Zusammenfassung von BGer-Urteil 2C_459/2024 vom 15. Juli 2025

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Gerne fasse ich das bereitgestellte Urteil des Schweizerischen Bundesgerichts (2C_459/2024 vom 15. Juli 2025) detailliert zusammen.

I. Einleitung

Das vorliegende Urteil des Schweizerischen Bundesgerichts befasst sich mit der Anwendung des Bundesgesetzes über den Binnenmarkt (BMG) im Kontext der Erteilung einer Betriebsbewilligung für eine Organisation für Hilfe und Pflege zu Hause. Der Kanton Waadt (Beschwerdeführer) wehrte sich gegen die Anordnung des Waadtländer Kantonsgerichts, der A.__ AG (Beschwerdegegnerin) eine solche Bewilligung auf Basis einer bereits im Kanton Zürich erteilten Bewilligung zu erteilen. Die Kernfrage war, ob die Vermutung der Äquivalenz kantonaler Vorschriften über den Marktzugang im Gesundheitsbereich widerlegt werden konnte.

II. Sachverhalt

  1. A.__ AG: Die A._ AG mit Sitz in U._ beschäftigt sogenannte "proches aidants" (nahestehende Personen/Familienangehörige), die ein Familienmitglied pflegen, wobei die Pflege mit Unterstützung einer diplomierten Pflegefachperson erfolgt und die "proches aidants" für ihre Grundpflegeleistungen entlohnt werden.
  2. Bewilligungshistorie: Die A.__ AG erhielt am 25. August 2020 eine Betriebsbewilligung für eine Organisation für Hilfe und Pflege zu Hause im Kanton Zürich. Anschliessend erteilten ihr sieben weitere Kantone (Deutsch- und Westschweiz) ähnliche Bewilligungen gestützt auf das Binnenmarktgesetz.
  3. Verfahren im Kanton Waadt: Nach Kontakten mit den Gesundheitsbehörden des Kantons Waadt lehnte das Departement für Gesundheit und soziale Massnahmen des Kantons Waadt (DSAS) den Antrag der A._ AG auf eine Betriebsbewilligung am 9. Oktober 2023 ab. Die Ablehnung war mit Auflagen verbunden (u.a. Betreuung der nahestehenden Personen durch Fachpersonal, eigene Räumlichkeiten im Kanton, Einhaltung der massgebenden Gesamtarbeitsverträge), die die A._ AG erfüllen müsste, um eine Bewilligung zu erhalten.

III. Vorinstanzliches Verfahren

Das Waadtländer Kantonsgericht, Cour de droit administratif et public, hiess die Beschwerde der A._ AG am 26. Juli 2024 gut und reformierte den Entscheid des Waadtländer DSAS. Es erteilte der A._ AG die beantragte Bewilligung. Das Kantonsgericht begründete seinen Entscheid damit, dass die A.__ AG bereits eine Bewilligung im Sitzkanton Zürich besass. Die Anforderungen der kantonalen Gesetze in Zürich und Waadt für die Erteilung einer solchen Bewilligung seien nicht hinreichend unterschiedlich, um die Vermutung der Äquivalenz der kantonalen Marktzugangsregelungen (gemäss Art. 2 Abs. 5 BMG) zu widerlegen. Dies habe zur Folge, dass der Kanton Waadt die beantragte Bewilligung erteilen müsse. Überdies – und dies als obiter dictum – hielt das Kantonsgericht fest, dass die vom DSAS auferlegten Auflagen ohnehin nicht mit Art. 3 BMG vereinbar wären.

IV. Verfahren vor Bundesgericht

Das Departement für Gesundheit und soziale Massnahmen des Kantons Waadt gelangte mit einer Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten und einer subsidiären Verfassungsbeschwerde an das Bundesgericht. Es beantragte die Aufhebung des kantonsgerichtlichen Urteils und die Rückweisung der Sache an die Vorinstanz zur Neubeurteilung im Sinne der Erwägungen. Die A.__ AG beantragte die Abweisung der Beschwerden. Die Wettbewerbskommission (Weko) schloss sich implizit der Abweisung an.

V. Erwägungen des Bundesgerichts

1. Zulässigkeit der Beschwerde (Parteifähigkeit des Kantons)

Das Bundesgericht befasste sich eingehend mit der Parteifähigkeit des Kantons Waadt. Grundsätzlich kann ein Kanton keine Verletzung seiner Autonomie (Art. 89 Abs. 2 lit. c BGG) gegenüber einem Urteil seiner eigenen gerichtlichen Instanz geltend machen. Der Kanton Waadt stützte seine Parteifähigkeit auf Art. 89 Abs. 1 BGG.

  • Vorgehen des Bundesgerichts: Eine öffentlich-rechtliche Körperschaft kann gemäss Art. 89 Abs. 1 BGG subsidiär ausnahmsweise beschwerdelegitimiert sein, wenn der angefochtene Entscheid sie in gleicher oder ähnlicher Weise wie eine Privatperson in ihren rechtlichen oder vermögensrechtlichen Interessen berührt oder wenn der angefochtene Akt ihre hoheitlichen Vorrechte in qualifizierter Weise beeinträchtigt und sie ein eigenes schutzwürdiges öffentliches Interesse an dessen Aufhebung oder Änderung hat. Ein blosses allgemeines Interesse an der korrekten Rechtsanwendung genügt hierfür nicht. Das Bundesgericht betonte, dass der Gesetzgeber bewusst darauf verzichtete, den Kantonsregierungen die Möglichkeit einzuräumen, Urteile ihrer eigenen obersten kantonalen Gerichte vor dem Bundesgericht anzufechten, um Streitigkeiten zwischen Exekutive und Justiz zu vermeiden.
  • Rechtsprechung und Präzedenzfälle: Das Bundesgericht verwies auf seine Rechtsprechung, die in Ausnahmefällen die Parteifähigkeit von Kantonen anerkennt, insbesondere im Kontext des BMG. So wurde in BGE 135 II 12 die Beschwerdelegitimation eines Kantons gegen einen Entscheid des Bundesverwaltungsgerichts bejaht, der einer Psychotherapeutin gestützt auf das BMG die Ausübung ihrer selbständigen Tätigkeit bewilligte, da der Entscheid Präzedenzwirkung hatte und wichtige öffentliche Gesundheitsinteressen berührte. Ähnlich entschied das Bundesgericht in den Urteilen 2C_844/2008 (Therapeut) und 2C_605/2023 (Überwachungspflichten von Ärzten).
  • Anwendung auf den vorliegenden Fall: Das Bundesgericht befand, dass das angefochtene Urteil nicht nur den Einzelfall betrifft, sondern den Kanton Waadt verpflichtet, der Beschwerdegegnerin eine Bewilligung zu erteilen, welche auf den zürcherischen Bedingungen und einer anderen Gesundheitspolitik basiert und gemäss dem Kanton Waadt dessen kantonales Recht verletzt. Dies bedeute, dass der Kanton Waadt künftig Bewilligungen für alle Organisationen erteilen müsste, die bereits eine Bewilligung in Zürich oder anderen Kantonen besitzen, ohne die Erfüllung der waadtländischen Bewilligungsbedingungen prüfen zu können. Dies berühre die hoheitlichen Interessen des Kantons in qualifizierter Weise, da die Entscheidung Präzedenzwirkung für die Erfüllung einer öffentlichen Aufgabe im Bereich der öffentlichen Gesundheit und Gesundheitspolitik habe und die Anwendung von Bundesrecht (BMG) im Streit stehe. Daher wurde die Parteifähigkeit des Kantons Waadt ausnahmsweise anerkannt. Die Beschwerde des Departementschefs, welcher selbst keine Rechtspersönlichkeit besitzt, war zulässig, da eine ausdrückliche Ermächtigung des Waadtländer Staatsrats vorlag.

2. Sachliche Prüfung: Anwendung des Binnenmarktgesetzes (BMG)

Der Hauptstreitpunkt betraf die Auslegung und Anwendung von Art. 2 Abs. 5 BMG, der die Vermutung der Äquivalenz kantonaler Regelungen statuiert.

  • Grundlagen des BMG:
    • Das BMG (Art. 1 Abs. 1 BMG) gewährleistet den freien und diskriminierungsfreien Marktzugang für Personen mit Sitz oder Niederlassung in der Schweiz. Es handelt sich um ein Rahmengesetz, das auf dem Herkunftsprinzip basiert und dem innerstaatlichen Markt Vorrang vor kantonalen Marktzugangsnormen einräumt (Art. 49 BV).
    • Das BMG ist im Gesundheitsbereich anwendbar, einschliesslich der Hilfe und Pflege zu Hause (unter Verweis auf BGE 9C_176/2016). Es gibt keine eidgenössische Gesetzgebung für Organisationen der Hilfe und Pflege zu Hause; die Kantone legen die Zugangsbedingungen fest (im Kanton Waadt die ROSAD).
  • Die Vermutung der Äquivalenz (Art. 2 Abs. 5 BMG):
    • Das BMG vermutet die Äquivalenz kantonaler Marktzugangsregelungen. Die Beweislast für die Widerlegung dieser Vermutung liegt bei der Behörde des Bestimmungskantons.
    • Für die Widerlegung ist ein Vergleich der allgemeinen und abstrakten Zugangsregeln beider Kantone sowie der daraus resultierenden Praxis erforderlich, wobei die zu schützenden öffentlichen Interessen zu berücksichtigen sind (BGE 135 II 12). Dabei ist der konkrete Fall nicht zu prüfen.
    • Die blosse Tatsache, dass die Bewilligungsbedingungen im Bestimmungskanton unterschiedlich oder strenger sind, führt nicht automatisch zur Widerlegung der Äquivalenzvermutung. Die Anforderungen für eine Widerlegung sind hoch (unter Verweis auf Lehre und Rechtsprechung, z.B. BGE 135 II 12).
    • Ist die Vermutung nicht widerlegt, muss der Marktzugang gewährt werden, da der Schutz öffentlicher Interessen als durch die Regelungen des Herkunftsortes gewährleistet gilt (Art. 3 Abs. 2 lit. a BMG). Einschränkungen nach Art. 3 BMG sind dann ausgeschlossen.
    • Wirtschaftspolitische Überlegungen können keine überwiegenden öffentlichen Interessen zur Rechtfertigung einer Marktzugangsbeschränkung darstellen.
  • Anwendung im vorliegenden Fall:
    • Das Bundesgericht stellte fest, dass die A.__ AG über eine gültige Bewilligung im Herkunftskanton Zürich verfügt und diese für die Ausübung ihrer Tätigkeit im Kanton Waadt geltend macht. Dies fällt in den Anwendungsbereich des BMG.
    • Der Kanton Waadt versuchte, die Äquivalenzvermutung mit sehr allgemeinen Argumenten zu widerlegen. Er führte an, dass der Kanton Zürich stärker auf stationäre Pflege fokussiert sei und weniger restriktive Bedingungen habe, während die Gesundheitspolitik des Kantons Waadt auf die häusliche Pflege ausgerichtet sei und daher höhere Anforderungen an die Qualität, Sicherheit der Pflege sowie den Arbeitnehmerschutz (insbesondere durch einen Gesamtarbeitsvertrag) stelle, die im Zürcher Recht nicht zu finden seien.
    • Das Bundesgericht befand diese Argumentation als nicht ausreichend detailliert und präzise. Der Kanton Waadt habe es versäumt, die einschlägigen Bestimmungen beider Kantone vollständig darzulegen, zu analysieren, zu vergleichen und die etablierte Praxis einzubeziehen. Es habe nicht schlüssig dargelegt, inwiefern die öffentliche Gesundheit durch die Zürcher Regelung im Vergleich zur Waadtländer Regelung zweifelsfrei weniger geschützt wäre. Insbesondere konnte der Kanton Waadt nicht nachweisen, dass die Zürcher Regelungen in Bezug auf die Arbeitsbedingungen der "proches aidants" zu einem deutlich niedrigeren Schutzniveau führen würden.
    • Die vom Waadtländer Kantonsgericht vorgenommene Feststellung, dass die Anforderungsniveaus der beiden Kantone nicht so unterschiedlich seien, dass die Äquivalenzvermutung widerlegt werden könnte, wurde vom Bundesgericht bestätigt.
    • Das Bundesgericht erinnerte daran, dass das BMG zu einer Lockerung der Bedingungen für die Ausübung bestimmter Berufe führen kann, indem es eine Harmonisierung mit den weniger strengen Kantonsbedingungen erzwingt oder zumindest fördert, was dem Willen des Gesetzgebers entspricht.
    • Wirtschaftspolitische Überlegungen, wie die vom Beschwerdeführer angeführte Lukrativität des Marktes für die nahestehenden Personen, sind für die Rechtfertigung von Marktzugangsbeschränkungen nicht massgebend.

3. Weitere Rügen

  • Willkür: Die Rüge der Willkür (Art. 9 BV) hatte keine eigenständige Bedeutung, da sie sich mit der bereits geprüften Verletzung von Art. 2 Abs. 5 BMG überschnitt und daher unbegründet war.
  • Negativer Ermessensmissbrauch: Der Vorwurf, das Kantonsgericht habe sein Ermessen nicht ausgeübt, wurde vom Bundesgericht nicht behandelt, da der Beschwerdeführer keine kantonale Bestimmung zitierte, die dieses Ermessen definiert, und keine willkürliche Anwendung des kantonalen Rechts rügte.

VI. Ergebnis des Verfahrens

Das Bundesgericht wies die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten des Kantons Waadt ab. Die subsidiäre Verfassungsbeschwerde wurde als unzulässig erklärt. Dem Kanton Waadt wurden keine Gerichtskosten auferlegt (da er in Ausübung seiner amtlichen Befugnisse und ohne eigenes Vermögensinteresse handelte), er wurde jedoch zur Zahlung einer Parteientschädigung an die A.__ AG verpflichtet.

VII. Zusammenfassung der wesentlichen Punkte

  • Anwendbarkeit des BMG: Das Binnenmarktgesetz ist auf die Erteilung von Betriebsbewilligungen für Organisationen für Hilfe und Pflege zu Hause anwendbar.
  • Herkunftsprinzip und Äquivalenzvermutung: Eine in einem Kanton rechtmässig erworbene Bewilligung (im Herkunftskanton) führt zur Vermutung, dass die Regelungen des Herkunftskantons den Anforderungen des Bestimmungskantons äquivalent sind (Art. 2 Abs. 5 BMG).
  • Hohe Hürden zur Widerlegung: Die Widerlegung der Äquivalenzvermutung durch den Bestimmungskanton unterliegt hohen Anforderungen. Die blosse Tatsache, dass die Bedingungen im Bestimmungskanton strenger sind, genügt nicht. Es muss nachgewiesen werden, dass der Schutz eines überwiegenden öffentlichen Interesses im Herkunftskanton fehlt oder deutlich geringer ist.
  • Mangelnde Substantiierung durch Waadt: Der Kanton Waadt konnte die Äquivalenzvermutung nicht widerlegen, da seine Argumentation zu den Unterschieden zwischen den kantonalen Regelungen zu allgemein gehalten war und keinen detaillierten Vergleich der Bewilligungsbedingungen und ihrer tatsächlichen Anwendung umfasste.
  • Keine wirtschaftspolitischen Gründe: Wirtschaftspolitische Überlegungen können keine Beschränkungen des Marktzugangs im Sinne des BMG rechtfertigen.
  • Aussergewöhnliche Parteifähigkeit des Kantons: Die Beschwerdelegitimation des Kantons wurde ausnahmsweise anerkannt, da das Urteil Präzedenzwirkung hat und die hoheitlichen Interessen des Kantons in Bezug auf die öffentliche Gesundheitspolitik qualifiziert beeinträchtigt.
  • Rechtliche Konsequenz: Da die Äquivalenzvermutung nicht widerlegt wurde, durfte der Kanton Waadt der A.__ AG die Bewilligung nicht verweigern und durfte ihr auch keine zusätzlichen Auflagen gemäss Art. 3 BMG auferlegen.