Zusammenfassung von BGer-Urteil 8C_25/2025 vom 8. Juli 2025

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Das vorliegende Urteil des Schweizerischen Bundesgerichts (8C_25/2025 vom 8. Juli 2025) befasst sich mit einem Revisionsbegehren im Bereich der Unfallversicherung. Im Zentrum steht die Frage, unter welchen Voraussetzungen eine formell rechtskräftige Verfügung gemäss Art. 53 Abs. 1 des Bundesgesetzes über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) revidiert werden kann.

1. Sachverhalt und Prozessgeschichte

A.__, geboren 1970 und als Kassiererin tätig, erlitt am 24. Februar 2017 einen Verkehrsunfall auf ihrem Scooter, bei dem sie auf die rechte Seite fiel. Ihre Unfallversicherung SWICA übernahm den Fall zunächst.

Im Februar 2019 stellte ein orthopädischer Chirurg eine Tendinopathie des rechten Ellbogens fest. Nach einer Analyse des Dossiers durch einen von SWICA beauftragten Orthopäden (Dr. D.__), der im Januar 2021 zum Schluss kam, dass drei Monate nach dem Unfall ein «statu quo sine» erreicht sei und keine strukturellen Läsionen vorlägen, verweigerte SWICA mit Verfügung vom 25. Januar 2021 (bestätigt am 7. November 2023 nach Einsprache) weitere Leistungen für die nach 2020 gemeldeten Rezidiv-Symptome.

Nach der Ablehnung der Leistungen unterzog sich die Versicherte am 2. März 2021 einer Operation. Ein späteres MRT des rechten Ellbogens vom 30. November 2021 zeigte jedoch eine postero-laterale Instabilität mit posteriorem Kippen des Radiusköpfchens, eine humorale Desinsertion des Ligamentum collaterale ulnare laterale (LCUL) und eine Ruptur des Ligamentum collaterale radiale (LCR) – mithin strukturelle Läsionen.

Daraufhin bat die Versicherte SWICA um Wiedereröffnung ihres Dossiers (Revisionsbegehren), gestützt auf ein Gutachten von Dr. G._ vom 3. März 2022. Dieser stellte fest, dass die neu objektivierten strukturellen Läsionen in einem Kausalzusammenhang mit dem Unfall stünden und frühere radiologische Untersuchungen nicht ausreichend leistungsfähig gewesen seien. SWICA lehnte das Revisionsbegehren mit der Begründung ab, die Operation vom 2. März 2021 stehe nicht in Verbindung mit dem Unfall, weshalb darauf folgende Läsionen nicht unter die Unfallversicherung fielen. Dr. D._ (erneut von SWICA beauftragt) vermutete sogar eine iatrogene Läsion des Bandapparates im Rahmen der Operation.

Das Sozialversicherungsgericht des Kantons Genf wies die Beschwerde der Versicherten ab. Es anerkannte zwar das MRT vom November 2021 als neues Beweismittel, das eine neue Tatsache aufzeige. Es verneinte jedoch, dass die Versicherte mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nachgewiesen habe, dass die im MRT festgestellten Bänderläsionen bereits zum Zeitpunkt des Unfalls oder der ursprünglichen SWICA-Verfügung vom Januar 2021 bestanden hatten. Insbesondere sei das Gutachten von Dr. G._ zu vage, und das später eingereichte Gutachten von Prof. H._ (welches eine traumatische, nicht degenerative Ursache der Instabilität attestierte) äussere sich nicht zum Zeitpunkt des Auftretens der Läsionen. Eine weitere Beweisaufnahme (Gutachten, Einvernahme) wurde vom kantonalen Gericht als nicht erforderlich erachtet.

2. Rechtliche Erwägungen des Bundesgerichts

Das Bundesgericht beurteilte die Rechtmässigkeit des kantonalen Entscheids im Lichte von Art. 53 Abs. 1 ATSG, der die Revision formell rechtskräftiger Verfügungen unter fünf kumulativen Voraussetzungen regelt: 1. Der Gesuchsteller macht eine oder mehrere Tatsachen geltend. 2. Diese Tatsachen sind "erheblich", d.h. geeignet, den Sachverhalt, der dem Urteil zugrunde lag, zu ändern und bei korrekter rechtlicher Würdigung zu einem anderen Urteil zu führen. 3. Diese Tatsachen bestanden bereits bei Erlass des ursprünglichen Urteils ("unechte Noven"). 4. Diese Tatsachen wurden "nachträglich" entdeckt, d.h. nach dem Zeitpunkt, bis zu dem sie im Hauptverfahren noch nützlich geltend gemacht werden konnten. 5. Der Gesuchsteller konnte diese Tatsachen trotz aller Sorgfalt im früheren Verfahren nicht geltend machen.

Das Bundesgericht hielt fest, dass die Frage, ob eine Behörde die Begriffe der neuen Tatsachen oder Beweismittel zutreffend ausgelegt hat, eine Rechtsfrage ist. Die Frage hingegen, ob eine Tatsache oder ein Beweismittel tatsächlich unbekannt war oder geeignet ist, den Sachverhalt zu ändern, ist eine Tatsachen- und Beweiswürdigungsfrage, an die das Bundesgericht grundsätzlich gebunden ist (Art. 105 Abs. 1 und 2 BGG).

Im vorliegenden Fall stimmte das Bundesgericht der kantonalen Vorinstanz darin zu, dass das MRT vom 30. November 2021 ein neues Beweismittel darstellt, das eine neue Tatsache (die Bänderläsionen) offenbart, und dass das Revisionsgesuch fristgerecht eingereicht wurde (innerhalb von 90 Tagen nach Kenntnisnahme der MRT-Befunde im Januar 2022).

Der Kernpunkt des Urteils lag jedoch in der dritten Voraussetzung – der Existenz der Tatsache zum relevanten Zeitpunkt. Das Bundesgericht stützte die Auffassung des kantonalen Gerichts, dass die Beschwerdeführerin nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nachgewiesen hatte, dass die im November 2021 festgestellten Bänderläsionen bereits zum Zeitpunkt der ursprünglichen SWICA-Verfügung vom Januar 2021 (oder des Unfalls 2017) vorhanden waren.

  • Begründung zur mangelnden Glaubhaftmachung:
    • Gutachten Dr. G.__: Das Bundesgericht bestätigte die Rüge des kantonalen Gerichts, dass Dr. G.__ lediglich pauschal feststellte, frühere Untersuchungen seien nicht leistungsfähig genug gewesen oder hätten die Läsionen nicht objektivieren können. Es fehlten jedoch präzisere Erklärungen oder detaillierte Ausführungen, warum diese Läsionen trotz kontinuierlicher medizinischer Überwachung über vier Jahre hinweg unerkannt blieben und erst mit dem MRT 2021 sichtbar wurden.
    • Gutachten Prof. H.__: Dieses Gutachten, das die traumatische Ursache der Instabilität bestätigte, wurde vom Bundesgericht als für die entscheidende Frage des Zeitpunkts des Auftretens der Läsionen irrelevant erachtet. Prof. H.__ äusserte sich lediglich zur Ätiologie (Ursache), nicht aber dazu, ob die Läsionen bereits zum Zeitpunkt des Erstentscheids bestanden hatten.
  • Keine Notwendigkeit weiterer Beweismassnahmen: Das Bundesgericht bekräftigte seine ständige Rechtsprechung, wonach es Sache der Partei ist, die ein Revisionsbegehren stellt, die Existenz neuer Tatsachen oder Beweismittel glaubhaft zu machen (BGE 127 V 353 E. 5b). Gelingt dies nicht, ist der Versicherer oder das Gericht nicht verpflichtet, von sich aus umfassende Abklärungen nach dem Untersuchungsgrundsatz (Art. 43 und 61 lit. c ATSG) vorzunehmen und aktiv nach neuen Tatsachen oder Beweismitteln zu suchen. Da die Beschwerdeführerin es nicht geschafft hatte, die Existenz der Läsionen zum relevanten früheren Zeitpunkt hinreichend glaubhaft zu machen, sah das Bundesgericht keine Veranlassung für weitere Instruktionsmassnahmen wie eine gerichtliche Expertise oder die Einvernahme von Ärzten.

3. Zusammenfassung der wesentlichen Punkte

Das Bundesgericht hat das Revisionsbegehren der Versicherten abgewiesen und den kantonalen Entscheid bestätigt. Die zentralen Punkte des Urteils sind:

  • Definition des Novums: Ein neues bildgebendes Verfahren (MRT) kann ein neues Beweismittel darstellen, das eine neue Tatsache (strukturelle Läsion) aufzeigt.
  • Massgeblicher Zeitpunkt für Revision: Entscheidend für die Revision ist nicht nur die Entdeckung einer neuen Tatsache, sondern dass diese Tatsache (die Bänderläsionen) bereits zum Zeitpunkt des ursprünglichen, zu revidierenden Entscheids (hier: SWICA-Verfügung vom Januar 2021) existierte und nicht rechtzeitig geltend gemacht werden konnte.
  • Beweislast und Beweismass: Es obliegt der revisionsgesuchstellenden Partei, die Existenz der neuen Tatsache zum massgeblichen früheren Zeitpunkt mit überwiegender Wahrscheinlichkeit glaubhaft zu machen.
  • Unzureichende Begründung: Die vorgelegten ärztlichen Berichte reichten nicht aus, um die überwiegende Wahrscheinlichkeit der früheren Existenz der Läsionen zu belegen. Insbesondere wurde der Zeitpunkt des Auftretens der Läsionen in den neuen Gutachten nicht ausreichend dargelegt.
  • Grenzen des Untersuchungsgrundsatzes: Bei einem Revisionsbegehren ist das Gericht nicht verpflichtet, von sich aus weitere Beweismittel zu erheben (z.B. ein neues Gutachten anzuordnen), wenn die revisionsgesuchstellende Partei die Voraussetzungen für die Revision (insbesondere die frühere Existenz der neuen Tatsache) nicht hinreichend glaubhaft gemacht hat.

Das Urteil unterstreicht die strengen Voraussetzungen für die Revision rechtskräftiger Verfügungen im Sozialversicherungsrecht und die Bedeutung einer präzisen und kausalen ärztlichen Dokumentation, insbesondere im Hinblick auf den zeitlichen Verlauf einer Pathologie.