Zusammenfassung von BGer-Urteil 6B_153/2025 vom 30. Juli 2025

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Gericht: Bundesgericht (Ire Cour de droit pénal) Datum: 30. Juli 2025 Aktenzeichen: 6B_153/2025 Gegenstand: Landesverweisung

I. Sachverhalt und Verfahrensgang

Der Beschwerdeführer, A.__, ein spanischer Staatsangehöriger, wurde am 17. Januar 2024 vom Tribunal du IIIe arrondissement für das District de l'Entremont wegen sexueller Handlungen mit Kindern (Art. 187 Ziff. 1 StGB) und sexueller Handlungen mit einer widerstandsunfähigen Person (Art. 191 StGB) verurteilt. Gegen ihn wurde eine Freiheitsstrafe von 36 Monaten (wovon 12 Monate unbedingt und 24 Monate bedingt bei einer Probezeit von 5 Jahren) sowie Massnahmen der Bewährungshilfe angeordnet. Zusätzlich wurde seine Landesverweisung für die Dauer von fünf Jahren ausgesprochen.

Das Tribunal cantonal du Valais, Cour pénale I, bestätigte dieses Urteil am 9. Januar 2025 vollumfänglich. Den Feststellungen der kantonalen Vorinstanz zufolge hatte A.__ im Herbst 2022 über einen Zeitraum von etwa drei Wochen wiederholt sexuelle Handlungen an drei Mädchen im Alter von 4.5, 6.5 und 4 Jahren vorgenommen, darunter das Hineingleiten der Hand in die Unterhose mit Berührungen der Genitalien und in einem Fall das Lecken des Geschlechts.

Zum Beschwerdeführer selbst wurde festgestellt, dass er 55 Jahre alt ist, in U._ geboren, aber stets in der Schweiz gelebt hat und im Besitz einer Niederlassungsbewilligung ist. Seine Eltern sind nach Spanien zurückgekehrt. Er war zum Tatzeitpunkt verheiratet und lebte mit seiner Frau und dem volljährigen Sohn in V._, ist aber mittlerweile geschieden und hat eine neue, jedoch nicht im selben Haushalt lebende Partnerin. Er gab an, sich in V.__, dem Heimatdorf seiner ehemaligen Frau, stets als Ausländer gefühlt zu haben. Er hat keine Mitgliedschaften in lokalen Vereinen oder Gesellschaften. Nach seiner Entlassung aus der Untersuchungshaft fand er erneut Arbeit als Metzgerverkäufer. Die Kontakte zu seinem volljährigen Sohn und seiner Schwester beschränken sich auf Telefonate, während sein Vater in Spanien lebt, zu dem er ebenfalls telefonischen Kontakt pflegt. Der Beschwerdeführer ist strafrechtlich unbelastet.

Der Beschwerdeführer focht die Landesverweisung mit Beschwerde in Strafsachen beim Bundesgericht an.

II. Rechtliche Erwägungen des Bundesgerichts

1. Rechtsgrundlagen der Landesverweisung und der Härtefallklausel

Das Bundesgericht prüfte die Rechtmässigkeit der Landesverweisung gestützt auf Art. 66a StGB in Verbindung mit Art. 13 BV und Art. 8 EMRK.

  • Voraussetzungen (Art. 66a Abs. 1 lit. h StGB): Gemäss Art. 66a Abs. 1 lit. h StGB verweist das Gericht einen Ausländer, der wegen sexueller Handlungen mit Kindern verurteilt wurde, unabhängig von der Höhe der ausgesprochenen Strafe, für eine Dauer von fünf bis fünfzehn Jahren aus der Schweiz. Da der Beschwerdeführer spanischer Staatsangehöriger ist und wegen Delikten gemäss Art. 187 StGB und Art. 191 StGB verurteilt wurde, erfüllt er grundsätzlich die Voraussetzungen für eine obligatorische Landesverweisung.

  • Härtefallklausel (Art. 66a Abs. 2 StGB): Das Gericht kann ausnahmsweise von einer Landesverweisung absehen, wenn diese für den Ausländer eine schwere persönliche Härte bedeuten würde und die öffentlichen Interessen an der Ausweisung die privaten Interessen des Ausländers am Verbleib in der Schweiz nicht überwiegen. Dabei ist die besondere Situation von Ausländern zu berücksichtigen, die in der Schweiz geboren oder aufgewachsen sind. Die Härtefallklausel dient der Wahrung des Verhältnismässigkeitsprinzips (Art. 5 Abs. 2 BV; BGE 149 IV 231 E. 2.1.1) und ist restriktiv anzuwenden (BGE 146 IV 105 E. 3.4.2). Für die Beurteilung einer schweren persönlichen Härte sind Kriterien des Ausländerrechts (Art. 31 Abs. 1 VZAE) und der Rechtsprechung heranzuziehen, darunter die Integration (Sicherheit und Ordnung, Verfassungswerte, Sprachkenntnisse, wirtschaftliche Partizipation, Bildung), die familiäre Situation, die finanzielle Situation, die Aufenthaltsdauer, der Gesundheitszustand sowie die Wiedereingliederungsmöglichkeiten im Herkunftsstaat. Im Kontext des Strafrechts sind auch die Resozialisierungsperspektiven des Verurteilten zu berücksichtigen (BGE 146 IV 105 E. 3.4.2). Eine schwere persönliche Härte wird in der Regel angenommen, wenn die Ausweisung einen erheblichen Eingriff in das durch Art. 13 BV und Art. 8 EMRK geschützte Privat- und Familienleben darstellt (BGE 149 IV 231 E. 2.1.1).

  • Verhältnismässigkeitsprüfung und Art. 8 EMRK: Eine als notwendig im Sinne von Art. 8 Abs. 2 EMRK erachtete Ausweisungsentscheidung muss einem dringenden sozialen Bedürfnis entsprechen und verhältnismässig sein. Kriterien sind dabei die Art und Schwere der Straftat, die verstrichene Zeit seit der Tat, das Verhalten des Täters, die Dauer des Aufenthalts in der Schweiz und die Stärke der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen zum Gast- und Herkunftsland. Für das Familienleben sind insbesondere die Nationalität der Betroffenen, die familiäre Situation (Ehedauer, Kinder, Alter der Kinder, Schwierigkeiten im Herkunftsland) zu berücksichtigen. Die "Zweijahresregel" besagt, dass bei einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren oder mehr nur aussergewöhnliche Umstände dazu führen, dass das private Interesse das öffentliche Interesse an der Ausweisung überwiegt.

2. Beurteilung der Härtefallklausel im vorliegenden Fall

2.1. Familiäres Leben (Art. 8 EMRK)

Das Bundesgericht wies die Rügen des Beschwerdeführers bezüglich der willkürlichen Feststellung der kantonalen Vorinstanz, seine familiären Kontakte beschränkten sich auf Telefonate, als unzulässig ab, da sie lediglich eine eigene Sachverhaltswürdigung darstellten. Es stellte fest, dass die Beziehung zur Schwester nicht unter den Schutzbereich der Kernfamilie (Ehegatten, minderjährige Kinder im gemeinsamen Haushalt) von Art. 8 EMRK fällt. Auch die Beziehung zum volljährigen Sohn wurde nicht als von besonderer Abhängigkeit geprägt beurteilt; die frühere Krankheit des Sohnes im Kindesalter begründe keine aktuelle Abhängigkeit. Die Beziehung zu seiner neuen Partnerin, mit der er keinen gemeinsamen Haushalt führt, wurde ebenfalls nicht als eine eheähnliche Gemeinschaft eingestuft, die dem Schutz von Art. 8 EMRK unterliegt. Das Bundesgericht verneinte somit eine Verletzung des Rechts auf Familienleben.

2.2. Privatleben (Art. 8 EMRK) und schwere persönliche Härte

Hinsichtlich des Privatlebens und der Frage einer schweren persönlichen Härte, die die erste Voraussetzung der Härtefallklausel darstellt, korrigierte das Bundesgericht die Einschätzung der kantonalen Vorinstanz. Obwohl die kantonale Instanz die Integration des Beschwerdeführers als "gemischt" oder "gewöhnlich" qualifiziert hatte (Mangel an stabilen Berufsbeziehungen, keine Vereinsmitgliedschaften, soziales Umfeld eingeschränkt), beurteilte das Bundesgericht die Sachlage anders:

Es stellte fest, dass der Beschwerdeführer als Ausländer der zweiten Generation sein gesamtes Leben (55 Jahre) in der Schweiz verbracht hat, hier zur Schule gegangen ist, seine Ausbildung absolviert, geheiratet und eine Familie gegründet hat. Das Bundesgericht befand, dass die Bindungen des Beschwerdeführers an die Schweiz von einer solchen Intensität seien, dass seine Ausweisung nach Spanien für ihn eine schwere persönliche Härte bedeuten würde. Damit wurde die erste kumulative Bedingung von Art. 66a Abs. 2 StGB bejaht.

2.3. Interessenabwägung (Öffentliches vs. Privates Interesse)

Nach Bejahung der schweren persönlichen Härte prüfte das Bundesgericht, ob das private Interesse des Beschwerdeführers am Verbleib in der Schweiz die öffentlichen Interessen an seiner Ausweisung überwiegt:

  • Öffentliches Interesse: Dieses wurde als wichtig eingestuft. Die Straftaten waren gravierend, da sie die sexuelle Integrität von drei jungen Kindern betrafen und wiederholt begangen wurden. Obwohl das Rückfallrisiko von den Experten als "schwach" eingestuft wurde, genügt selbst ein geringes Rückfallrisiko, wenn schwerwiegende Rechtsgüter (wie die sexuelle Integrität Minderjähriger) betroffen sind. Die gegen den Beschwerdeführer verhängte Freiheitsstrafe von 36 Monaten (12 Monate unbedingt) überschreitet die Schwelle von zwei Jahren ("Zweijahresregel"), was bedeutet, dass für einen Verzicht auf die Ausweisung aussergewöhnliche Umstände vorliegen müssten – welche das Bundesgericht hier verneinte.

  • Privates Interesse: Obwohl die Bindungen des Beschwerdeführers an die Schweiz aufgrund seiner gesamten Lebensgeschichte hier als wichtig erachtet wurden, wurden sie durch seine gemischte berufliche und soziale Integration sowie die aktuell nur telefonischen familiären Kontakte (Sohn, Schwester) relativiert. Moderne Kommunikationsmittel ermöglichen die Aufrechterhaltung dieser Kontakte auch aus der Ferne.

  • Reintegration im Herkunftsland (Spanien): Die Reintegration des Beschwerdeführers in Spanien, wo er nie dauerhaft gelebt hat, wurde als schwierig, aber nicht unmöglich beurteilt. Er spricht Spanisch und verfügt über eine Ausbildung und Berufserfahrung als Koch. Die potenzielle bessere wirtschaftliche Situation in der Schweiz ist kein Hinderungsgrund für eine Ausweisung. Die Rüge des Beschwerdeführers, er habe keine bedeutsamen Bindungen zu Spanien und die Beziehung zu seinem Vater sei schwierig, wurde als unzulässig bzw. nicht entscheidend abgewiesen.

  • Vergleich mit Präjudiz: Ein vom Beschwerdeführer zitierter Fall (BGE 144 IV 332) wurde vom Bundesgericht als nicht vergleichbar beurteilt, da die dortige familiäre Situation (umfassendes Besuchsrecht zu kleinen Kindern) wesentlich anders war.

3. Schlussfolgerung des Bundesgerichts

Unter Berücksichtigung der Schwere der begangenen Straftaten, der verhängten Freiheitsstrafe von über zwei Jahren, des (wenn auch geringen) Rückfallrisikos, der gemischten Integration des Beschwerdeführers in der Schweiz und seiner trotz Schwierigkeiten möglichen Reintegration im Herkunftsland, kam das Bundesgericht zum Schluss, dass das öffentliche Interesse an der Landesverweisung das private Interesse des Beschwerdeführers am Verbleib in der Schweiz überwiegt. Die zweite kumulative Bedingung der Härtefallklausel gemäss Art. 66a Abs. 2 StGB ist somit nicht erfüllt.

Die Vorinstanz hat demnach weder Bundesrecht noch Konventionsrecht verletzt, indem sie die Landesverweisung des Beschwerdeführers angeordnet hat. Auch die Dauer der Ausweisung von fünf Jahren, welche dem gesetzlichen Minimum entspricht, wurde vom Beschwerdeführer nicht substanziiert gerügt und vom Gericht als verhältnismässig befunden.

III. Entscheid

Die Beschwerde wurde, soweit zulässig, abgewiesen. Die Gerichtskosten wurden dem Beschwerdeführer auferlegt.

IV. Kurze Zusammenfassung der wesentlichen Punkte

  • Landesverweisung wegen schwerer Sexualdelikte: Der Beschwerdeführer wurde wegen sexueller Handlungen mit Kindern und widerstandsunfähigen Personen verurteilt, was grundsätzlich eine obligatorische Landesverweisung nach sich zieht.
  • Härtefallklausel – Bejahung der schweren persönlichen Härte: Das Bundesgericht korrigierte die Vorinstanz und bejahte, dass die Ausweisung für den Beschwerdeführer eine schwere persönliche Härte darstellt, da er sein gesamtes 55-jähriges Leben in der Schweiz verbracht, hier geboren, aufgewachsen, zur Schule gegangen und eine Familie gegründet hat.
  • Härtefallklausel – Verneinung der Interessenüberlegenheit: Trotz Bejahung der schweren persönlichen Härte überwiegt im Rahmen der Interessenabwägung das öffentliche Interesse an der Ausweisung das private Interesse des Beschwerdeführers. Dies aufgrund der Schwere und Wiederholung der Taten an Kleinkindern, der Höhe der Freiheitsstrafe (über zwei Jahre, was die "Zweijahresregel" auslöst und aussergewöhnliche Umstände erfordert), dem auch geringen verbleibenden Rückfallrisiko, der eingeschränkten Integration des Beschwerdeführers und der möglichen, wenn auch schwierigen Reintegration im Herkunftsland.
  • Bestätigung der Landesverweisung: Das Bundesgericht bestätigte die vom Tribunal cantonal ausgesprochene Landesverweisung von fünf Jahren.