Zusammenfassung von BGer-Urteil 9C_431/2024 vom 3. Juli 2025

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Das vorliegende Urteil des Schweizerischen Bundesgerichts (BGE 9C_431/2024 vom 3. Juli 2025) befasst sich detailliert mit der Berechnung von Altersrenten der Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV), insbesondere mit der Frage der Anrechnung von Erziehungsgutschriften (Bonifications pour tâches éducatives) im Kontext des Diskriminierungsverbots.

1. Einleitung und Sachverhalt

Das Verfahren betrifft eine Beschwerde der Caisse cantonale neuchâteloise de compensation (CCNC) gegen einen Entscheid des Kantonsgerichts Neuenburg. Die Beschwerdegegnerin A._, geboren im Februar 1959, war seit 1989 verheiratet und hatte drei Kinder (geboren 1990, 1991 und 1993). Die CCNC hatte ihr ab dem 1. März 2023 eine ordentliche Altersrente zugesprochen, die auf einem durchschnittlichen Jahresverdienst von CHF 61'740 basierte. Dieser Betrag umfasste den Erwerbseinkommen und hälftige Erziehungsgutschriften für die Jahre 1991 bis 2009, eine Zeit, in der A._ ihre Erwerbstätigkeit zur Kinderbetreuung reduziert hatte.

A.__ focht diese Berechnung vor dem Kantonsgericht an und verlangte die vollständige Anrechnung der Erziehungsgutschriften für die Jahre 1990 bis 2004 (bzw. bis zur Pensionierung ihres Ehemanns). Das Kantonsgericht Neuenburg gab dem Rekurs statt, annullierte die ursprüngliche Rentenberechnung und wies die CCNC an, die Rente unter Berücksichtigung der gesamten Erziehungsgutschriften für die Jahre 1991 bis 2009 neu zu berechnen.

2. Rechtliche Fragestellung und anwendbares Recht

Der zentrale Streitpunkt war die Frage, ob die Anwendung von Art. 29sexies Abs. 3 AHVG, wonach Erziehungsgutschriften während der Ehejahre hälftig zwischen den Ehegatten aufgeteilt werden, im vorliegenden Fall eine unzulässige Diskriminierung darstellt und gegen Art. 14 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) in Verbindung mit Art. 8 EMRK verstösst.

Das Bundesgericht stellte fest, dass die relevanten gesetzlichen Bestimmungen jene waren, die bis zum 31. Dezember 2023 in Kraft standen, da die streitige Verwaltungsentscheidung vor dem Inkrafttreten der AHV 21-Revision (1. Januar 2024) ergangen war (Art. 29quinquies Abs. 3 AHVG und Art. 29sexies Abs. 3 AHVG in ihrer damaligen Fassung).

3. Begründung des Kantonsgerichts (Anfechtung durch die CCNC)

Das Kantonsgericht hatte argumentiert, dass A.__ Opfer einer indirekten Diskriminierung im Sinne der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), insbesondere des Urteils "Di Trizio", geworden sei. Es stellte fest, dass die AHV eine "asymmetrische" Regelung vorsieht: Während das Einkommens-Splitting (Art. 29quinquies Abs. 3 AHVG), also die hälftige Teilung der Erwerbseinkommen zwischen Ehegatten, erst erfolgt, wenn beide Ehegatten rentenberechtigt sind, werden die Erziehungsgutschriften (Art. 29sexies Abs. 3 AHVG) bereits zum Zeitpunkt der Pensionierung des ersten Ehegatten hälftig geteilt.

Das Kantonsgericht sah darin eine Diskriminierung von Frauen, die ihre Erwerbstätigkeit zugunsten von Kinderbetreuung reduziert hatten. Es verwies auf statistische Daten, die zeigten, dass Frauen in der Schweiz häufiger Teilzeit arbeiten und die durchschnittlichen Renten von verheirateten Frauen (deren Ehepartner noch nicht pensioniert ist) deutlich tiefer liegen als jene von Männern. Dies begründe eine Vermutung indirekter Diskriminierung. Da es keine vernünftige Rechtfertigung für diese Ungleichbehandlung gebe, lehnte das Kantonsgericht die Anwendung von Art. 29sexies Abs. 3 AHVG ab und forderte die Anrechnung der vollen Erziehungsgutschriften.

Die CCNC rügte eine Verletzung des Bundesrechts durch das Kantonsgericht und führte an, die hälftige Aufteilung der Erziehungsgutschriften sei nicht diskriminierend, sondern das Korrelat zum Einkommens-Splitting und diene der gerechten Aufgabenverteilung in der Ehe. Die unterschiedliche zeitliche Berücksichtigung der Splitting-Regeln ergebe sich zwangsläufig aus dem Gesetz (Art. 29quinquies Abs. 3 lit. a AHVG), wonach das Einkommens-Splitting erst bei gleichzeitigem Rentenanspruch beider Ehegatten erfolgt, während Erziehungsgutschriften als fiktives Einkommen sofort berücksichtigt würden.

4. Begründung des Bundesgerichts

Das Bundesgericht prüfte die Anwendbarkeit der EMRK-Bestimmungen im vorliegenden Fall anhand der Rechtsprechung des EGMR, insbesondere des Urteils Beeler gegen die Schweiz (Urteil vom 11. Oktober 2022, Nr. 78630/12). Gemäss dieser Rechtsprechung fällt eine Geldleistung nur dann unter Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens), wenn sie Massnahmen zur Förderung des Familienlebens zum Ziel hat und notwendigerweise einen Einfluss auf dessen Organisation hat.

  • Zweck der Erziehungsgutschriften: Das Bundesgericht bestätigte, dass Erziehungsgutschriften (eingeführt mit der 10. AHV-Revision 1997) darauf abzielen, den gesellschaftlichen Wert der Kinderbetreuung anzuerkennen und negative Auswirkungen auf die Rentenhöhe aufgrund einer allfälligen Reduktion der Erwerbstätigkeit zu mindern (Botschaft zur 10. AHV-Revision). Sie sind ein fiktives Einkommen und sollen auch zur Geschlechtergleichstellung beitragen. Die hälftige Aufteilung der Gutschriften während der Ehejahre dient als Pendant zum Einkommens-Splitting der Aufteilung der Aufgaben in der Ehe.

  • Auswirkungen auf die Familienorganisation: Entscheidend war für das Bundesgericht die Frage, ob die Gewährung von Erziehungsgutschriften notwendigerweise einen Einfluss auf die Organisation des Familienlebens hat. Hier stellte das Gericht fest, dass der Anspruch auf Erziehungsgutschriften gemäss Gesetz an die formelle elterliche Sorge für Kinder unter 16 Jahren gebunden ist, und nicht an eine Reduktion der Erwerbstätigkeit oder einen Einkommensverlust. Die Gesetzesmaterialien zur 10. AHV-Revision zeigten klar, dass Erziehungsgutschriften allen Eltern zustehen sollten, unabhängig davon, ob sie erwerbstätig sind oder nicht, um administrative Belastungen zu vermeiden und die gesellschaftlich wichtige Aufgabe der Kindererziehung angemessen zu honorieren.

    Da die Reduktion der Erwerbstätigkeit kein massgebliches Kriterium für die Zuteilung der Erziehungsgutschriften ist und der Betrag pauschal festgelegt ist, hat die Gewährung der Gutschriften nach Ansicht des Bundesgerichts nicht notwendigerweise einen realen Einfluss auf die Organisation des Familienlebens. Die Wahl der versicherten Person, während der Kindererziehung Vollzeit oder Teilzeit zu arbeiten, hat keinen Einfluss auf den Anspruch oder die Höhe der Gutschriften. Die Konsequenzen der Berücksichtigung einer halben Erziehungsgutschrift sind vor allem finanzieller Natur, was a priori nicht vom Begriff des "Privatlebens" im Sinne von Art. 8 EMRK abgedeckt ist (Verweis auf EGMR-Urteil E.G. gegen die Schweiz). Altersleistungen fallen zudem in der Regel unter Art. 1 des Zusatzprotokolls Nr. 1 zur EMRK (Recht auf Eigentum), welches die Schweiz nicht ratifiziert hat, und nicht unter Art. 8 EMRK.

  • Schlussfolgerung des Bundesgerichts: Das Bundesgericht gelangte zum Schluss, dass die kantonalen Richter in Rechtsverletzung gehandelt haben, indem sie die Anwendbarkeit von Art. 8 EMRK annahmen und die Anwendung von Art. 29sexies Abs. 3 AHVG verweigerten. Die Beschwerde der CCNC wurde daher gutgeheissen.

5. Kurze Zusammenfassung der wesentlichen Punkte

  • Kernfrage: Verletzung des Diskriminierungsverbots (Art. 14 i.V.m. Art. 8 EMRK) durch hälftige Aufteilung der Erziehungsgutschriften bei Ehepaaren (Art. 29sexies Abs. 3 AHVG), wenn nur ein Ehegatte rentenberechtigt ist.
  • Kantonales Urteil: Sah indirekte Diskriminierung von Frauen, die ihre Erwerbstätigkeit für Kinderbetreuung reduzierten, aufgrund der Asymmetrie beim Zeitpunkt des Einkommens- und Gutschriftensplittings; ordnete volle Anrechnung der Erziehungsgutschriften an.
  • Bundesgerichtsentscheid: Hebt kantonales Urteil auf.
  • Begründung des Bundesgerichts:
    • Die Gewährung von Erziehungsgutschriften ist an die formelle elterliche Sorge gebunden, nicht an eine Reduktion der Erwerbstätigkeit oder einen Einkommensverlust.
    • Sie hat daher nicht notwendigerweise einen realen Einfluss auf die Organisation des Familienlebens.
    • Finanzielle Auswirkungen fallen in der Regel nicht unter den Schutzbereich von Art. 8 EMRK.
    • Altersleistungen fallen primär unter Art. 1 des Zusatzprotokolls Nr. 1 zur EMRK (Eigentumsrecht), welches die Schweiz nicht ratifiziert hat, und nicht unter Art. 8 EMRK.
    • Somit war Art. 8 EMRK im vorliegenden Fall nicht anwendbar, und das Kantonsgericht durfte die Anwendung von Art. 29sexies Abs. 3 AHVG nicht verweigern.