Zusammenfassung von BGer-Urteil 7B_389/2025 vom 17. Juli 2025

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Nachfolgend finden Sie eine detaillierte Zusammenfassung des Urteils des schweizerischen Bundesgerichts 7B_389/2025 vom 17. Juli 2025.

Urteil des Bundesgerichts 7B_389/2025 vom 17. Juli 2025

1. Parteien und Gegenstand Das vorliegende Urteil betrifft die Beschwerde von A.__, geboren 2005 (nachfolgend: Beschwerdeführer), gegen einen Entscheid der Strafrechtlichen Rekurskammer des Obergerichts des Kantons Bern vom 31. März 2025. Gegenstand der Beschwerde ist die Rechtmässigkeit einer provisorischen Untersuchungshaft während des Vollzugs einer Massnahme gemäss Art. 90 Abs. 1 des bernischen Gesetzes vom 11. Juni 2009 über die Einführung der Zivilprozessordnung, der Strafprozessordnung und des Jugendstrafprozessrechts (LiCPM/BE).

2. Sachverhalt Der Beschwerdeführer wurde mit rechtskräftigem Urteil des Jugendgerichts des Kantons Bern vom 17. Januar 2025 wegen mehrfachen Diebstahls, versuchten Diebstahls, Sachbeschädigung, Hausfriedensbruch und vorsätzlicher Brandstiftung verurteilt. Es wurde eine Massnahme der offenen stationären Behandlung angeordnet, deren provisorische Durchführung in der Residenz B._ in U._ erfolgte, ergänzt durch eine ambulante Behandlung. Zudem wurde eine bedingte Freiheitsstrafe von 45 Tagen mit einer Probezeit von zwei Jahren ausgesprochen, wobei 36 Tage provisorischer Haft angerechnet wurden.

Am 3. März 2025 äusserte sich der Beschwerdeführer zu seinen wiederholten Fluchtversuchen aus der Residenz B.__ und begründete diese mit "dunklen Gedanken" und einer "Stimme im Kopf". Daraufhin ordnete die Jugendanwaltschaft des Berner Jura-Seeland am 5. März 2025 gestützt auf Art. 90 Abs. 1 LiCPM/BE eine provisorische Untersuchungshaft an, bis ein Platz in einer anderen geeigneten Einrichtung gefunden sei. Die hiergegen gerichtete Beschwerde des Beschwerdeführers wies die Strafrechtliche Rekurskammer des Obergerichts des Kantons Bern mit Entscheid vom 31. März 2025 ab. Dagegen erhob der Beschwerdeführer Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht.

3. Rechtliche Fragestellung Die Hauptfragen, die das Bundesgericht zu prüfen hatte, waren: * Die Verfassungsmässigkeit von Art. 90 Abs. 1 LiCPM/BE, insbesondere hinsichtlich des Grundsatzes der Gesetzmässigkeit (Art. 36 Abs. 1 BV) und des Verhältnismässigkeitsprinzips (Art. 36 Abs. 3 BV), im Lichte der Grundrechte auf persönliche Freiheit (Art. 10 Abs. 2 und 31 BV) und der EMRK (Art. 5 EMRK) sowie der UN-Behindertenrechtskonvention (CDPH). * Die willkürliche Anwendung von Art. 90 LiCPM/BE durch die Vorinstanz im konkreten Fall.

4. Erwägungen des Bundesgerichts

A. Zur Konformität von Art. 90 LiCPM/BE mit übergeordnetem Recht

4.1. Gesetzliche Grundlagen und Kompetenzverteilung: Das Bundesgericht hält fest, dass gemäss Art. 123 Abs. 2 und 3 BV die Organisation und Verwaltung der Justiz sowie der Vollzug von Strafen und Massnahmen in der Zuständigkeit der Kantone liegen, solange der Bund keine abweichenden Vorschriften erlässt. Der Bund hat eine konkurrierende Gesetzgebungskompetenz mit nachträglich derogatorischer Wirkung. Das kantonale bernische Gesetz LiCPM/BE regelt den Vollzug im Jugendstrafrecht. Art. 90 Abs. 1 LiCPM/BE ermächtigt die Jugendanwaltschaft, eine in einer Anstalt untergebrachte minderjährige Person vorübergehend in ein Gefängnis zu überführen, wenn sie sich dem Vollzug durch Flucht entzieht, sich ihm widersetzt, Sicherheitsgründe dies erfordern oder keine sofortige Aufnahme in einer geeigneten Einrichtung möglich ist. Diese Bestimmung wurde geschaffen, um eine Lücke im Jugendstrafrecht zu schliessen und die Freilassung gefährlicher Minderjähriger zu verhindern, wenn keine adäquate Platzierung verfügbar ist.

4.2. Prüfung der Gesetzmässigkeit (Art. 31 Abs. 1, 36 Abs. 1 BV): Der Beschwerdeführer rügte, Art. 90 LiCPM/BE sei nicht hinreichend normdicht, insbesondere sei der Begriff "provisorisch" zu vage und es fehle an klaren zeitlichen Begrenzungen und einem Mechanismus für periodische Überprüfungen. Das Bundesgericht verwarf diese Argumentation. Es befand, dass die Freiheitsentziehung zwar einen schwerwiegenden Eingriff darstellt, der einer formell-gesetzlichen Grundlage bedarf, Art. 90 LiCPM/BE diese Anforderung jedoch erfüllt. Die Norm sei hinreichend klar und präzise, da sie den Kreis der Adressaten (minderjährige Person, Massnahmenvollzug), den Rahmen ("provisorisch" in ein Gefängnis) und die Voraussetzungen (Flucht, Widerstand, Sicherheitsgründe, fehlende sofortige Platzierung) definiert. Die Verwendung generalisierender Begriffe wie "provisorisch" sei zulässig, da die Dauer einer Haft von den jeweiligen Umständen abhänge. Hinsichtlich der gerügten fehlenden periodischen Überprüfung führte das Bundesgericht aus, dass Art. 5 Abs. 4 EMRK lediglich das Recht vorschreibt, jederzeit eine gerichtliche Überprüfung der Haft zu verlangen, nicht aber eine automatische periodische Überprüfung. Art. 90 LiCPM/BE stehe diesem Recht nicht entgegen.

4.3. Prüfung der Verhältnismässigkeit (Art. 36 Abs. 3 BV): Der Beschwerdeführer machte geltend, Art. 90 LiCPM/BE verletze auch das Verhältnismässigkeitsprinzip. Das Bundesgericht sah dies ebenfalls nicht als gegeben an. Die provisorische Überführung eines Minderjährigen in ein Gefängnis zur Überbrückung, bis eine spezialisierte Einrichtung gefunden wird, sei geeignet, das Ziel der Norm (Lückenfüllung, Schutz der Öffentlichkeit und des Minderjährigen) zu erreichen (Eignung). Die Massnahme sei auch erforderlich, da sie nur zur Anwendung komme, wenn keine anderen, milderen Mittel zur Verfügung stünden, um die Sicherheit zu gewährleisten (Erforderlichkeit). Schliesslich bestehe ein vernünftiges Verhältnis zwischen den Auswirkungen der Massnahme auf den Minderjährigen und dem angestrebten öffentlichen Interesse (Zumutbarkeit). Eine solche Massnahme sei weder unzumutbar noch übermässig restriktiv, insbesondere da sie nur temporär angeordnet werden dürfe und das Bundesgericht derartige Platzierungen in der Vergangenheit bereits mehrfach als zulässig erachtet habe, solange sie als kurzfristige Notlösung dienten und die Behörden sich um eine geeignete Platzierung bemühten.

4.4. Fazit zur Verfassungskonformität: Art. 90 LiCPM/BE ist mit dem übergeordneten Recht, einschliesslich der Bundesverfassung und der EMRK, konform. Die Rüge des Beschwerdeführers ist unbegründet.

B. Zur Anwendung von Art. 90 LiCPM/BE im konkreten Fall

4.5. Prüfungsstandard: Das Bundesgericht prüft die Anwendung von kantonalem Recht, wozu Art. 90 LiCPM/BE gehört, nur auf Willkür (Art. 9 BV). Willkür liegt vor, wenn der Entscheid offensichtlich unhaltbar ist, in einem krassen Widerspruch zur tatsächlichen Situation steht, eine Norm oder einen klaren und unbestrittenen Rechtsgrundsatz grob verletzt oder dem Gerechtigkeits- und Billigkeitsempfinden in stossender Weise zuwiderläuft.

4.6. Begründung der Vorinstanz: Die Vorinstanz hatte die Voraussetzungen von Art. 90 LiCPM/BE als erfüllt erachtet. Sie stellte fest, dass der Beschwerdeführer seine Fluchtversuche aus der Residenz B._ nicht bestreite. Trotz mangelnder neuer Straftaten während der Flucht sei das hohe Rückfallrisiko und das erhöhte Risiko für selbstzerstörerisches und suizidales Verhalten zu berücksichtigen, wie ein Sachverständigengutachten festgestellt habe. Das Gutachten habe eine Platzierung in einer geeigneten Institution oder Pflegefamilie empfohlen und explizit von einer Rückkehr in den Familienverband abgeraten. Angesichts fehlender sofortiger Plätze in einer geeigneten Einrichtung und der Tatsache, dass keine Alternative zur Prävention der Risiken bestehe, sei die provisorische Haft verhältnismässig. Die Vorinstanz betonte, dass selbstzerstörerisches Verhalten die Gesundheit des Beschwerdeführers mehr gefährden würde als die Haft. Betreffend die Dauer und Verhältnismässigkeit der Massnahme führte die Vorinstanz aus, dass Massnahmenvollzugsanstalten oft überfüllt seien und die Aufnahme Wochen oder Monate dauern könne. Die Schwierigkeit der Institutionssuche werde durch das frühere problematisches Verhalten des Beschwerdeführers (Flucht, Droh- und Gewalttaten) erschwert. Die mangelnde psychiatrische Betreuung in der Residenz B._ sei auf die häufigen Abwesenheiten des Beschwerdeführers zurückzuführen. Auch ausserhalb der Haft habe der Beschwerdeführer selbstzerstörerisches und suizidales Verhalten gezeigt, was die Ungeeignetheit einer familiären Lösung belege. Hinsichtlich der Bemühungen der Behörden stellte die Vorinstanz fest, dass kein Grund zur Annahme bestehe, die Jugendanwaltschaft wolle die Suche einstellen oder die Haft unbegrenzt aufrechterhalten. Die frühere Platzierung in der Residenz B.__ und die Kontaktaufnahme mit zahlreichen Institutionen zeigten die Bemühungen.

4.7. Würdigung der Anwendung durch das Bundesgericht: Das Bundesgericht wies die Argumentation des Beschwerdeführers, die Jugendanwaltschaft habe die Suche nach einer geeigneten Institution eingestellt und die Anwendung von Art. 90 LiCPM/BE sei willkürlich, als weitgehend appellatorisch und somit unzulässig zurück. Der Beschwerdeführer basiere seine Vorbringen hauptsächlich auf neuen Fakten, die nicht im angefochtenen Entscheid festgestellt wurden und deren willkürliche Auslassung er nicht dargelegt habe. Er setze seiner eigenen Einschätzung lediglich die der Vorinstanz entgegen. Das Bundesgericht befand, dass die Begründung der Vorinstanz nicht zu beanstanden und nicht willkürlich sei. Die Vorinstanz habe alle Umstände berücksichtigt, namentlich das Verhalten des Minderjährigen, das hohe Rückfallrisiko, seine Fluchtversuche, die erfolgte Kontaktaufnahme mit zahlreichen Institutionen und die Tatsache, dass die Suche nach einer geeigneten Platzierung Zeit in Anspruch nehmen könne. Sie habe auch die vom Beschwerdeführer vorgeschlagene alternative Lösung (Rückkehr in die Familie) aufgrund objektiver Motive (Empfehlung der Expertise, fortbestehendes Rückfall- und Selbstgefährdungsrisiko) ausgeschlossen. Die Dauer der Haft sei, gemessen an der Rechtsprechung des EGMR und des Bundesgerichts zur "Organisationshaft", zum jetzigen Zeitpunkt nicht unverhältnismässig. Das Bundesgericht hielt fest, dass viele Institutionen nicht für das spezifische Profil des Beschwerdeführers ausgerüstet seien und die Behörden sich bemühten, eine passende Lösung zu finden. Die Tatsache, dass die Suche Zeit in Anspruch nehme, sei nicht den Behörden anzulasten.

4.8. Fazit zur Anwendung: Die Vorinstanz hat Art. 90 LiCPM/BE nicht willkürlich angewendet. Die weiteren Rügen des Beschwerdeführers (Verletzung von Art. 8 und 10 BV, Art. 5 CDPH, Art. 14 EMRK) waren an die willkürliche Anwendung von Art. 90 LiCPM/BE gekoppelt und wurden daher ebenfalls abgewiesen, zumal sie auch die erhöhten Begründungsanforderungen nicht erfüllten.

5. Entscheid des Bundesgerichts Die Beschwerde wird, soweit darauf einzutreten war, abgewiesen. Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird gutgeheissen.

Zusammenfassung der wesentlichen Punkte:

  • Verfassungsmässigkeit von Art. 90 LiCPM/BE: Das Bundesgericht bestätigt, dass Art. 90 Abs. 1 LiCPM/BE eine hinreichend klare und präzise gesetzliche Grundlage für die provisorische Haft von Minderjährigen während des Massnahmenvollzugs darstellt und sowohl dem Gesetzmässigkeits- als auch dem Verhältnismässigkeitsprinzip gerecht wird. Der Begriff "provisorisch" ist ausreichend definiert, und eine automatische periodische richterliche Haftüberprüfung ist gemäss EMRK nicht zwingend vorgeschrieben, solange das Recht zur Haftprüfung jederzeit gegeben ist.
  • Anwendung im konkreten Fall: Die Anordnung der provisorischen Haft im vorliegenden Fall ist nicht willkürlich. Sie erfolgte aufgrund des Fluchtverhaltens des Minderjährigen, des hohen Rückfallrisikos und der Selbstgefährdung, sowie der fehlenden sofortigen Platzierung in einer geeigneten Einrichtung.
  • Verhältnismässigkeit der Dauer: Die bisherige Dauer der provisorischen Haft wird als verhältnismässig erachtet, da die Behörden nachweislich erhebliche Anstrengungen unternehmen, um eine geeignete Institution zu finden, und die Schwierigkeit der Platzierung durch die spezifischen Bedürfnisse des Beschwerdeführers und dessen früheres Verhalten bedingt ist. Die Haft dient dabei als kurzfristige Notlösung und zum Schutz des Minderjährigen und Dritter.
  • Rolle der Behörden: Die Behörden sind verpflichtet, eine geeignete Platzierung aktiv zu suchen, was im vorliegenden Fall als gegeben erachtet wurde.