieder stellen und eine rechtzeitige Überprüfung im Einzelfall kaum je möglich wäre (vgl. BGE 147 I 478 E. 2.2). Auf die Beschwerde gegen die vorsorgliche Massnahme des Entzugs der aufschiebenden Wirkung vom 15. Januar 2024 trat das Bundesgericht jedoch nicht ein, da deren Wirkung mit dem Endentscheid dahinfällt.

3. Massgebende Rechtsgrundlagen und Prinzipien

Der Wolf ist gemäss Schweizerischem Jagdgesetz (JSG) und der Berner Konvention eine (streng) geschützte Tierart und darf grundsätzlich nicht gejagt werden (Art. 2 lit. b, Art. 5, Art. 7 Abs. 1 JSG). Art. 12 Abs. 2 JSG erlaubt den Kantonen zwar, Massnahmen gegen einzelne geschützte Tiere anzuordnen, die erheblichen Schaden anrichten. Dies ist jedoch subsidiär zu präventiven Verhütungsmassnahmen (Art. 12 Abs. 1 JSG).

Die Jagdverordnung (JSV) konkretisiert diese Bestimmungen: * Kompetenz: Der Kanton ist nur zum Abschuss eines Wolfs in alleiniger Kompetenz befugt, wenn der Schaden von einem einzelnen Wolf verursacht wurde. Stammt der Wolf aus einem Rudel, ist die Zustimmung des Bundesamts für Umwelt (BAFU) erforderlich (Art. 4 Abs. 1 JSV). * Einzelwolfabschuss (Art. 9bis JSV): Ein Abschuss kann bewilligt werden, wenn ein einzelner Wolf erheblichen Schaden an Nutztieren anrichtet. Ein solcher Schaden liegt vor, wenn im Streifgebiet des Wolfs innerhalb von vier Monaten mindestens 6 Nutztiere getötet werden, nachdem bereits früher Schäden aufgetreten sind (Art. 9bis Abs. 2 lit. c JSV). * Voraussetzung der Schutzmassnahmen: Nutztiere, die in einem Gebiet getötet wurden, in dem trotz früherer Schäden keine zumutbaren Schutzmassnahmen ergriffen worden sind, bleiben bei der Beurteilung des Schadens unberücksichtigt (Art. 9bis Abs. 4 JSV). Dies unterstreicht den präventiven Charakter des Herdenschutzes als Voraussetzung für einen Abschuss. * Zumutbare Schutzmassnahmen: Für Schafe sind dies namentlich Elektrozäune, die vor Grossraubtieren schützen (Art. 10quinquies Abs. 1 lit. a JSV). Die Details werden durch das "Konzept Wolf Schweiz" des BAFU (insbesondere die "Vollzugshilfe Herdenschutz") präzisiert, welches elektrifizierte Weidenetze (0.9 m Höhe, 3000 Volt Spannung, guter Bodenschluss, tägliche Kontrolle) als fachgerecht definiert. * Beurteilung der Schutzmassnahmen: Die Vollzugshilfe Herdenschutz (eine Verwaltungsverordnung, die für Gerichte zwar unverbindlich, aber in der Praxis massgebend ist, sofern sie eine sachgerechte Auslegung ermöglicht und eine überzeugende Konkretisierung der gesetzlichen Vorgaben enthält) sieht ein dreistufiges Vorgehen vor: 1. Beschreibung des IST-Zustands durch eine kantonale Fachperson (Herdenschutzbeauftragter). 2. Beurteilung der Wirksamkeit der Massnahmen durch das kantonale Landwirtschaftsamt. 3. Gesamtfazit und Anrechenbarkeit des Risses durch die kantonale Jagdverwaltung. Alle Schritte müssen sorgfältig, nachvollziehbar und gerichtlich überprüfbar erfolgen.

Das Bundesgericht hält fest, dass der Abschuss eines Wolfes als ultima ratio zu betrachten ist und nur verfügt werden darf, wenn trotz der Ergreifung zumutbarer Schutzmassnahmen Schäden durch den Wolf zu verzeichnen sind (vgl. BGE 136 II 101 E. 5.1, E. 5.5).

4. Hauptstreitpunkt und Rügen von Pro Natura

Der zentrale Streitpunkt war die Rechtmässigkeit der Abschussbewilligung für einen einzelnen Wolf aus dem Wolfspaar. Pro Natura rügte, dass die Bewilligung erteilt wurde, ohne vorab sorgfältig zu prüfen und festzustellen, ob wirksame Schutzmassnahmen ergriffen wurden und ob der Schaden tatsächlich einem Wolf aus dem Wolfspaar und nicht dem Wolfsrudel zuzuordnen war. Pro Natura machte dabei eine willkürliche Sachverhaltsfeststellung sowie eine Verletzung des rechtlichen Gehörs (Art. 9 und Art. 29 Abs. 2 BV) geltend. Das BAFU unterstützte diese Argumentation.

5. Detaillierte Analyse und Begründung des Bundesgerichts

Das Bundesgericht prüfte die Sachverhaltsfeststellungen der Vorinstanz anhand der Rügen von Pro Natura und BAFU.

5.1. Herdenschutzmassnahmen
  • Feststellung der Vorinstanz: Das Verwaltungsgericht stützte sich auf die Beurteilung der Anlaufstelle Herdenschutz vom 17. November 2023, wonach die Massnahmen fachgerecht gewesen seien, basierend auf Fotos, Angaben des Viehhüters und Strommessungen (3'600 und 4'800 Volt).
  • Kritik und Beurteilung des Bundesgerichts: Das BGer befand die Kritik von Pro Natura und BAFU als berechtigt. Es stellte fest, dass die Anlaufstelle Herdenschutz keine Vor-Ort-Besichtigung vorgenommen hatte und sich auf offensichtlich unvollständige und undatierte Fotos stützte, die den Zustand des Zaunes zum Risszeitpunkt nicht belegen konnten. Es fehlten Bilder des Zaungeräts und des Zaunes in voller Länge. Die Strommessungen zeigten zudem nur Werte am oberen Zaunende, während die Frage nach dem Strom im unteren Netzbereich unbeantwortet blieb. Die im Herdenschutzformular angekreuzten Feststellungen (z.B. Beurteilung des Zaunes auf ganzer Länge) beruhten somit nicht auf aktenkundigen Tatsachen. Das Bundesgericht rügte dies als willkürliche Sachverhaltsfeststellung (Art. 9 BV). Die Vorinstanz durfte sich auch nicht auf die Beurteilung der kantonalen Jagdverwaltung im Schadensformular verlassen, da diese Beurteilung zeitlich vor der eigentlichen Abklärung der Herdenschutzmassnahmen durch die Anlaufstelle Herdenschutz erfolgte und somit auf keiner fundierten Basis beruhte. Der Verweis auf ungekürzte Entschädigungszahlungen war ebenfalls unbehelflich, da im Kanton St. Gallen (§ 56 Abs. 5 JV/SG) keine Verhütungsmassnahmen für den Erhalt von Entschädigungen erforderlich sind.
5.2. Witterungsverhältnisse
  • Feststellung der Vorinstanz: Das Verwaltungsgericht ging davon aus, dass in der Nacht des Angriffs (11. November 2023) kein Schnee gelegen habe und die geringe Schneemenge auf den Schadensbildern die Stromspannung nicht signifikant hätte reduzieren können.
  • Kritik und Beurteilung des Bundesgerichts: Pro Natura und BAFU monierten, die Witterungsverhältnisse blieben unklar und die Annahme der Vorinstanz, Schnee habe die Zaunwirksamkeit nicht beeinträchtigt, sei nicht begründet worden. Das BGer stellte fest, dass auf den Schadensbildern Schnee ersichtlich war und die AGRIDEA-Merkblätter betonen, dass der Zaun auch bei Nässe 3'000 Volt führen muss. Die lückenhafte Abklärung und Dokumentation des Zaunzustandes an sich war jedoch bereits so gravierend, dass die genauen Witterungsverhältnisse letztlich nicht entscheidend waren.
5.3. Identifikation des schadenstiftenden Wolfs
  • Feststellung der Vorinstanz: Das Verwaltungsgericht konnte keinen Wolf über DNA zuordnen. Es stützte sich auf die Vernehmlassung des kantonalen Amtes, wonach die Präsenz des Wolfspaars im Weisstannental genetisch nachgewiesen sei und das Schadensbild (angeblich keine vollständige Verspeisung der Schafe) auf das Wolfspaar und nicht auf das Rudel hindeute.
  • Kritik und Beurteilung des Bundesgerichts: Pro Natura und BAFU kritisierten, dass sich die Vorinstanz allein auf unsubstantiierte Behauptungen des Kantons stützte. Es fehlten objektive Beweismittel wie dokumentierte Fährten (Anzahl, Ort, Aussehen) oder eine detaillierte Beschreibung des Rissmusters, das eine Zuordnung ermöglichen würde. Das Bundesgericht befand, dass die Vorinstanz die Zuordnung nur summarisch geprüft hatte und die Behauptungen des Kantons ohne weitere Belege oder Vergleiche mit bekannten Rissmustern des Rudels als bewiesen annahm. Dies sei angesichts der Tatsache, dass sich die Streifgebiete überlappen und beide Wolfsgruppen in Frage kommen, nicht ausreichend und erhöhe das Risiko von Fehlabschüssen.
5.4. Verletzung des rechtlichen Gehörs (Art. 29 Abs. 2 BV)

Das Bundesgericht stellte fest, dass die Vorinstanz es unterlassen hatte, wesentliche Vorbringen von Pro Natura (z.B. die Relevanz des Schnees, die mögliche Beteiligung des Rudels, das unterschiedliche Jagdverhalten des Wolfspaars im Vergleich zu früheren Rissen) zu berücksichtigen und entsprechende Sachverhaltsabklärungen vorzunehmen. Indem das Verwaltungsgericht auf diese für den Verfahrensausgang wesentlichen Vorbringen nicht einmal implizit einging, verletzte es den Anspruch auf rechtliches Gehör.

6. Schlussfolgerung des Bundesgerichts

Das Bundesgericht kam zum Ergebnis, dass der Sachverhalt offensichtlich unvollständig und in rechtsverletzender Weise (Verstoss gegen Art. 9 BV und Art. 29 Abs. 2 BV) festgestellt wurde. Aufgrund dieser lückenhaften Abklärung konnte weder festgestellt werden, ob wirksame Herdenschutzmassnahmen ergriffen wurden, noch welchem Wolf die Risse zuzuordnen waren. Ohne diese Feststellungen erweist sich die Bewilligung des Einzelabschusses als nicht erforderlich und nicht geeignet, damit als unverhältnismässig und verletzt Art. 12 Abs. 2 JSG (i.V.m. Art. 9bis Abs. 4 JSV). Der Abschuss eines Wolfes als ultima ratio erfordert eine solide Tatsachengrundlage, die hier nicht gegeben war, zumal die Abschussbewilligung bereits erlassen wurde, bevor die Herdenschutzmassnahmen überhaupt überprüft worden waren.

Die Beschwerde von Pro Natura wurde daher gutgeheissen, und das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons St. Gallen wurde aufgehoben. Weitere Vorbringen (z.B. mildere Massnahmen, Abschussperimeter) erübrigten sich. Pro Natura erhielt eine Parteientschädigung für das bundesgerichtliche und das vorinstanzliche Verfahren.

Kurze Zusammenfassung der wesentlichen Punkte:
  1. Fehlerhafte Sachverhaltsfeststellung: Das Bundesgericht rügte die Vorinstanz für eine offensichtlich unvollständige und willkürliche Feststellung des Sachverhalts (Art. 9 BV).
  2. Mangelhafter Herdenschutz-Nachweis: Es konnte nicht festgestellt werden, dass zum Zeitpunkt der Wolfsangriffe wirksame und fachgerechte Herdenschutzmassnahmen (insbesondere elektrifizierte Zäune mit ausreichender Spannung) gemäss den Vorgaben der BAFU-Vollzugshilfe ergriffen waren, da die Prüfungen lückenhaft und die Dokumentation unzureichend waren.
  3. Unklare Wolfs-Identifikation: Die Zuordnung des Schadens zum Wolfspaar (und nicht zum Wolfsrudel) konnte nicht schlüssig belegt werden, da die Vorinstanz sich auf unsubstantiierte Behauptungen des Kantons stützte und keine objektiven Kriterien heranzog (z.B. dokumentierte Fährten, nachgewiesene Rissmuster).
  4. Verletzung des rechtlichen Gehörs: Die Vorinstanz verletzte den Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV), indem sie wesentliche Vorbringen von Pro Natura nicht berücksichtigte und keine ausreichenden eigenen Abklärungen vornahm.
  5. Unverhältnismässigkeit des Abschusses: Da die notwendigen Voraussetzungen (wirksamer Herdenschutz und eindeutige Identifikation des schadenstiftenden Tieres) aufgrund des unvollständigen Sachverhalts nicht erfüllt waren, erachtete das Bundesgericht den bewilligten Wolfsabschuss als unverhältmässig und rechtswidrig, da er nicht dem Prinzip der ultima ratio entsprach.
  6. Aufhebung des Urteils: Das Bundesgericht hiess die Beschwerde gut und hob das Urteil des Verwaltungsgerichts auf.