Zusammenfassung von BGer-Urteil 7B_527/2024 vom 15. Juli 2025

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Gerne fasse ich das bereitgestellte Urteil des schweizerischen Bundesgerichts detailliert zusammen:

Zusammenfassung des Urteils des Schweizerischen Bundesgerichts (7B_527/2024 vom 15. Juli 2025)

1. Einleitung und Verfahrensgegenstand

Das Bundesgericht befasste sich mit einem Rekurs von A.A.__, einer minderjährigen Beschwerdeführerin, gegen einen Entscheid der Strafrechtlichen Beschwerdekammer des Kantons Waadt vom 7. März 2024. Diese hatte eine Nichteintretensverfügung des Jugendgerichts des Kantons Waadt vom 12. Dezember 2023 bestätigt. Obwohl die Nichteintretensverfügung in der Sache selbst zugunsten der Beschwerdeführerin ergangen war, rügte diese die zugrunde liegende Begründung, welche ihr eine einfache Verletzung der Verkehrsregeln (Art. 90 Abs. 1 Strassenverkehrsgesetz, SVG) zur Last legte. Die Beschwerdeführerin begehrte eine ausschliesslich auf dem offensichtlichen Fehlen der Tatbestandsmerkmale basierende Nichteintretensverfügung, um jegliche Schuldzuweisung abzuwenden.

2. Sachverhalt

Am 29. August 2023 war die minderjährige A.A._ mit ihrem Töffli mit ca. 15 km/h auf der Mitte der Strasse D._ in U.__ unterwegs, als sie mit einem entgegenkommenden Schulbus kollidierte. Sie erlitt dabei schwere Verletzungen (Frakturen beider Handgelenke, offene Kniescheibenfraktur, teilweiser Bänderriss) und musste hospitalisiert werden. Die Polizei vernahm den Busfahrer und später auch die Beschwerdeführerin, die angab, mittig auf der Fahrbahn gefahren zu sein. Parallel wurde eine Strafuntersuchung gegen den Busfahrer eröffnet.

Das Jugendgericht erliess eine Nichteintretensverfügung gegen A.A.__, da es die Fakten zwar als einfache Verletzung der Verkehrsregeln im Sinne von Art. 90 Abs. 1 SVG einstufte, jedoch die Voraussetzungen für eine Strafbefreiung gemäss Art. 21 lit. d des Bundesgesetzes über das Jugendstrafrecht (JStG) als erfüllt betrachtete (direkte Betroffenheit durch die Folgen der Tat). Daher wurde von einer Strafverfolgung gemäss Art. 5 Abs. 1 lit. a des Bundesgesetzes über das Jugendstrafprozessrecht (JStP) abgesehen. Die kantonale Beschwerdekammer bestätigte diese Verfügung.

3. Rechtliche Erwägungen des Bundesgerichts

3.1. Zulässigkeit des Rekurses (Prüfung der Legitimation)

Obwohl die Nichteintretensverfügung für die Beschwerdeführerin ein günstiges Ergebnis darstellte, prüfte das Bundesgericht die Zulässigkeit des Rekurses. Grundsätzlich kann eine Partei einen für sie günstigen Entscheid nicht allein zur Erzielung einer anderen rechtlichen Begründung anfechten. Eine Ausnahme besteht jedoch, wenn die Begründung des Entscheids das Prinzip der Unschuldsvermutung verletzt. Die Beschwerdeführerin rügte genau dies: Die Begründung der Nichteintretensverfügung, welche ihr eine einfache Verkehrsregelverletzung (und somit ein Verschulden) vorwarf, verletze ihre Unschuldsvermutung. Das Bundesgericht folgte dieser Argumentation und verwies auf seine Rechtsprechung (BGE 123 IV 220 E. 1c), wonach der Angeschuldigte im Falle einer Strafbefreiung die Schuldzuweisung anfechten kann. Der Rekurs war somit zulässig.

3.2. Rüge der Verletzung des rechtlichen Gehörs (Art. 29 Abs. 2 BV, Art. 6 Abs. 1 EMRK)

Die Beschwerdeführerin machte geltend, sie sei vom Jugendgericht oder der kantonalen Beschwerdekammer vor Erlass der Nichteintretensverfügung nicht angehört worden, insbesondere zur vermeintlichen Verkehrsregelverletzung.

Das Bundesgericht wies diese Rüge ab. Es führte aus, dass eine Nichteintretensverfügung gemäss Art. 310 Abs. 1 lit. a StPO "sofort" erlassen wird, bevor weitere Untersuchungshandlungen erfolgen. Der Anspruch auf Mitwirkung bei der Beweiserhebung (Art. 147 Abs. 1 StPO) gelte in dieser Phase grundsätzlich nicht. Auch müsse die Staatsanwaltschaft die Parteien vor einer Nichteintretensverfügung nicht informieren oder Fristen zur Stellung von Beweisanträgen setzen (Art. 318 StPO ist nicht anwendbar). Das rechtliche Gehör sei durch das Rechtsmittelverfahren gegen die Nichteintretensverfügung (Art. 310 Abs. 2, 322 Abs. 2, 393 ff. StPO) gewährleistet, das den Parteien eine umfassende Rügefreiheit in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht ermögliche. Die Beschwerdeführerin sei zudem kurz nach dem Unfall von der Polizei einvernommen worden und habe ihre Version der Ereignisse darlegen können. In der kantonalen Beschwerde habe sie alle ihre Rügen, einschliesslich der Frage ihrer strafrechtlichen Verantwortlichkeit, vor einer Behörde mit voller Überprüfungsbefugnis vorbringen können. Eine Verletzung des rechtlichen Gehörs liege demnach nicht vor.

3.3. Materielle Prüfung der Verkehrsregelverletzung (Art. 34 Abs. 1 SVG, Art. 31 Abs. 1 SVG, Art. 3 Abs. 1 VRV)

Die Beschwerdeführerin rügte eine Verletzung des Rechtsfahrgebots (Art. 34 Abs. 1 SVG), der Fahrzeugbeherrschung (Art. 31 Abs. 1 SVG) und der Aufmerksamkeitspflicht (Art. 3 Abs. 1 Verkehrsregelnverordnung, VRV). Das Bundesgericht ist an die Sachverhaltsfeststellungen der Vorinstanz gebunden, es sei denn, diese seien willkürlich (Art. 97 Abs. 1, 105 Abs. 2 LTF i.V.m. Art. 9 BV).

3.3.1. Rechtsfahrgebot (Art. 34 Abs. 1 SVG): Die Vorinstanz hatte festgestellt, die Beschwerdeführerin sei in der Mitte der Fahrbahn gefahren und habe damit Art. 34 Abs. 1 SVG verletzt, da die Strasse mit 3,50 m nicht "besonders eng" gewesen sei und keine besonderen Umstände ein Abweichen vom Rechtsfahrgebot gerechtfertigt hätten.

Das Bundesgericht folgte der Beschwerdeführerin und verneinte eine Verletzung des Rechtsfahrgebots: * Strassenbreite: Entgegen der Vorinstanz befand das Bundesgericht, dass die Strasse nicht breit war. Die von der Beschwerdeführerin vorgelegten Fotos zeigten, dass es schwierig war, dass zwei Fahrzeuge (oder selbst ein Auto und ein Töffli) aneinander vorbeifahren konnten, ohne den Fahrbahnrand zu überfahren. Die Beschwerdeführerin führte zudem ins Feld, dass die Breite von 3,50 m (gemäss Polizeirapport) oder 3,03 m (gemäss eigener Messung) deutlich unter den Normen für das Kreuzen von zwei Autos liege (z.B. 4,40 m in 30er-Zonen). * Sichtverhältnisse und Fahrverhalten: Das Bundesgericht anerkannte, dass es auf einer Landstrasse ohne Mittellinie schwierig sein kann, die genaue Fahrbahn abzugrenzen. Es erachtete es als legitim, dass die Beschwerdeführerin sich in Richtung Strassenmitte bewegte, um eine bessere Sicht auf den Verkehr nach einer Rechtskurve zu haben. Dies gelte insbesondere, da sie mit lediglich 15 km/h unterwegs war und somit ihre Geschwindigkeit angepasst hatte, was ihr ein rechtzeitiges Ausweichen ermöglicht hätte (was sie durch einen Lenkeinschlag nach rechts auch getan hatte). * Kollisionspunkt: Das Gericht betonte, dass der genaue Kollisionspunkt nicht abschliessend definiert sei. Während der Polizeirapport einen Punkt "ungefähr in der Mitte der Fahrbahn" nannte, deuteten Fotos der Beschwerdeführerin auf eine Kollisionsstelle weiter rechts hin (grosse schwarze Spur, Trümmer). Das Bundesgericht schloss nicht aus, dass die Beschwerdeführerin noch vor dem Aufprall an den rechten Fahrbahnrand ausgewichen war.

Basierend auf diesen Erwägungen kam das Bundesgericht zum Schluss, dass die kantonale Instanz die Beweise in Bezug auf Art. 34 Abs. 1 SVG willkürlich gewürdigt hatte.

3.3.2. Fahrzeugbeherrschung (Art. 31 Abs. 1 SVG) und Aufmerksamkeitspflicht (Art. 3 Abs. 1 VRV): Die Vorinstanz hatte einen Kontrollverlust der Beschwerdeführerin angenommen, allein weil diese in das entgegenkommende Fahrzeug gefahren war. Zudem wurde von einer "vermutlichen Unaufmerksamkeit" ausgegangen, ohne diese zu begründen.

Das Bundesgericht gab der Beschwerdeführerin auch hier Recht: * Begründungsmangel: Die Vorinstanz hatte ihre Argumentation unzureichend begründet und lediglich den Kontrollverlust aus der Kollision abgeleitet, ohne andere relevante Faktoren zu berücksichtigen. * Fahrzeugbeherrschung: Die geringe Geschwindigkeit von 15 km/h sprach für die nötige Vorsicht. Die Beschwerdeführerin hatte zudem angegeben, überrascht worden zu sein und sofort nach rechts gelenkt zu haben, um die Kollision zu vermeiden. Das Bundesgericht hielt es für möglich, dass sie auf den äussersten rechten Fahrbahnrand ausgewichen war und der Unfall möglicherweise nicht eingetreten wäre, wenn der Busfahrer sein Fahrzeug nicht ebenfalls nach links bewegt hätte. * Aufmerksamkeit: Die kantonale Instanz hatte keine Gründe für die angenommene "vermutliche Unaufmerksamkeit" der Beschwerdeführerin genannt. Weder der Polizeirapport noch die Einvernahmen enthielten Hinweise darauf, dass die Beschwerdeführerin tatsächlich unaufmerksam gewesen wäre.

Folglich befand das Bundesgericht, dass die kantonale Instanz die Beweise auch in Bezug auf Art. 31 Abs. 1 SVG und Art. 3 Abs. 1 VRV willkürlich gewürdigt hatte.

3.4. Konsequenz und Rückweisung

Das Bundesgericht hielt fest, dass die kantonale Behörde die Begründung der Nichteintretensverfügung des Jugendgerichts, welche eine Verkehrsregelverletzung durch die Beschwerdeführerin annahm, nicht bestätigen konnte. Das angefochtene Urteil wurde daher aufgehoben und die Sache an die kantonale Instanz zurückgewiesen.

Das Bundesgericht zeigte zwei mögliche Vorgehensweisen für die kantonale Behörde auf (ggf. nach Rückweisung an das Jugendgericht): 1. Erneute Nichteintretensverfügung: Eine neue Nichteintretensverfügung könnte gestützt auf Art. 310 Abs. 1 lit. a StPO (Anwendbar via Art. 3 Abs. 1 JStP) erlassen werden, weil die Tatbestandsmerkmale der Verkehrsregelverletzung offensichtlich nicht erfüllt sind. Dies entspricht dem Hauptantrag der Beschwerdeführerin. 2. Eröffnung der Untersuchung: Alternativ könnte eine Strafuntersuchung eröffnet werden, um abschliessend zu klären, ob die Beschwerdeführerin tatsächlich eine Verletzung von Art. 31 Abs. 1 und 34 Abs. 1 SVG sowie Art. 3 Abs. 1 VRV begangen haben könnte. Sollte dies bejaht werden, könnte im Anschluss eine Einstellung des Verfahrens wegen Strafbefreiung gemäss Art. 21 lit. d JStG (i.V.m. Art. 5 Abs. 1 lit. a und Abs. 2 JStP, verweisend auf Art. 8 Abs. 4 StPO) erfolgen. Eine Nichteintretensverfügung nach Art. 310 Abs. 1 lit. c StPO (Sachverhalt nicht genügend erstellt für Anklage) sei nicht möglich, da die Fakten noch nicht ausreichend erstellt seien, um eine unmittelbare Verletzung von Art. 90 Abs. 1 SVG festzustellen.

Der subsidiäre Antrag der Beschwerdeführerin auf Aussetzung des Verfahrens bis zum Abschluss der Untersuchung gegen den Busfahrer musste nicht geprüft werden, da die Rückweisung des Falls der kantonalen Behörde die Berücksichtigung dieser Elemente ermöglicht.

4. Entscheid des Bundesgerichts

Der Rekurs wurde gutgeheissen, das angefochtene Urteil aufgehoben und die Sache zur neuen Entscheidung an die kantonale Beschwerdekammer zurückgewiesen. Es wurden keine Gerichtskosten erhoben, und der Kanton Waadt wurde zur Zahlung einer Parteientschädigung an die Beschwerdeführerin verurteilt.

Zusammenfassung der wesentlichen Punkte:

Das Bundesgericht hat im Urteil 7B_527/2024 die Beschwerde einer minderjährigen Lenkerin gegen eine Nichteintretensverfügung gutgeheissen, obwohl diese formell zu ihren Gunsten ergangen war. Entscheidend war die Rüge der Verletzung der Unschuldsvermutung, da die Begründung der Verfügung ihr eine (wenn auch strafbefreite) Verkehrsregelverletzung attestierte. Das Gericht verneinte eine Verletzung des rechtlichen Gehörs, da dieses im kantonalen Rechtsmittelverfahren gewährleistet sei.

In der materiellen Prüfung befand das Bundesgericht, dass die Vorinstanz die Beweise bezüglich des Rechtsfahrgebots (Art. 34 Abs. 1 SVG), der Fahrzeugbeherrschung (Art. 31 Abs. 1 SVG) und der Aufmerksamkeitspflicht (Art. 3 Abs. 1 VRV) willkürlich gewürdigt hatte. Es argumentierte, dass die geringe Strassenbreite ein Abweichen vom rechten Fahrbahnrand legitimieren und der genaue Kollisionspunkt sowie die angebliche Unaufmerksamkeit der Lenkerin nicht schlüssig bewiesen seien. Das Urteil der Vorinstanz wurde aufgehoben und die Sache zur Neubeurteilung zurückgewiesen, mit der Möglichkeit für die kantonalen Behörden, eine Nichteintretensverfügung aufgrund offensichtlich fehlender Tatbestandsmerkmale zu erlassen oder eine vertiefte Untersuchung durchzuführen, bevor über eine allfällige Strafbefreiung entschieden wird.