Zusammenfassung von BGer-Urteil 6B_49/2024 vom 19. Juni 2025

Es handelt sich um ein experimentelles Feature. Es besteht keine Gewähr für die Richtigkeit der Zusammenfassung.

Das vorliegende Urteil des Schweizerischen Bundesgerichts (BGE 6B_49/2024 vom 19. Juni 2025) befasst sich hauptsächlich mit zwei Kernpunkten: der Willkürrüge bezüglich der Beweiswürdigung im Zusammenhang mit dem Schuldspruch des Menschenhandels und der Frage der Anordnung einer fakultativen Landesverweisung unter Berücksichtigung des strafrechtlichen Rückwirkungsverbots.

I. Sachverhalt und Vorinstanzliche Entscheidungen

A._ (Beschwerdeführer) wurde vorgeworfen, zwischen Januar und Juni 2015 mit der kosovarischen Staatsangehörigen B._ (Beschwerdegegnerin 2) Handel zum Zweck der Ausbeutung der Arbeitskraft und sexuellen Ausbeutung getrieben zu haben. Er soll ihr eine Arbeitsstelle im Gastrobereich in der Schweiz versprochen, ihre Reise organisiert und sie anschliessend in der Schweiz als Serviceangestellte, Tänzerin und Sexarbeiterin ausgebeutet haben, indem er ihr die Einnahmen abnahm bzw. fixe Beträge forderte. Weitere Vorwürfe umfassten die Förderung der Prostitution, die Förderung der rechtswidrigen Ein-, Ausreise oder des rechtswidrigen Aufenthalts in Bereicherungsabsicht sowie die Förderung der Erwerbstätigkeit ohne Bewilligung in Bereicherungsabsicht.

Das erstinstanzliche Amtsgericht von Thal-Gäu sprach A.__ vom Vorwurf des Menschenhandels und der Förderung der Prostitution frei, verurteilte ihn aber wegen Pornografie, Förderung der rechtswidrigen Einreise und des rechtswidrigen Aufenthalts sowie der Förderung der Erwerbstätigkeit ohne Bewilligung zu einer bedingten Geldstrafe und ordnete keine Landesverweisung an.

Auf Berufung der Staatsanwaltschaft hin sprach das Obergericht des Kantons Solothurn A.__ des Menschenhandels, der Förderung der rechtswidrigen Einreise und des rechtswidrigen Aufenthalts mit Bereicherungsabsicht sowie der Förderung der Erwerbstätigkeit ohne Bewilligung mit Bereicherungsabsicht schuldig. Es verurteilte ihn zu einer teilbedingten Freiheitsstrafe von 26 Monaten und einer bedingten Geldstrafe. Zudem ordnete es eine Landesverweisung für die Dauer von 3 Jahren an und deren Ausschreibung im Schengener Informationssystem (SIS).

II. Die Beschwerde an das Bundesgericht

A.__ beantragte vor Bundesgericht die Aufhebung des obergerichtlichen Urteils, den Freispruch vom Vorwurf des Menschenhandels, eine niedrigere Geldstrafe und den Verzicht auf die Landesverweisung.

III. Detaillierte Begründung des Bundesgerichts

1. Rüge der willkürlichen Beweiswürdigung und des Grundsatzes "in dubio pro reo"

Der Beschwerdeführer rügte eine willkürliche Beweiswürdigung und die Verletzung des Grundsatzes "in dubio pro reo". Er machte geltend, die Aussagen der Beschwerdegegnerin 2 seien nicht glaubhaft und die Vorinstanz habe Unstimmigkeiten und Widersprüche nicht ausreichend gewürdigt. Er bemängelte zudem das Fehlen objektiver Beweise für sein strafbares Verhalten und die mangelhafte Befragung von Belastungszeugen.

  • Begründung der Vorinstanz: Die Vorinstanz nahm eine umfassende Beweiswürdigung vor. Sie beurteilte die Aussagen der Beschwerdegegnerin 2 als sehr ausführlich, weitestgehend konstant und mit zahlreichen Namen- und Ortsangaben sowie detaillierten Beschreibungen versehen. Viele Angaben konnten durch Handyfotos verifiziert werden. Widersprüche und Erinnerungslücken wurden als erwartbar und nicht entscheidend für die Glaubwürdigkeit erachtet. Die Darstellung der Geschehnisse sei nachvollziehbar und plausibel; die Beschwerdegegnerin 2 habe sich mit ihren Aussagen teilweise selbst belastet, und es gebe keine Anzeichen für falsche Anschuldigungen. Die Vorinstanz identifizierte unzählige "Realkennzeichen" in ihren Aussagen. Demgegenüber beurteilte die Vorinstanz die Aussagen des Beschwerdeführers als wenig glaubhaft, da er sich weitestgehend auf das Bestreiten beschränkt und die Beschwerdegegnerin 2 als Lügnerin bezeichnet habe, ohne plausible Gründe für solche Falschbelastungen zu nennen. Seine mangelnde Kooperationsbereitschaft (Weigerung, PIN-Codes für Handy/Laptop preiszugeben) und frühzeitige Widersprüche in seinen eigenen Aussagen wurden ebenfalls als Indizien für Unglaubhaftigkeit gewertet. Auch bezüglich spezifischer Sachverhaltselemente (erstes Zusammentreffen in Wien, Anstellung im Restaurant, Wechsel in den Kanton Jura) befand die Vorinstanz die Aussagen der Beschwerdegegnerin 2 als glaubhafter und durch Zeugenaussagen (C._, D._, E.__) gestützt. Die Vorinstanz setzte sich schliesslich ausführlich mit der gegenteiligen Argumentation der ersten Instanz auseinander und kam zum Schluss, der angeklagte Sachverhalt sei rechtsgenüglich nachgewiesen.

  • Würdigung durch das Bundesgericht: Das Bundesgericht verwies auf die qualifizierten Rügeanforderungen für die Anfechtung des Sachverhalts wegen Willkür (Art. 106 Abs. 2 BGG). Willkür liege nur vor, wenn die vorinstanzliche Beweiswürdigung schlechterdings unhaltbar sei, d.h., wenn sie in klarem Widerspruch zur tatsächlichen Situation stehe oder auf einem offenkundigen Fehler beruhe. Dass eine andere Lösung ebenfalls möglich erscheine, genüge nicht. Der Entscheid müsse im Ergebnis willkürlich sein. Dem Grundsatz "in dubio pro reo" komme als Beweiswürdigungsregel im Verfahren vor Bundesgericht keine über das Willkürverbot von Art. 9 BV hinausgehende Bedeutung zu. Das Bundesgericht befand, die Ausführungen des Beschwerdeführers erschöpften sich grösstenteils in rein appellatorischer Kritik, indem er lediglich seine eigene Sicht der Dinge darlegte und die vorinstanzlichen Erwägungen nicht substanziiert angriff. Er habe weder begründet geltend gemacht noch sei ersichtlich, inwiefern die Vorinstanz zu Unrecht von der Glaubhaftigkeit der Aussagen der Beschwerdegegnerin 2 ausgegangen sei. Sein Argument "Aussage gegen Aussage" sei unbehelflich, da die Vorinstanz die Glaubhaftigkeit der Aussagen der Beschwerdegegnerin 2 nachvollziehbar begründet habe. Das Bundesgericht erinnerte daran, dass es keine Berufungsinstanz sei, die eine freie Prüfung in tatsächlicher Hinsicht vornehme. Die Rüge der Willkür und der Verletzung des Grundsatzes "in dubio pro reo" wurde daher als unbegründet abgewiesen, soweit überhaupt darauf einzutreten war.

2. Rüge der fakultativen Landesverweisung (Art. 66a bis StGB)

Der Beschwerdeführer wendete sich gegen die angeordnete fakultative Landesverweisung. Er argumentierte, die Bestimmungen zur Landesverweisung (Art. 66a ff. StGB) seien am 1. Oktober 2016 in Kraft getreten. Die meisten ihm zur Last gelegten Taten (insbesondere Menschenhandel) seien jedoch vor diesem Datum (Januar-Juni 2015) begangen worden. Lediglich der Schuldspruch wegen Pornografie (22. Oktober 2017) sei nach Inkrafttreten der Norm erfolgt, wobei es sich hierbei um eine "Lappalie" handle. Er berief sich auf das strafrechtliche Rückwirkungsverbot und bezeichnete die bundesgerichtliche Rechtsprechung, wonach frühere Straftaten zu berücksichtigen seien, als nicht haltbar und rechtswidrig.

  • Begründung der Vorinstanz: Die Vorinstanz anerkannte das Spannungsverhältnis zum strafrechtlichen Rückwirkungsverbot, verwies jedoch auf die klare bundesgerichtliche Rechtsprechung: Bei der Frage der fakultativen Landesverweisung sei eine Gesamtbetrachtung des deliktischen Verhaltens bis zum angefochtenen Urteil massgebend. Die Landesverweisung solle gerade in Fällen wiederholter Gesetzesverstösse, auch von geringerer Schwere, zur Anwendung kommen. Die Vorinstanz führte eine umfassende Interessenabwägung durch:

    • Private Interessen des Beschwerdeführers: Er sei 1990 im Alter von 16 Jahren in die Schweiz gekommen, lebe seit 33 Jahren hier und verfüge über eine Niederlassungsbewilligung. Er habe eine Familie, darunter zwei erwachsene Schweizer Kinder, lebe mit seiner Ehefrau, seinem Vater und einem gesundheitlich beeinträchtigten Sohn.
    • Öffentliche Interessen an der Landesverweisung: Trotz des leichten Verschuldens beim Anlassdelikt der Pornografie zeige sich ein ungünstiges Gesamtbild der Delinquenz. Er wurde bereits 2005 (Körperverletzung), 2006 (Diebstahl, Sachbeschädigung, Hausfriedensbruch) und 2013 (einfache Körperverletzung) verurteilt. Die aktuelle Verurteilung wegen Menschenhandels sei eine weitere schwerwiegende Straftat. Die Vorinstanz stellte fest, dass der Beschwerdeführer damit mehrfach schwerwiegende Straftaten, darunter körperliche Gewalt und zwei (heutige) Katalogdelikte (Einbruchdiebstahl, Menschenhandel) für eine obligatorische Landesverweisung, begangen habe. Er gehöre zur Kategorie von Straftätern, für die die nicht obligatorische Landesverweisung nach dem Willen des Gesetzgebers zur Anwendung kommen solle. Hinzu kam eine fremdenpolizeiliche Verwarnung aus dem Jahr 2010.
    • Soziale und wirtschaftliche Integration: Der Beschwerdeführer beziehe seit 2005 Sozialhilfe (über Fr. 700'000.--), sei seit 2002 nicht mehr erwerbstätig und habe Schulden. Er sei weder beruflich noch sozial integriert, bewege sich ausschliesslich im Umfeld kosovarischer Landsleute. Er besitze ein Haus im Kosovo, wo seine Geschwister und die Familie der Ehefrau lebten, was eine Eingliederung dort eher ermögliche. Persönlicher Kontakt mit Angehörigen sei durch moderne Kommunikationsmittel, soziale Medien und Besuche gewährleistet. Die familiäre und gesundheitliche Situation stehe einer Landesverweisung nicht entgegen. Insgesamt gewichtete die Vorinstanz die öffentlichen Interessen höher als die privaten.
  • Würdigung durch das Bundesgericht: Das Bundesgericht bestätigte die Rechtsgrundlage der fakultativen Landesverweisung (Art. 66a bis StGB) und betonte das Erfordernis der Verhältnismässigkeit gemäss Art. 5 Abs. 2 und Art. 36 Abs. 2 und 3 BV sowie Art. 8 Ziff. 2 EMRK. Bei der Verhältnismässigkeitsprüfung seien Art und Schwere des Verschuldens, verstrichene Zeit, bisheriges Verhalten, Dauer des Aufenthalts und Intensität der Bindungen im In- und Ausland zu berücksichtigen. Es gebe keine Mindeststrafhöhe; die Norm sei gerade für wiederholte Delinquenz von geringerer Schwere konzipiert. Das Bundesgericht wies das Argument des Beschwerdeführers, das Rückwirkungsverbot sei verletzt, zurück. Es hob hervor, dass für die Interessenabwägung eine Gesamtbetrachtung des deliktischen Verhaltens bis zum angefochtenen Urteil massgebend sei. Dies bedeute, dass die Vorinstanz zu Recht auch Taten berücksichtigen durfte und musste, die vor dem Inkrafttreten von Art. 66a ff. StGB am 1. Oktober 2016 begangen wurden. Diese Gesamtbetrachtung zeige ein nicht zu bagatellisierendes deliktisches Verhalten in der Vergangenheit, einschliesslich schwerwiegender Gewaltverbrechen und solcher, die heute als Katalogtaten für eine obligatorische Landesverweisung gelten würden. Damit gehöre der Beschwerdeführer zur vom Gesetzgeber anvisierten Kategorie von Straftätern, für die eine nicht obligatorische Landesverweisung in Betracht gezogen werden soll, da er eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstelle. Da der Beschwerdeführer sich ausser der Rüge des Rückwirkungsverbots nicht begründet mit der umfassenden und nachvollziehbaren Interessenabwägung der Vorinstanz auseinandergesetzt habe, sei die Beschwerde auch hinsichtlich der Landesverweisung abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden konnte.

IV. Fazit

Die Beschwerde wurde abgewiesen, soweit darauf einzutreten war.

V. Kurze Zusammenfassung der wesentlichen Punkte

Das Bundesgericht bestätigte den Schuldspruch des Menschenhandels, indem es die vorinstanzliche Beweiswürdigung als nicht willkürlich befand. Es bekräftigte, dass die detaillierten und konsistenten Aussagen der geschädigten Person als glaubhaft gewürdigt werden durften, während die Aussagen des Beschwerdeführers als unglaubhaft galten. Die Rüge "in dubio pro reo" wurde als über das Willkürverbot hinausgehende eigenständige Rüge im bundesgerichtlichen Verfahren verworfen.

Hinsichtlich der fakultativen Landesverweisung stellte das Bundesgericht klar, dass das strafrechtliche Rückwirkungsverbot nicht verletzt wird, wenn bei der Interessenabwägung die gesamte Delinquenz eines Straftäters berücksichtigt wird, selbst wenn einzelne Straftaten vor dem Inkrafttreten der Norm Art. 66a bis StGB begangen wurden. Entscheidend sei eine Gesamtbetrachtung des deliktischen Verhaltens bis zum angefochtenen Urteil. Die Vorinstanz habe zu Recht gewichtige öffentliche Interessen an der Landesverweisung des Beschwerdeführers bejaht, insbesondere aufgrund seiner wiederholten und schwerwiegenden Vorstrafen, einschliesslich solcher, die heute als Katalogtaten gelten würden, sowie seiner mangelnden sozialen und wirtschaftlichen Integration in der Schweiz.