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Im Urteil 4A_616/2023 vom 6. Juni 2025 hatte sich das Schweizerische Bundesgericht mit der Frage der Vertretungsmacht eines Architekten und der daraus resultierenden vertraglichen Bindung der Bauherrin zu befassen. Der Fall drehte sich um die Forderung eines Ingenieurbüros gegenüber einer Immobilienentwicklerin für erbrachte Minergie- und Haustechnikstudien.
1. Sachverhalt und Prozessgeschichte
Die Beschwerdeführerin A._ SA (nachfolgend: Bauherrin) ist eine Immobilienentwicklerin, die ein Bauprojekt plante und dafür am 21. Oktober 2014 einen globalen Architektenvertrag mit C._ (nachfolgend: Architekt) abschloss. Dieser Vertrag enthielt eine explizite Klausel zur "représentation du mandant" (Vertretung des Bauherrn), welche festhielt, dass der Architekt grundsätzlich keine finanzielle Vertretungsbefugnis gegenüber Dritten besass und für jeden Vertrag, jedes Zusatzangebot oder jede finanzielle Verpflichtung die schriftliche Zustimmung oder Unterschrift des Bauherrn einholen musste, sofern die Summe CHF 5'000 überstieg. Für kleinere Beträge unter CHF 5'000 (exkl. MWSt) durfte er bei Nichterreichbarkeit des Bauherrn handeln, musste diesen aber unverzüglich informieren. Der Architekt war ferner verpflichtet, den Bauherrn unverzüglich über alle mündlichen oder schriftlichen Warnungen zu informieren und Instruktionen für rechtlich bedeutsame oder wesentliche Massnahmen einzuholen.
Am selben Tag informierte der Architekt die Bauherrin per E-Mail, dass ein "Ingénieur CVS pour le dossier Minergie" benötigt werde und er Offerten, unter anderem von der Intimée B._ S.A. (nachfolgend: Ingenieurbüro), einholen werde. Das Ingenieurbüro erstellte daraufhin Offerten für Minergie-Dossiers (7. November 2014) und technische Studien für Heizungs-, Lüftungs- und Sanitäranlagen (CVS) (17. Dezember 2014). Ein von B._ erstellter Energieausweis wurde dem Baugesuch beigelegt, welches von der Bauherrin und dem Architekten unterzeichnet wurde.
Im April 2015 fand eine technische Koordinationssitzung statt, organisiert vom Architekten und unter Anwesenheit des Administrators des Ingenieurbüros; die Bauherrin war nicht anwesend. Das Protokoll dieser Sitzung, zu dem die Bauherrin Zugang hatte, vermerkte, dass die Offerten des Ingenieurbüros vom "Maître de l'ouvrage" (Bauherrn) "acceptées" (akzeptiert) worden seien und entsprechende Vertragsentwürfe zur Unterschrift vorgelegt werden sollten. Im Juni 2015 erstellte das Ingenieurbüro einen Vertragsentwurf, der die Bauherrin als "mandant" auswies, und stellte der Bauherrin eine erste Rechnung über CHF 6'000 für die Minergie-Dossiers zu. Eine weitere Sitzung im November 2015, deren Protokoll ebenfalls an die Bauherrin zugestellt wurde, bestätigte, dass die "propositions de contrat" dem "promoteur" (Bauherrn) unterbreitet und von diesem "acceptées" (akzeptiert) worden seien. Das Ingenieurbüro stellte der Bauherrin im Februar 2016 eine Akontorechnung über CHF 59'346 für die CVS-Studien. Die Bauherrin reagierte auf keine der Rechnungen oder Mahnungen. Das Bauprojekt wurde später aufgegeben und die Grundstücke verkauft.
Das Ingenieurbüro leitete die Betreibung ein, wogegen die Bauherrin Rechtsvorschlag erhob. Die Klage des Ingenieurbüros auf definitive Rechtsöffnung und Zahlung von CHF 65'346 nebst Zinsen wurde von der ersten Instanz und der Walliser Zivilkammer I des Kantonsgerichts gutgeheissen. Die Bauherrin erhob daraufhin Beschwerde in Zivilsachen ans Bundesgericht.
2. Rechtliche Problematik und Begründung des Bundesgerichts
Die zentrale Streitfrage vor Bundesgericht war, ob die Bauherrin durch den Architekten für den Abschluss der strittigen Verträge mit dem Ingenieurbüro wirksam vertreten wurde und somit die Forderung von CHF 65'346 zu zahlen hatte.
2.1. Grundsätze der Vertretung (Art. 32 ff. OR)
Das Bundesgericht legte zunächst die Grundsätze der Vertretung dar. Eine vertragliche Bindung des Vertretenen an die vom Vertreter abgeschlossenen Geschäfte tritt in drei Fällen ein: 1. Interne Vollmacht (Art. 32 Abs. 1 OR): Der Vertretene hat dem Vertreter die erforderlichen Befugnisse intern erteilt. 2. Anscheins- oder Duldungsvollmacht (Art. 33 Abs. 3 OR): Auch ohne interne Vollmacht ist der Vertretene gebunden, wenn der Dritte gutgläubig an das Bestehen einer Vollmacht glauben durfte, die der Vertretene nach aussen kundgegeben hat. 3. Genehmigung (Art. 38 Abs. 1 OR): Der Vertretene genehmigt den vom vollmachtlosen Vertreter abgeschlossenen Vertrag nachträglich.
Im vorliegenden Fall war unbestritten, dass der Architekt gemäss dem Architektenvertrag keine interne Vollmacht besass, um die strittigen Verträge mit dem Ingenieurbüro abzuschliessen, da diese die Schwelle von CHF 5'000 überschritten und keine schriftliche Zustimmung der Bauherrin vorlag. Daher prüfte das Gericht primär die Voraussetzungen einer Duldungsvollmacht gemäss Art. 33 Abs. 3 OR.
2.2. Voraussetzungen der Duldungsvollmacht (Art. 33 Abs. 3 OR)
Für das Vorliegen einer Duldungsvollmacht müssen folgende Bedingungen erfüllt sein: 1. Handeln im Namen des Vertretenen ohne interne Vollmacht: Der Vertreter muss im Namen des Vertretenen gehandelt haben, obwohl ihm intern keine Vollmacht oder eine über die interne Vollmacht hinausgehende Vollmacht fehlte. Dies war im Fall des Architekten unbestritten. 2. Gutgläubigkeit des Dritten aufgrund einer Mitteilung des Vertretenen: Der Dritte muss gutgläubig an das Bestehen der Vollmacht geglaubt haben, weil der Vertretene ihm eine nach aussen kundgegebene Vollmacht (externe Vollmacht) mitgeteilt hat, die über die intern erteilten Befugnisse hinausgeht. Das Bundesgericht betonte, dass derjenige, der den Anschein einer Vertretungsmacht entstehen lässt, an die in seinem Namen vorgenommenen Handlungen gebunden ist (vgl. BGE 146 III 37 E. 7.1.2.1).
2.3. Die "Mitteilung" der Vollmacht
Eine solche Mitteilung kann ausdrücklich oder stillschweigend erfolgen (vgl. BGE 146 III 37 E. 7.1.2.1; Urteil 4A_137/2022 vom 30. August 2022 E. 4.3.1). Bei einer stillschweigenden Mitteilung wird der Wille des Vertretenen aus dessen Verhalten abgeleitet und nach dem Vertrauensprinzip interpretiert. Es ist nicht erforderlich, dass der Vertretene die Mitteilung bewusst vornimmt, sofern sie ihm objektiv aufgrund der ihm bekannten oder bekannten Umstände zurechenbar ist. Die Vorinstanz hatte im vorliegenden Fall festgestellt, dass die Bauherrin die Sitzungsprotokolle vom 28. April 2015 und 26. November 2015 erhalten hatte, in denen die Annahme der Offerten des Ingenieurbüros durch den Bauherrn (vertreten durch den Architekten) vermerkt war. Indem die Bauherrin auf diese Protokolle, die eine solche Annahme gegenüber dem Ingenieurbüro kundtaten, nicht reagierte, hat sie objektiv den Anschein einer Vertretungsbefugnis geduldet.
2.4. Die "Gutgläubigkeit" des Dritten
Die Gutgläubigkeit des Dritten (hier: des Ingenieurbüros) wird gemäss Art. 3 Abs. 1 ZGB vermutet. Die Beweislast für die Bösgläubigkeit liegt beim Vertretenen (hier: der Bauherrin). Der Vertretene kann versuchen nachzuweisen, dass der Dritte nicht gutgläubig war oder dass dessen Gutgläubigkeit mit der nach den Umständen gebotenen Aufmerksamkeit nicht vereinbar ist (Art. 3 Abs. 2 ZGB). Letzteres ist eine Rechtsfrage, die der richterlichen Würdigung unterliegt (Art. 4 ZGB).
Die Bauherrin rügte, die Vorinstanz habe willkürlich angenommen, das Ingenieurbüro habe nicht gewusst, dass der Architekt keine Vollmacht hatte. Diese Rüge wies das Bundesgericht als unsubstanziiert ab, da die Bauherrin die Anforderungen an eine Willkürrüge (Art. 106 Abs. 2 BGG) nicht erfüllte. Ferner argumentierte die Bauherrin, das Ingenieurbüro hätte als Branchenprofi wissen müssen, dass ein Architekt grundsätzlich keine Vollmacht zum Abschluss wichtiger Verträge hat, und hätte daher eine ausdrückliche Genehmigung einholen müssen. Das Bundesgericht entgegnete, dass dies ungenügend sei, um die Gutgläubigkeit des Ingenieurbüros zu widerlegen. Die Argumentation der Bauherrin verkannte, dass es hier nicht um die interne Vollmacht des Architekten ging, sondern um die Frage, ob das Ingenieurbüro aufgrund des Verhaltens der Bauherrin (der stillschweigenden Mitteilung durch Passivität) auf das Bestehen einer externen Vollmacht vertrauen durfte. Das Ingenieurbüro durfte sich auf den vom Bauherrn geschaffenen Anschein verlassen.
2.5. Höhe der Forderung
Die Bauherrin bestritt zudem die Höhe der Forderung und argumentierte, das Ingenieurbüro habe keinen Schaden nachgewiesen und die Rechnungen seien nicht ausreichend. Das Bundesgericht stellte klar, dass das Ingenieurbüro keine Schadensersatz-, sondern vertragliche Werklohnansprüche geltend machte. Eine Schadensfeststellung sei daher irrelevant. Die Rügen der Bauherrin bezüglich der Höhe der vertraglich geschuldeten Leistung wies das Bundesgericht als ungenügend begründet zurück, da sie die Anforderungen von Art. 106 Abs. 2 BGG nicht erfüllten und die detaillierte Prüfung der ersten Instanz ignorierten.
3. Fazit und Querverweise
Das Bundesgericht bestätigte die Argumentation der Vorinstanz und wies die Beschwerde der Bauherrin ab. Der Architekt hatte zwar keine interne Vollmacht, aber die Bauherrin hatte durch ihr passives Verhalten (keine Reaktion auf die ihr zugestellten Protokolle, die eine Annahme der Angebote durch den Architekten im Namen der Bauherrin festhielten) den Anschein einer Vertretungsmacht (Duldungsvollmacht) geschaffen. Das Ingenieurbüro durfte auf diesen Anschein gutgläubig vertrauen. Die Bauherrin ist daher gemäss Art. 33 Abs. 3 OR an die vom Architekten im ihrem Namen abgeschlossenen Verträge gebunden und zur Zahlung der geltend gemachten Werklohnforderung verpflichtet.
Dieser Entscheid verdeutlicht die Bedeutung des Vertrauensprinzips im Schweizer Vertragsrecht und die strenge Anwendung der Grundsätze der Anscheins- und Duldungsvollmacht. Er unterstreicht, dass eine Bauherrin, die Kenntnis von Handlungen eines Dritten in ihrem Namen hat und diesen Anschein nicht unverzüglich beseitigt, an die daraus resultierenden Verpflichtungen gebunden sein kann, selbst wenn dem Dritten intern keine Vertretungsbefugnis erteilt wurde. Das Urteil knüpft dabei direkt an die etablierte Rechtsprechung des Bundesgerichts an, wie sie beispielsweise in BGE 146 III 37 und früheren Urteilen zu Art. 33 Abs. 3 OR (bspw. Urteil 4A_137/2022 vom 30. August 2022) dargelegt wird, insbesondere hinsichtlich der stillschweigenden Mitteilung von Vollmachten und der Prüfung der Gutgläubigkeit unter Berücksichtigung von Art. 3 Abs. 1 und 2 ZGB.
4. Kurze Zusammenfassung der wesentlichen Punkte