Zusammenfassung von BGer-Urteil 4A_618/2023 vom 6. Juni 2025

Es handelt sich um ein experimentelles Feature. Es besteht keine Gewähr für die Richtigkeit der Zusammenfassung.

Das Bundesgericht hatte im vorliegenden Fall zu beurteilen, ob die A._ SA (nachfolgend: Rekurrentin oder Bauherrin) durch ihren Architekten C._ gültig vertreten wurde, als dieser zwei Verträge mit dem Ingenieur B.__ (nachfolgend: Intimierter) schloss, und ob die geltend gemachte Forderung des Ingenieurs berechtigt ist.

I. Sachverhalt und Verfahrensablauf

Die Rekurrentin, ein Immobilienunternehmen, beabsichtigte, auf mehreren Parzellen im Wallis Bauvorhaben zu realisieren. Zu diesem Zweck schloss sie am 21. Oktober 2014 einen Gesamtarchitektenvertrag mit C.__ (Architekt). Der Vertrag enthielt eine explizite Klausel zur Vertretung des Bauherrn: Der Architekt besass demnach grundsätzlich keine finanzielle Vertretungsmacht gegenüber Dritten und musste für jeden Vertrag oder jede finanzielle Verpflichtung die schriftliche Zustimmung oder Unterschrift des Bauherrn einholen. Ausnahmen bestanden für Leistungen unter CHF 5'000.- (sofern der Bauherr nicht erreichbar war) und für dringende Massnahmen zur Schadensvermeidung.

Noch am selben Tag informierte der Architekt die Rekurrentin per E-Mail, dass für das Baugesuch ein Statik-Ingenieur für das Erdbebendossier erforderlich sei und er eine Offerte des Intimierten einholen werde. Der Intimierte erstellte im November 2014 eine Offerte für Erdbebenberichte (CHF 2'000.- pro Gebäude) und im Dezember 2014 eine zweite Offerte für Tragwerksstudien im Umfang von CHF 140'000.-. Letztere enthielt einen "Vorschlag SIA-Vertrag", der die Rekurrentin als "Mandant" bezeichnete.

Diverse Umstände deuteten auf eine Kenntnis der Rekurrentin von der Tätigkeit des Intimierten hin: * Der Intimierte lieferte die Erdbebenberichte im Dezember 2014, und eine von ihm erstellte Nutzungsvereinbarung für die Erdbebensicherheit wurde von der Rekurrentin als Bauherrin mitunterzeichnet. * Das Baugesuch, unterzeichnet von der Rekurrentin und dem Architekten, enthielt ein vom Intimierten unterzeichnetes Formular. * An einer technischen Koordinationssitzung im April 2015, die der Architekt organisierte (ohne Teilnahme der Rekurrentin), wurde protokolliert, dass die Offerten, einschliesslich derjenigen des Intimierten, vom "Maître de l'ouvrage" (Bauherrn) angenommen worden seien. Die Rekurrentin erhielt das Protokoll. * Ein weiteres Sitzungsprotokoll vom November 2015, ebenfalls an die Rekurrentin übermittelt, hielt fest, dass "die Vertragsvorschläge dem Promotor [d.h. der Rekurrentin] vorgelegt und von ihm angenommen worden sind". * Der Intimierte stellte der Rekurrentin Rechnungen über CHF 6'000.- (Dezember 2015) und CHF 56'000.- (Juni 2016) für seine Leistungen aus. * Im März 2016 sandte die Rekurrentin dem Intimierten eine Kopie eines von ihr unterzeichneten Leitungsdurchgangsvertrags mit dem Vermerk "info & suivi dossier".

Da die Rekurrentin die Rechnungen nicht beglich, leitete der Intimierte eine Betreibung ein, gegen die die Rekurrentin vollumfänglich Rechtsvorschlag erhob. Das erstinstanzliche Gericht und das Kantonsgericht Wallis hiessen die Klage des Ingenieurs gut und bestätigten die Forderung von CHF 65'360.-.

II. Die massgebenden Punkte und rechtlichen Argumente des Bundesgerichts

Das Bundesgericht prüfte die Beschwerde der Rekurrentin primär unter dem Gesichtspunkt der Vertretungswirkung (Art. 32 ff. OR) und der Höhe der Forderung.

1. Sachverhaltsfeststellung und Rügeprinzip (Art. 105 Abs. 1, 9, 106 Abs. 2 LTF) Das Bundesgericht hält fest, dass es den Sachverhalt grundsätzlich so übernimmt, wie er von der Vorinstanz festgestellt wurde (Art. 105 Abs. 1 LTF). Eine Abweichung ist nur bei offensichtlich unrichtiger Feststellung (Willkür gemäss Art. 9 BV) oder einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 LTF möglich, sofern die Korrektur kausal für den Ausgang des Verfahrens ist (Art. 97 Abs. 1 LTF). Die Kritik an der Beweiswürdigung erfordert ebenfalls den Nachweis von Willkür. Hierfür muss die Beschwerdepartei klar und substantiiert darlegen, inwiefern diese Voraussetzungen erfüllt sind (Art. 106 Abs. 2 LTF). Das Bundesgericht wies in diesem Zusammenhang die appellatorischen Kritikpunkte der Rekurrentin an den Sachverhaltsfeststellungen der Vorinstanz, insbesondere bezüglich ihrer Kenntnis von der Intervention des Ingenieurs und der Unkenntnis des Ingenieurs über das Fehlen der Vertretungsmacht des Architekten, als unzulässig zurück. Die Vorinstanz habe gestützt auf die Akten (z.B. E-Mail vom 21. Oktober 2014, Mitunterzeichnung der Nutzungsvereinbarung, Übermittlung des Sitzungsprotokolls vom 26. November 2015, Weiterleitung des Vertrags vom 14. März 2016) zu Recht geschlossen, dass die Rekurrentin Kenntnis von der Beteiligung des Intimierten hatte.

2. Gültige Vertretung des Bauherrn (Art. 33 Abs. 3 OR)

Das Kernstück des Entscheids betrifft die Frage, ob der Architekt die Rekurrentin für den Abschluss der Verträge mit dem Intimierten gültig vertreten hat.

2.1. Rechtliche Grundlagen der Vertretung Das Bundesgericht rekapituliert das gesetzliche System der Vertretung: * Interne Vollmacht (Art. 32 Abs. 1 OR): Der Vertretene hat dem Vertreter die nötigen Befugnisse im Innenverhältnis erteilt. Diese kann ausdrücklich oder stillschweigend erfolgen. * Anscheinsvollmacht (Art. 33 Abs. 3 OR): Wenn keine interne Vollmacht besteht, aber der Dritte gutgläubig von der Existenz einer Vollmacht ausgehen durfte, weil der Vertretene dies dem Dritten kundgetan hat. Der Vertretene ist an die vom Vertreter in seinem Namen vorgenommenen Handlungen gebunden, wenn er den Anschein einer Vertretungsmacht erweckt oder geduldet hat. * Genehmigung (Art. 38 Abs. 1 OR): Der Vertretene genehmigt nachträglich den vom Vertreter ohne Vollmacht geschlossenen Vertrag.

2.2. Anwendung auf den vorliegenden Fall: Anscheinsvollmacht durch Duldung (Toleranzvollmacht) Es war unbestritten, dass der Architekt keine interne Vertretungsmacht im Sinne von Art. 32 Abs. 1 OR besass, die ihn zur Vornahme der streitigen Vertragsabschlüsse im Namen der Rekurrentin berechtigt hätte. Der Vertrag mit dem Architekten sah explizit vor, dass er keine "représentation financière à l'égard de tiers" besass.

Das Bundesgericht prüfte daher die Voraussetzungen von Art. 33 Abs. 3 OR (Anscheinsvollmacht): * Handeln im Namen des Vertretenen: Dies war unbestritten; der Architekt hatte im Namen der Rekurrentin gehandelt. * Mitteilung der Vollmacht durch den Vertretenen an den Dritten: Die Rekurrentin hatte die Protokolle der Architektensitzungen vom April und November 2015 erhalten, in denen explizit festgehalten wurde, dass der "Maître de l'ouvrage" bzw. der "promoteur" die Offerten des Intimierten akzeptiert hatte und der Intimierte mit weiteren Arbeiten betraut wurde. Die Vorinstanz hat diese Kenntnis der Rekurrentin als Tatsache festgestellt, was vom Bundesgericht nicht beanstandet wurde (siehe oben, Punkt 1). Die Rekurrentin rügte, ihre blosse Passivität – ohne Gegenzeichnung von Protokollen oder Rechnungen – könne nicht als Annahme der Offerte oder Duldung einer Willensäusserung durch den Architekten gewertet werden. Das Bundesgericht hielt jedoch fest, dass eine Kommunikation der Vollmacht auch stillschweigend durch ein passives Verhalten erfolgen kann (sog. Toleranzvollmacht). Entscheidend ist dabei, dass das Verhalten des Vertretenen objektiv als Mitteilung von Vollmachten an den Dritten verstanden werden kann und dem Vertretenen objektiv zurechenbar ist. Die Rekurrentin wusste, dass der Architekt die Annahme der Offerten des Intimierten in ihrem Namen kommuniziert hatte und der Intimierte weitere Leistungen erbrachte (vgl. auch die Weiterleitung des Vertrages vom 14. März 2016 zur "Info & suivi dossier"). Trotz dieser Kenntnis blieb die Rekurrentin untätig und widersprach den Handlungen des Architekten nicht. Dies reichte dem Bundesgericht aus, um eine objektiv zurechenbare Mitteilung der Vollmacht durch Duldung anzunehmen. * Guter Glaube des Dritten (Ingenieurs): Der gute Glaube des Dritten wird gemäss Art. 3 Abs. 1 ZGB vermutet. Es obliegt dem Vertretenen (Rekurrentin), das Gegenteil zu beweisen. Die Rekurrentin argumentierte, der Intimierte sei als Fachmann in der Baubranche nicht gutgläubig gewesen, da er wissen musste, dass ein Architekt in der Regel keine Vollmachten für wichtige Vertragsabschlüsse besitze. Das Bundesgericht wies diesen Einwand zurück. Die Vorinstanz hatte festgestellt, dass der Intimierte das Fehlen der Vollmacht des Architekten nicht kannte. Diese Feststellung ist tatsächlicher Natur und konnte von der Rekurrentin nicht willkürfrei widerlegt werden (siehe oben, Punkt 1). Entscheidend ist nicht, ob der Architekt typischerweise über solche Vollmachten verfügt, sondern ob der Dritte auf die vom Vertretenen objektiv geschaffene Anscheinsvollmacht vertrauen durfte. Die Rekurrentin hatte es versäumt, darzulegen, warum der Intimierte trotz der von ihr geduldeten Situation (Sitzungsprotokolle, Rechnungen, eigene Korrespondenz) nicht hätte gutgläubig sein dürfen.

Querverweise: Das Bundesgericht stützt sich auf etablierte Rechtsprechung zur Anscheins- und Duldungsvollmacht, wie sie in den zitierten Entscheiden (BGE 146 III 37 E. 7.1; BGE 143 III 653 E. 4.3.3; Urteil 4A_137/2022 E. 4.3) zum Ausdruck kommt. Diese Entscheidungen unterstreichen das Vertrauensprinzip im Vertragsrecht und den Schutz des guten Glaubens Dritter, wenn der Vertretene durch sein Verhalten einen Vertrauenstatbestand schafft.

3. Höhe der Forderung

Schliesslich rügte die Rekurrentin die Höhe der Forderung und meinte, der Intimierte habe keinen Schaden nachgewiesen und Gutachten seien erforderlich gewesen. Das Bundesgericht stellte klar, dass es sich hier nicht um eine Schadenersatzforderung handelte, sondern um eine vertragliche Forderung (Werklohn) für erbrachte Leistungen (6'000 CHF für Erdbebenberichte, 56'000 CHF plus 3'360 CHF für Tragwerksstudien). Die Kritik der Rekurrentin an der Beweiswürdigung der Vorinstanz bezüglich der erbrachten Leistungen und des geschuldeten Preises sei unzureichend und genüge den Anforderungen von Art. 106 Abs. 2 LTF nicht.

III. Fazit

Das Bundesgericht weist die Beschwerde der Rekurrentin ab. Es bestätigt, dass die Rekurrentin durch das passive Dulden der Handlungen ihres Architekten den Anschein einer Vertretungsmacht (Toleranzvollmacht) geschaffen hat, auf den der Intimierte in gutem Glauben vertrauen durfte. Die Voraussetzungen von Art. 33 Abs. 3 OR sind somit erfüllt, und die Rekurrentin ist vertraglich an die Vereinbarungen mit dem Intimierten gebunden. Die Rügen bezüglich der Höhe der Forderung wurden ebenfalls als unbegründet zurückgewiesen, da es sich um eine vertragliche Leistung und nicht um Schadenersatz handelte.

Zusammenfassung der wesentlichen Punkte:

  1. Keine interne Vollmacht: Der Architekt hatte gemäss Vertrag keine explizite Vertretungsmacht für den Abschluss bedeutender finanzieller Verpflichtungen im Namen des Bauherrn.
  2. Anscheinsvollmacht durch Duldung (Toleranzvollmacht): Der Bauherr wurde dennoch an die Verträge gebunden, weil er durch seine Passivität und Kenntnis von den vom Architekten getätigten Erklärungen (insbesondere durch erhaltene Sitzungsprotokolle, die die Annahme der Offerten des Ingenieurs in seinem Namen festhielten) den Anschein einer Vertretungsmacht (Art. 33 Abs. 3 OR) geschaffen hat.
  3. Guter Glaube des Dritten: Der Ingenieur durfte gutgläubig auf diese Anscheinsvollmacht vertrauen; der Bauherr konnte keine Umstände beweisen, die diesen guten Glauben widerlegen würden. Die allgemeine Branchenkenntnis über Architektenvollmachten war im Lichte der vom Bauherrn geschaffenen äusseren Umstände nicht relevant.
  4. Forderungshöhe: Die geltend gemachten Beträge betreffen vertraglich geschuldete Werkleistungen und nicht Schadenersatz; die diesbezüglichen Rügen des Bauherrn wurden als unbegründet abgewiesen.