Zusammenfassung von BGer-Urteil 2C_230/2025 vom 17. Juli 2025

Es handelt sich um ein experimentelles Feature. Es besteht keine Gewähr für die Richtigkeit der Zusammenfassung.

Im Folgenden wird das Urteil des schweizerischen Bundesgerichts (2C_230/2025 und 2C_231/2025 vom 17. Juli 2025) detailliert zusammengefasst.

Einleitung Das vorliegende Urteil des Bundesgerichts, II. öffentlich-rechtliche Abteilung, betrifft zwei Beschwerden, die von A._ und B._, Schwestern algerischer Nationalität, gegen die Ablehnung der Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung und ihre Wegweisung aus der Schweiz eingereicht wurden. Die Beschwerden richten sich gegen separate Urteile des Gerichtshofs des Kantons Genf (Chambre administrative, 2ème section) vom 11. März 2025. Die beiden Verfahren wurden vom Bundesgericht vereinigt.

Sachverhalt A._ und B._, 2005 geboren, sind die Töchter von C._ aus einer früheren Ehe. Die Mutter erhielt das Sorgerecht für ihre Töchter durch ein algerisches Scheidungsurteil vom 25. Dezember 2018, welches vom Vater gerichtlich angefochten wurde. Die Mutter, C._, reiste am 18. Dezember 2019 in die Schweiz ein, um ihren Schweizer Ehemann D._ zu treffen, und erhielt eine Aufenthaltsbewilligung für den Familiennachzug, gültig ab diesem Datum. Das Sorgerecht für A._ und B._ wurde ihrer Mutter im April 2022 endgültig zugesprochen. Am 18. September 2022 reisten A._ und B._ mit einem Touristenvisum in die Schweiz ein und sind seither in einer Genfer Schule eingeschrieben. Am 5. Dezember 2022 reichte C._ beim Kantonalen Amt für Bevölkerung und Migration des Kantons Genf ein Familiennachzugsgesuch für ihre beiden Töchter ein.

Vorinstanzen * 21. November 2023: Das Kantonale Amt für Bevölkerung und Migration lehnte die Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung für A._ und B._ ab und verfügte deren Wegweisung. Begründung: Das Familiennachzugsgesuch sei verspätet eingereicht worden. Da die Mutter ihre Aufenthaltsbewilligung am 18. Dezember 2019 erhielt und die Zwillingsschwestern zu diesem Zeitpunkt über 12 Jahre alt waren, hätte das Gesuch spätestens am 17. Dezember 2020 eingereicht werden müssen. Es seien keine wichtigen Gründe für den verspäteten Familiennachzug dargelegt worden. * 16. Mai 2024: Das Tribunal administratif de première instance des Kantons Genf wies die Beschwerden der Zwillingsschwestern gegen die erstinstanzlichen Entscheide ab. * 11. März 2025: Der Gerichtshof des Kantons Genf wies die Beschwerden der Zwillingsschwestern ebenfalls ab. Er bestätigte die korrekte Anwendung von Art. 47 Abs. 4 AuG und hielt fest, dass die Schwestern aufgrund ihres Alters am 11. März 2025 keinen Anspruch auf eine Aufenthaltsbewilligung gestützt auf Familiennachzug nach Art. 8 EMRK geltend machen konnten. Schliesslich seien die Voraussetzungen für eine Härtefallbewilligung gemäss Art. 30 Abs. 1 lit. b AuG nicht erfüllt.

Rechtsbegehren vor Bundesgericht A._ und B._ beantragten am 1. Mai 2025 beim Bundesgericht die Aufhebung der angefochtenen Urteile. Sie verlangten die Feststellung, dass sie die Voraussetzungen für eine Aufenthaltsbewilligung gestützt auf Art. 47 Abs. 4 AuG, subsidiär auf Art. 30 Abs. 1 lit. b AuG und Art. 31 VZAE, offensichtlich erfüllten, und die Anweisung an das Kantonale Amt, ihnen eine Aufenthaltsbewilligung zu erteilen.

Erwägungen des Bundesgerichts

1. Zulässigkeit der Rechtsmittel Das Bundesgericht prüfte zunächst die Zulässigkeit der kombinierten Beschwerden (ordentliche Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten und subsidiäre Verfassungsbeschwerde). * Subsidiäre Verfassungsbeschwerde (Art. 113 LTF): Diese ist nur offen, wenn der ordentliche Rechtsweg ausgeschlossen ist. Das Bundesgericht prüfte zuerst die ordentliche Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten. * Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Art. 83 lit. c Ziff. 5 und 2 LTF): * Härtefallgesuche (Art. 30 Abs. 1 lit. b AuG): Gegen Entscheide, die Ausnahmen von den Zulassungsvoraussetzungen betreffen, einschliesslich Härtefällen, ist die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten unzulässig (Art. 83 lit. c Ziff. 5 AuG). Dasselbe gilt für Entscheide zur Anwendung dieser Bestimmung, da kein Rechtsanspruch auf die Bewilligung besteht (Art. 83 lit. c Ziff. 2 AuG). In diesem Punkt war die Beschwerde unzulässig. * Potenzieller Rechtsanspruch (Art. 83 lit. c Ziff. 2 AuG): Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten ist zulässig, wenn ein potenzieller Rechtsanspruch auf die Bewilligung besteht. Die Beschwerdeführerinnen konnten einen potenziellen Anspruch auf Familiennachzug gemäss Art. 42 Abs. 1 AuG geltend machen, da sie im Zeitpunkt der Gesuchstellung minderjährig waren und ihre Mutter mit einem Schweizer Bürger verheiratet war. * Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Familienlebens): Ein Rechtsanspruch auf Aufenthalt für minderjährige Kinder kann unter bestimmten Umständen aus Art. 8 EMRK abgeleitet werden, insbesondere wenn die Eltern ein gesichertes Aufenthaltsrecht in der Schweiz haben. Das Bundesgericht berücksichtigt hierbei grundsätzlich das Alter des Kindes zum Zeitpunkt seines eigenen Urteils (ATF 145 I 227 E. 3.1). * Im vorliegenden Fall waren die Beschwerdeführerinnen zum Zeitpunkt der Beschwerdeeinreichung beim Bundesgericht bereits volljährig (geboren 2005). Sie machten weder eine besondere Abhängigkeit von ihrer Mutter geltend, noch rügten sie eine übermässige Verfahrensdauer. Daher konnten sie keinen potenziellen Anspruch auf Familiennachzug aus Art. 8 EMRK ableiten. * Wegweisungsentscheide (Art. 83 lit. c Ziff. 4 in fine LTF): Soweit sich die Beschwerdeführerinnen in Bezug auf ihre Wegweisung auf Art. 3 EMRK und Art. 25 Abs. 3 BV beriefen (unmenschliche Behandlung), war die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten unzulässig. Dieser Punkt wurde im Rahmen der subsidiären Verfassungsbeschwerde behandelt. * Fazit zur Zulässigkeit: Die Beschwerden in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten waren im Übrigen zulässig (Endentscheid, kantonale Letztinstanz, öffentlich-rechtliche Angelegenheit, fristgerecht, formgerecht, Beschwerdebefugnis).

2. Verfahrensrechtliche Rügen (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)

  • Willkürliche Sachverhaltsfeststellung und Verletzung des rechtlichen Gehörs (Art. 9 und 29 Abs. 2 BV): Die Beschwerdeführerinnen rügten, die Vorinstanz habe den Sachverhalt offensichtlich unrichtig festgestellt und ihr rechtliches Gehör verletzt, indem sie keine persönliche Anhörung durchgeführt und vorgelegte Beweismittel (Brief vom 16. August 2023, Zeugenaussage eines Familienmitglieds zur Behinderung des Scheidungsverfahrens durch den Vater) nicht berücksichtigt habe.
  • Beurteilung des Bundesgerichts: Das Bundesgericht wies diese Rügen ab. Es stellte fest, dass die Vorinstanz die Existenz eines konfliktbeladenen Scheidungsverfahrens und die Überwachung der Töchter durch den Vater sowie dessen Bemühungen, das Scheidungsverfahren zu behindern, nicht ausser Acht gelassen hatte. Die Vorinstanz hatte jedoch zutreffend beurteilt, dass die vom Vater ausgeübte Überwachung nicht das erforderliche Mass an Zwang erreichte, um als psychische Gewalt zu gelten. Eine Anhörung hätte lediglich eine Wiederholung der bereits vorgebrachten Behauptungen bedeutet. Die Beschwerdeführerinnen hatten nicht substantiiert dargelegt, welche entscheidenden Elemente aus den ignorierten Beweismitteln hervorgegangen wären, die eine willkürliche Sachverhaltsfeststellung begründet hätten.

3. Materielle Prüfung des Familiennachzugs (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)

  • Verspätung des Gesuchs (Art. 42 Abs. 1, 47 Abs. 1 und 3 lit. a AuG):

    • Gesetzliche Grundlage: Nach Art. 42 Abs. 1 AuG haben der Ehegatte eines Schweizer Bürgers sowie seine ledigen Kinder unter 18 Jahren Anspruch auf eine Aufenthaltsbewilligung, sofern sie mit ihm in häuslicher Gemeinschaft leben. Der Familiennachzug muss innerhalb von fünf Jahren beantragt werden. Für Kinder über 12 Jahren muss der Nachzug innerhalb von zwölf Monaten erfolgen (Art. 47 Abs. 1 AuG). Die Frist beginnt mit der Einreise in die Schweiz oder der Begründung des Familienbandes (Art. 47 Abs. 3 lit. a AuG).
    • Anwendung im vorliegenden Fall: Die Mutter der Beschwerdeführerinnen reiste am 18. Dezember 2019 in die Schweiz ein. Da die Beschwerdeführerinnen zu diesem Zeitpunkt über 12 Jahre alt waren (geboren 2005), endete die Frist für die Einreichung des Familiennachzugsgesuchs am 18. Dezember 2020. Das Gesuch wurde jedoch erst am 5. Dezember 2022 eingereicht und war somit verspätet.
    • Beurteilung des Bundesgerichts: Das Argument der Beschwerdeführerinnen, es sei der Mutter aufgrund des Verhaltens des Vaters im Scheidungsverfahren unmöglich gewesen, das Gesuch fristgerecht einzureichen, wurde vom Bundesgericht als unbegründet abgewiesen. Der Gerichtshof hatte zu Recht entschieden, dass nichts die Mutter, die das Sorgerecht und die elterliche Gewalt hatte, daran gehindert hätte, das Gesuch innerhalb der 12-Monats-Frist einzureichen und dabei zu erwähnen, dass ein Zivilverfahren in Algerien lief.
  • Wichtige familiäre Gründe für verspäteten Familiennachzug (Art. 47 Abs. 4 AuG und 73 Abs. 3 VZAE):

    • Gesetzliche Grundlage und Rechtsprechung: Ein verspäteter Familiennachzug kann nur bewilligt werden, wenn wichtige familiäre Gründe vorliegen (Art. 47 Abs. 4 AuG). Das Bundesgericht verwies auf die korrekte Darlegung der relevanten Rechtsprechung durch die Vorinstanz (insbesondere ATF 146 I 185 E. 7.1.1; ATF 133 II 6 E. 3.1.2), die besagt, dass solche Gründe vorliegen, wenn die Trennung für die Familie unzumutbar ist und insbesondere das Wohl des Kindes gefährdet wäre.
    • Beurteilung des Bundesgerichts: Die Vorinstanz hatte zu Recht entschieden, dass die vorgelegten Beweise nicht ausreichten, um zu belegen, dass die Überwachung durch den Vater das Ausmass an Zwang erreichte, das als psychische Gewalt zu werten wäre. Die Beschwerdeführerinnen konnten das Gegenteil nicht beweisen (vgl. dazu die Ausführungen unter Ziff. 3). Folglich verneinte das Bundesgericht das Vorliegen wichtiger familiärer Gründe unter diesem Gesichtspunkt.
    • Fehlende andere wichtige Gründe: Die Beschwerdeführerinnen machten keine anderen wichtigen familiären Gründe geltend, und solche ergaben sich auch nicht aus dem Sachverhalt. Im Gegenteil, das Bundesgericht stellte fest, dass die Beschwerdeführerinnen ihre gesamte Kindheit und Jugend in Algerien verbracht hatten und erst im Alter von 17 Jahren in die Schweiz kamen. Ihre soziokulturellen Bindungen befänden sich somit in Algerien, wo auch andere Familienmitglieder und Freunde leben. Die Anwendung von Art. 47 Abs. 4 AuG durch die Vorinstanz wurde daher als korrekt befunden.

4. Subsidiäre Verfassungsbeschwerde

  • Rüge der unmenschlichen Behandlung (Art. 3 EMRK und 25 Abs. 3 BV): Die Beschwerdeführerinnen machten geltend, ihre Wegweisung nach Algerien würde sie einer unmenschlichen Behandlung aussetzen. Sie beriefen sich darauf, Opfer häuslicher Gewalt durch ihren Vater in Algerien gewesen zu sein und unter seinen böswilligen Handlungen während des Scheidungsverfahrens gelitten zu haben, insbesondere unter seinem Eifer und seiner Haltung, die sie daran hindern sollte, Algerien zu verlassen. Eine Wegweisung würde sie unbestreitbar einer Gefahr für ihren psychologischen Zustand aussetzen.
  • Beurteilung des Bundesgerichts: Das Bundesgericht stellte fest, dass die Beschwerdeführerinnen sich auf die Situation bis September 2022 beschränkten, als sie noch minderjährig waren und im Haushalt ihres Vaters lebten. Sie erklärten jedoch in keiner Weise, inwiefern sie nun, da sie volljährig sind, immer noch einem ernsten und konkreten Risiko ausgesetzt wären, vom Vater einer durch Art. 3 EMRK und Art. 25 Abs. 3 BV verbotenen Behandlung unterworfen zu werden. Da die Rüge die erhöhten Begründungsanforderungen von Art. 106 Abs. 2 LTF (anwendbar gemäss Art. 117 LTF) nicht erfüllte, wurde sie nicht geprüft.
  • Fazit: Die subsidiären Verfassungsbeschwerden waren mangels zulässiger Rügen unzulässig.

Fazit und Schlussfolgerung Die Beschwerden in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten wurden als offensichtlich unbegründet abgewiesen. Die subsidiären Verfassungsbeschwerden wurden als unzulässig erklärt. Die Gerichtskosten wurden den Beschwerdeführerinnen solidarisch auferlegt.

Zusammenfassung der wesentlichen Punkte:

  • Verspätetes Familiennachzugsgesuch: Die Frist für den Familiennachzug (12 Monate für Kinder über 12 Jahre) begann mit der Einreise der Mutter in die Schweiz im Dezember 2019. Das Gesuch wurde im Dezember 2022 eingereicht und war damit klar verspätet. Die vom Vater ausgehenden Hindernisse im Scheidungsverfahren wurden vom Gericht nicht als Entschuldigung für die Fristversäumnis anerkannt, da die Mutter das Gesuch trotzdem hätte einreichen können.
  • Fehlen wichtiger familiärer Gründe (Art. 47 Abs. 4 AuG): Die von den Beschwerdeführerinnen geltend gemachte psychische Gewalt oder Zwang durch den Vater in Algerien wurde nicht in einem Ausmass nachgewiesen, das als "wichtiger familiärer Grund" für einen verspäteten Familiennachzug ausreichen würde. Das Bundesgericht betonte zudem, dass die soziokulturellen Bindungen der Schwestern aufgrund ihrer Kindheit und Jugend in Algerien dort verortet seien.
  • Kein Anspruch aus Art. 8 EMRK für Volljährige: Zum Zeitpunkt der Beschwerde an das Bundesgericht waren die Schwestern bereits volljährig. Da sie keine besondere Abhängigkeit von der Mutter geltend machten und keine übermässige Verfahrensdauer rügten, konnten sie keinen potenziellen Rechtsanspruch auf Familiennachzug aus Art. 8 EMRK ableiten. Das Alter der Kinder zum Zeitpunkt des Bundesgerichtsurteils ist hier massgebend.
  • Unzureichende Begründung zur unmenschlichen Behandlung (Art. 3 EMRK / Art. 25 Abs. 3 BV): Die Rüge der unmenschlichen Behandlung im Falle einer Wegweisung nach Algerien wurde als unzulässig erklärt, da die Beschwerdeführerinnen nicht detailliert darlegten, wie nach ihrer Volljährigkeit weiterhin ein ernsthaftes und konkretes Risiko einer solchen Behandlung durch den Vater in Algerien bestünde.
  • Abweisung der Rechtsmittel: Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten wurde abgewiesen, und die subsidiäre Verfassungsbeschwerde wurde als unzulässig erklärt.