Zusammenfassung von BGer-Urteil 2C_472/2024 vom 18. Juli 2025

Es handelt sich um ein experimentelles Feature. Es besteht keine Gewähr für die Richtigkeit der Zusammenfassung.

Im vorliegenden Urteil 2C_472/2024 vom 18. Juli 2025 hatte das Schweizerische Bundesgericht über die Verweigerung der unentgeltlichen Prozessführung durch das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau zu befinden. Der Beschwerdeführer, ein italienischer Staatsangehöriger, beantragte die Erneuerung seiner Kurzaufenthaltsbewilligung EU/EFTA und stellte im kantonalen Verfahren ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Rechtsverbeiständung.

1. Sachverhalt und Verfahrensgeschichte

A._ (geb. 1956), italienischer Staatsangehöriger, reiste 1963 mit seinen Eltern in die Schweiz ein, absolvierte dort seine Ausbildung und lebte bis 1985 im Land. Nach einem Aufenthalt in Deutschland kehrte er 2005 in die Schweiz zurück und erhielt eine Kurzaufenthaltsbewilligung EU/EFTA, die seither stets verlängert wurde, jedoch keine ordentliche Aufenthaltsbewilligung. Seine Ehe wurde 2007 geschieden, und 2008 wurde er Vater eines Sohnes. Seit 2007 bezog A._ Sozialhilfeleistungen. Nach einem Unfall im Dezember 2017 erhielt er Krankentaggelder und nachfolgend Arbeitslosenentschädigung. Seit April 2022 bezieht er eine AHV-Rente und Ergänzungsleistungen.

Das Migrationsamt des Kantons Thurgau verweigerte am 13. März 2023 die Erneuerung seiner Kurzaufenthaltsbewilligung und verfügte seine Wegweisung. Ein dagegen gerichteter Rekurs an das Departement für Justiz und Sicherheit des Kantons Thurgau blieb erfolglos. A.__ reichte daraufhin Beschwerde beim Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau ein und beantragte die Erneuerung seiner Bewilligung bzw. die Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung sowie die Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege und Rechtsverbeiständung.

Das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau wies mit Entscheid vom 4. September 2024 das Gesuch um unentgeltliche Prozessführung mangels Bedürftigkeit ab und forderte A._ auf, einen Kostenvorschuss von Fr. 2'000.-- zu bezahlen, andernfalls nicht auf seine Beschwerde eingetreten werde. Gegen diesen Entscheid erhob A._ Beschwerde beim Bundesgericht.

2. Rechtliche Würdigung durch das Bundesgericht

2.1. Zulässigkeit der Beschwerde Das Bundesgericht prüfte zunächst die Zulässigkeit der Beschwerde. Es stellte fest, dass der angefochtene Entscheid des Verwaltungsgerichts, der die unentgeltliche Rechtspflege verweigert und einen Kostenvorschuss androht, einen Zwischenentscheid darstellt, der einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil bewirken kann (Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG). Dies ist der Fall, da bei Nichtbezahlung des Vorschusses auf die Hauptsachebeschwerde nicht eingetreten würde. Obwohl im Ausländerrecht die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten gegen Bewilligungsentscheide, auf die weder Bundes- noch Völkerrecht einen Anspruch einräumen, ausgeschlossen ist (Art. 83 lit. c Ziff. 2 BGG), kann sich der Beschwerdeführer als italienischer Staatsangehöriger in vertretbarer Weise auf einen potenziellen Aufenthaltsanspruch gestützt auf das Freizügigkeitsabkommen (FZA) berufen. Daher war die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten im vorliegenden Fall zulässig.

2.2. Massgebende Rechtsgrundlagen für die unentgeltliche Prozessführung Der Anspruch auf unentgeltliche Prozessführung und Rechtsbeistand ergibt sich aus Art. 29 Abs. 3 BV als verfassungsrechtliche Minimalgarantie. Voraussetzung dafür ist, dass die gesuchstellende Partei bedürftig ist und ihre Rechtsbegehren nicht als aussichtslos erscheinen. Im vorliegenden Fall hatte sich das Verwaltungsgericht ausschliesslich zur Frage der Bedürftigkeit geäussert, nicht aber zu den Erfolgsaussichten. Das Bundesgericht beschränkte seine Prüfung daher auf die Frage der Bedürftigkeit.

2.3. Definition und Prüfung der Bedürftigkeit Bedürftig ist eine Partei, die die Prozess- und Parteikosten nur bezahlen könnte, indem sie Mittel beansprucht, die zur Deckung ihres Grundbedarfs für sich und ihre Familie notwendig sind. Das Bundesgericht prüft die Kriterien zur Bestimmung der Bedürftigkeit frei, während die Sachverhaltsfeststellungen der kantonalen Behörde auf Willkür hin überprüft werden. Bei der Ermittlung der Bedürftigkeit muss die gesamte wirtschaftliche Situation der Partei im Zeitpunkt der Gesuchseinreichung berücksichtigt werden. Der Teil der finanziellen Mittel, der über den Grundbedarf hinausgeht (verfügbarer Betrag), sollte es ermöglichen, die Prozess- und Anwaltskosten bei weniger aufwändigen Prozessen innert eines Jahres, bei anderen innert zweier Jahre zu tilgen. Bei der Festlegung des Notbedarfs darf zwar vom betreibungsrechtlichen Existenzminimum ausgegangen werden, jedoch müssen auch individuelle Umstände berücksichtigt werden. Gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung ist zudem ein prozessualer Bedürftigkeitszuschlag von 25% des Grundbetrages zu berücksichtigen.

2.4. Analyse der kantonalen Berechnung und der Rügen des Beschwerdeführers Das Verwaltungsgericht hatte anrechenbare monatliche Einnahmen von Fr. 3'413.60 festgestellt. Bei den Ausgaben berücksichtigte es einen Grundbetrag von Fr. 1'200.--, Kosten für die obligatorische Krankenversicherung von Fr. 437.25 und Wohnkosten von Fr. 1'300.--, was zu Gesamtausgaben von Fr. 2'937.25 und einem verfügbaren Betrag von Fr. 476.35 führte.

Der Beschwerdeführer rügte, dass Kosten für seinen Kleinwagen (Motorfahrzeugversicherung, Verkehrssteuern, Garagenmiete, Benzinkosten), weitere Versicherungen (Rechtsschutz, Privathaftpflicht, VVG-Spitalzusatzversicherung), Kosten für zahnärztliche Kontrolle/Dentalhygiene sowie Selbstbehalte der Versicherungen nicht berücksichtigt worden seien.

Das Bundesgericht wies die meisten dieser Rügen zurück: * Kosten für Kleidung, Gesundheitspflege (übliche Zahnarztkosten), Privatversicherungen, Geschenke und Freizeitgestaltung sind bereits im Grundbetrag enthalten. * Autokosten sind nur zu berücksichtigen, wenn sie als unumgängliche Berufsauslagen qualifiziert werden könnten, was hier nicht der Fall war. * Ein erstmals im Bundesgerichtsverfahren geltend gemachtes Privatdarlehen war mangels Substantiierung nicht zu berücksichtigen.

2.5. Massgebliche Fehler der Vorinstanz und neue Berechnung Das Bundesgericht identifizierte jedoch zwei wesentliche Fehler in der Berechnung der Vorinstanz: 1. Die Vorinstanz hatte es unterlassen, einen prozessualen Bedürftigkeitszuschlag von 25% auf dem Grundbetrag von Fr. 1'200.-- zu gewähren, was monatlich Fr. 300.-- ausmacht. 2. Angesichts der unbestrittenermassen angeschlagenen Gesundheit des Beschwerdeführers hätte auch sein Jahresfranchise/Selbstbehalt bei der obligatorischen Krankenpflegeversicherung von Fr. 300.--, d.h. monatlich Fr. 25.--, als zusätzliche Ausgabe berücksichtigt werden müssen.

Mit diesen Korrekturen erhöhen sich die monatlichen Ausgaben des Beschwerdeführers um Fr. 325.-- auf Fr. 3'262.25. Der korrigierte verfügbare Betrag beläuft sich somit auf monatlich Fr. 151.35 (Fr. 3'413.60 Einnahmen - Fr. 3'262.25 Ausgaben).

2.6. Schlussfolgerung zur Bedürftigkeit Basierend auf dem korrigierten verfügbaren Betrag von Fr. 151.35 pro Monat prüfte das Bundesgericht, ob der Beschwerdeführer die mutmasslichen Prozesskosten von angenommen Fr. 4'500.-- (Anwaltskosten ca. Fr. 2'500.-- und Gerichtskosten Fr. 2'000.--) innert Jahresfrist tilgen könnte. Mit seinem verfügbaren Betrag könnte er innerhalb eines Jahres lediglich Fr. 1'816.20 aufbringen (12 x Fr. 151.35). Es verbliebe ein Fehlbetrag von Fr. 2'683.80. Dies bedeutet, dass der Beschwerdeführer in Mittel eingreifen müsste, die zur Deckung seiner persönlichen Bedürfnisse notwendig sind.

Das Bundesgericht gelangte somit zum Schluss, dass der Beschwerdeführer im Hinblick auf die unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung als bedürftig zu qualifizieren ist. Die vorinstanzliche Berechnung des verfügbaren Betrages verletzte Art. 29 Abs. 3 BV und war somit bundesrechtswidrig.

3. Entscheid und Rückweisung

Die Beschwerde wurde gutgeheissen und der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau vom 4. September 2024 aufgehoben. Die Angelegenheit wurde zur neuen Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen. Das Bundesgericht wies darauf hin, dass die Vorinstanz nun über die Aussichtslosigkeit der Rechtsbegehren des Beschwerdeführers zu befinden hat, da diese Voraussetzung für die Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung bisher nicht geprüft wurde.

4. Kurze Zusammenfassung der wesentlichen Punkte

Das Bundesgericht hat im Urteil 2C_472/2024 vom 18. Juli 2025 die Verweigerung der unentgeltlichen Prozessführung durch das Thurgauer Verwaltungsgericht aufgehoben. Die zentrale Begründung lag in der fehlerhaften Berechnung der Bedürftigkeit des Beschwerdeführers. Die Vorinstanz hatte es versäumt, den gesetzlich vorgeschriebenen prozessualen Bedürftigkeitszuschlag von 25% auf dem Grundbetrag sowie die monatliche Anrechnung der Jahresfranchise der Krankenversicherung zu berücksichtigen. Nach Korrektur dieser Fehler wurde festgestellt, dass der Beschwerdeführer als bedürftig gilt, da er die anfallenden Prozesskosten nicht ohne Beeinträchtigung seines Existenzminimums tragen kann. Das Bundesgericht weist den Fall an die Vorinstanz zurück, um nun die zweite Voraussetzung für unentgeltliche Rechtspflege, die fehlende Aussichtslosigkeit des Hauptverfahrens, zu prüfen. Das Urteil unterstreicht die strikte Anwendung der Kriterien für die prozessuale Bedürftigkeit gemäss Art. 29 Abs. 3 BV und der hierzu ergangenen bundesgerichtlichen Rechtsprechung, insbesondere hinsichtlich des Bedürftigkeitszuschlags.