Zusammenfassung von BGer-Urteil 6B_398/2024 vom 22. Juli 2025

Es handelt sich um ein experimentelles Feature. Es besteht keine Gewähr für die Richtigkeit der Zusammenfassung.

Detaillierte Zusammenfassung des Urteils des Schweizerischen Bundesgerichts 6B_398/2024 vom 22. Juli 2025

1. Einleitung und Parteien Das Bundesgericht, I. strafrechtliche Abteilung, hat am 22. Juli 2025 im Verfahren 6B_398/2024 über die Beschwerde in Strafsachen von A.__ (Beschwerdeführerin) gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Solothurn vom 8. April 2024 entschieden. Gegenstand der Beschwerde war die Verurteilung der Beschwerdeführerin wegen grober Verletzung der Verkehrsregeln, wobei die Rügen Willkür in der Sachverhaltsfeststellung und Verletzung des Anklageprinzips betrafen.

2. Sachverhalt Am 2. März 2022 kollidierte die Beschwerdeführerin mit ihrem Personenwagen auf der Strasse U._ in V._ im Bereich einer Kreuzung mit dem in östlicher Richtung fahrenden Lieferwagen von B.__. Die Beschwerdeführerin fuhr dabei von einer vortrittsbelasteten Strasse ab. An beiden Fahrzeugen entstand Sachschaden.

Die Staatsanwaltschaft des Kantons Solothurn klagte A.__ primär wegen Fahrens in fahrunfähigem Zustand (Art. 91 Abs. 2 lit. b SVG i.V.m. Art. 31 Abs. 2 SVG und Art. 2 Abs. 1 VRV) an. Eventualiter wurde ihr eine grobe Verletzung der Verkehrsregeln (Art. 90 Abs. 2 SVG) durch Mangel an Aufmerksamkeit (Art. 31 Abs. 1 SVG, Art. 3 Abs. 1 VRV) und Missachten des Vortrittsrechts (Art. 27 Abs. 1 SVG, Art. 36 Abs. 2 SVG, Art. 14 Abs. 1 VRV, Art. 36 Abs. 2 SSV) vorgeworfen.

Das Richteramt Solothurn-Lebern verurteilte die Beschwerdeführerin am 27. März 2023 aufgrund der Eventualanklage wegen grober Verkehrsregelverletzung zu einer bedingten Geldstrafe und einer Busse. Dieses Urteil wurde vom Obergericht des Kantons Solothurn am 8. April 2024 bestätigt.

Die Beschwerdeführerin beantragte vor Bundesgericht die Aufhebung des Urteils, ihren Freispruch von der groben Verkehrsregelverletzung und stattdessen eine Verurteilung wegen einfacher Verkehrsregelverletzung (Art. 90 Abs. 1 SVG) mit einer geringeren Busse.

3. Erwägungen des Bundesgerichts

3.1. Verletzung des Anklageprinzips und Immutabilitätsprinzips (Art. 9 Abs. 1, Art. 325 StPO; Art. 350 Abs. 1 StPO) Die Beschwerdeführerin rügte erstmals vor Bundesgericht eine Verletzung des Anklageprinzips. Sie machte geltend, die Anklageschrift sei ungenügend präzise und enthalte einen "entweder/oder"-Vorwurf, zudem sei die Vorinstanz mit dem Vorwurf des "rücksichtslosen Verhaltens" über die Eventualanklage der "Grobfahrlässigkeit" hinausgegangen.

Das Bundesgericht trat auf diese Rüge nicht ein. Es verwies auf den Grundsatz von Treu und Glauben (Art. 5 Abs. 3 BV) und das Verbot des Rechtsmissbrauchs, wonach formelle Rügen so früh wie möglich im Verfahren geltend gemacht werden müssen. Da die Beschwerdeführerin bereits im erstinstanzlichen Verfahren anwaltlich vertreten war und Kenntnis vom Inhalt der Anklageschrift hatte, insbesondere von der zulässigen Eventualanklage (Art. 325 Abs. 2 StPO), hätte sie ihre Kritik bereits im kantonalen Verfahren vorbringen müssen. Die materiellen Instanzenzüge wurden diesbezüglich nicht ausgeschöpft.

3.2. Mangelhafte Urteilsbegründung und Verwertbarkeit der Aussagen des Unfallgegners Die Beschwerdeführerin beanstandete Widersprüche in der Begründung der Vorinstanz. Einerseits habe die Vorinstanz erklärt, die Aussagen des Lieferwagenfahrers B._ seien infolge mangelnder parteiöffentlicher Befragung nicht zu verwenden. Andererseits habe sie an anderer Stelle ausgeführt, die Unglaubhaftigkeit der Beschwerdeführerin basiere unter anderem auf den "korrelierenden Aussagen" von B._.

Das Bundesgericht prüfte die Rüge. Es erinnerte an die Begründungspflicht (Art. 29 Abs. 2 BV, Art. 112 Abs. 1 lit. b BGG), wonach Entscheide die wesentlichen tatsächlichen und rechtlichen Gründe enthalten müssen. Hinsichtlich der Verwertbarkeit von Beweismitteln führte das Bundesgericht aus: * Das Recht auf Parteiöffentlichkeit (Art. 147 Abs. 1 StPO) besteht nicht bei Beweiserhebungen durch die Polizei vor Eröffnung einer Untersuchung durch die Staatsanwaltschaft (polizeiliche Erstermittlungen gemäss Art. 306 Abs. 2 lit. b StPO). * Verletzungen des Teilnahmerechts führen gemäss Art. 147 Abs. 4 StPO zu einem Verwertungsverbot. Ein Verzicht auf das Konfrontationsrecht ist jedoch möglich (ausdrücklich oder stillschweigend). * Im vorliegenden Fall fand die Befragung des Lieferwagenfahrers unmittelbar am Unfallort durch die Polizeipatrouille statt, mithin im Rahmen polizeilicher Erstermittlungen und vor Eröffnung der Untersuchung. Zu diesem Zeitpunkt stand der Beschwerdeführerin kein Teilnahmerecht zu. * Zudem hatte die Beschwerdeführerin weder im Untersuchungs- noch im gerichtlichen Verfahren die erneute Befragung des Unfallgegners beantragt. Das Bundesgericht ging daher von einem Verzicht auf den Konfrontationsanspruch aus. * Das Bundesgericht befand die Formulierung der Vorinstanz zwar als "unglücklich", stellte aber fest, dass die Vorinstanz unmissverständlich ausgeführt hatte, letztlich nicht auf die Aussagen des Unfallgegners abzustellen. Somit liege keine Verletzung der Begründungspflicht vor.

3.3. Willkürliche Sachverhaltsfeststellung und Verletzung des Grundsatzes "in dubio pro reo" Die Beschwerdeführerin bestritt, über längere Zeit unaufmerksam gewesen zu sein oder sich rücksichtslos verhalten zu haben. Sie anerkannte eine kurze Unaufmerksamkeit, führte jedoch an, ihr Tempo vor der Kreuzung bis zum Stillstand verlangsamt zu haben und den Lieferwagen aufgrund eingeschränkter Sicht (parkierte Fahrzeuge, Baustelleninstallationen) nicht gesehen haben zu können. Sie rügte, die Vorinstanz habe ihre Aussagen zu Unrecht als unglaubhaft eingestuft und sich auf eigene Annahmen gestützt.

Das Bundesgericht legte seine Kognition bei der Sachverhaltsfeststellung dar: Es prüft nur auf offensichtliche Unrichtigkeit bzw. Willkür (Art. 97 Abs. 1, Art. 105 Abs. 2 BGG). Willkür liegt vor, wenn die Beweiswürdigung schlechterdings unhaltbar ist. Der Grundsatz "in dubio pro reo" als Beweiswürdigungsregel (Art. 10 Abs. 3 StPO) hat vor Bundesgericht keine über das Willkürverbot (Art. 9 BV) hinausgehende Bedeutung.

Das Bundesgericht bestätigte die Beweiswürdigung der Vorinstanz: * Die Vorinstanz hatte die Aussagen der Beschwerdeführerin als "uneinheitlich, inkonsistent und im Wesentlichen widersprüchlich" beurteilt (z.B. Erfindung von Schwindel, widersprüchliche Angaben zu Stress und Sichtverhältnissen). * Die Sichtverhältnisse am Unfallort, gestützt auf Fotoaufnahmen, bestätigten, dass der hohe Lieferwagen die parkierten Autos deutlich überragte und daher trotz teilweiser Sichtbehinderung durch ein mobiles Verkehrsschild sichtbar sein musste. Das Bundesgericht befand, diese Schlussfolgerung sei nicht willkürlich. * Die Kollision im hinteren Bereich des Fahrzeugs der Beschwerdeführerin sowie ihre eigenen Angaben zur Geschwindigkeit (Abbremsen auf ca. 40 km/h vor der Kreuzung und Überfahren der vortrittsberechtigten Strasse mit ca. 40 km/h) sprächen gegen ihre Version, sie habe angehalten oder sei sehr langsam gefahren. * Das Bundesgericht wies die Rüge der Beschwerdeführerin als appellatorische Kritik zurück, da sie sich darauf beschränkte, ihre eigene Beweiswürdigung darzulegen, anstatt die Unhaltbarkeit des gesamten Beweisergebnisses der Vorinstanz aufzuzeigen.

3.4. Rechtliche Qualifikation als grobe Verletzung der Verkehrsregeln (Art. 90 Abs. 2 SVG) Die Beschwerdeführerin beantragte, ihr Verhalten als einfache Verkehrsregelverletzung (Art. 90 Abs. 1 SVG) zu qualifizieren, da sie ein rücksichtsloses Verhalten bestreite.

Das Bundesgericht prüfte die Tatbestandsmerkmale von Art. 90 Abs. 2 SVG: * Objektiv: Erforderlich ist eine schwere Missachtung einer wichtigen Verkehrsvorschrift und eine ernstliche Gefährdung der Verkehrssicherheit (erhöhte abstrakte Gefahr, nahe liegende Verwirklichung einer konkreten Gefahr oder Verletzung). Der Tatbestand erfasst auch fahrlässige Begehung (Art. 100 Ziff. 1 Abs. 1 SVG). * Subjektiv: Erforderlich ist ein rücksichtsloses oder sonst schwerwiegend verkehrsregelwidriges Verhalten, d.h. mindestens grobe Fahrlässigkeit. Rücksichtslosigkeit kann auch in einem blossen (momentanen) Nichtbedenken der Gefährdung fremder Rechtsgüter bestehen. Je schwerer die objektive Verkehrsregelverletzung wiegt, desto eher ist Rücksichtslosigkeit zu bejahen, sofern keine besonderen Gegenindizien vorliegen. * Anwendung der Sorgfaltspflicht (Art. 31 Abs. 1 SVG, Art. 3 Abs. 1 VRV) und Vortrittspflicht (Art. 36 Abs. 2 SVG, Art. 14 Abs. 1 VRV): Ein Fahrzeuglenker muss das Fahrzeug ständig beherrschen und seine Aufmerksamkeit dem Verkehr widmen. Bei einer vortrittsbelasteten Strasse muss der Fahrer seine Geschwindigkeit frühzeitig mässigen und gegebenenfalls anhalten. Bei schlechten Sichtverhältnissen hat sich der Vortrittsbelastete nur sehr langsam und vorsichtig ("hineintastend") zu bewegen. * Im konkreten Fall: * Objektiv: Die Beschwerdeführerin nahm dem vortrittsberechtigten Lieferwagenfahrer den Vortritt, missachtete damit objektiv eine wichtige Verkehrsregel schwer und gefährdete die Verkehrssicherheit ernstlich, was sich im Unfall konkretisierte. Angesichts der teilweisen Sichtbehinderungen durch das mobile Verkehrsschild und die parkierten Fahrzeuge hätte sie sich besonders vorsichtig und "hineintastend" verhalten müssen, was sie nicht tat. Ein einmaliger Blick war unzureichend. Das Vertrauensprinzip kommt ihr nicht zugute. * Subjektiv: Die Beschwerdeführerin war ortskundig und kannte die Kreuzung mit der Vortrittsregelung, war sich der Gefahr also bewusst. Indem sie nach dem ersten Abbremsen dennoch mit 40 km/h auf die Kreuzung fuhr, zog sie pflichtwidrig nicht in Betracht, ein vortrittsberechtigtes Fahrzeug aufgrund der Sichtbehinderung übersehen zu haben. Die objektive Schwere der Missachtung des Vortrittsrechts, selbst bei einer angeblich kurzen Unaufmerksamkeit, begründete eine Rücksichtslosigkeit im Sinne von Art. 90 Abs. 2 SVG, zumal keine besonderen Umstände ersichtlich waren, die ihr Verhalten subjektiv in einem milderen Licht erscheinen liessen. Das Bundesgericht verwies zudem auf den Grundsatz, dass das Strafrecht keine Schuldkompensation kennt, ein allfälliges Fehlverhalten des Lieferwagenfahrers mithin irrelevant wäre.

Das Bundesgericht bestätigte somit die Verurteilung der Beschwerdeführerin wegen fahrlässiger grober Verkehrsregelverletzung.

4. Schlussfolgerung des Bundesgerichts Die Beschwerde wurde abgewiesen, soweit darauf eingetreten wurde. Die Gerichtskosten wurden der Beschwerdeführerin auferlegt.

Kurze Zusammenfassung der wesentlichen Punkte:

Das Bundesgericht wies die Beschwerde der Autofahrerin A.__, die wegen grober Verletzung der Verkehrsregeln verurteilt wurde, ab. 1. Anklageprinzip: Eine Rüge der Verletzung des Anklageprinzips wurde nicht zugelassen, da sie nicht rechtzeitig in den kantonalen Instanzen erhoben worden war. 2. Beweiswürdigung: Die Rüge der mangelhaften Urteilsbegründung und der unverwertbaren Aussagen des Unfallgegners wurde zurückgewiesen. Die Aussagen des Unfallgegners wurden bei polizeilichen Erstermittlungen vor Untersuchungsbeginn erhoben, wo kein Teilnahmerecht bestand. Zudem hatte die Vorinstanz sich letztlich nicht auf diese Aussagen gestützt, und die Beschwerdeführerin hatte auf ihr Konfrontationsrecht verzichtet. 3. Sachverhaltsfeststellung (Willkür): Die Vorinstanz durfte die Aussagen der Beschwerdeführerin aufgrund von Inkonsistenzen und Widersprüchen als unglaubhaft einstufen. Auch die Würdigung der Sichtverhältnisse an der Kreuzung und der Geschwindigkeit der Beschwerdeführerin, die eine Sichtbarkeit des Lieferwagens implizierten, war nicht willkürlich. Der Grundsatz "in dubio pro reo" wurde nicht verletzt. 4. Rechtliche Qualifikation (Art. 90 Abs. 2 SVG): Die Verurteilung wegen grober Verkehrsregelverletzung wurde bestätigt. Objektiv wurde eine wichtige Verkehrsregel (Vortrittspflicht) schwerwiegend missachtet und eine ernstliche Gefahr hervorgerufen, die sich im Unfall konkretisierte. Subjektiv lag grobe Fahrlässigkeit und Rücksichtslosigkeit vor, da die ortskundige Beschwerdeführerin trotz Kenntnis der Situation und teilweiser Sichtbehinderung pflichtwidrig die Gefahr ignorierte, ein vortrittsberechtigtes Fahrzeug zu übersehen. Die Pflicht zum vorsichtigen "Hineintasten" bei schlechter Sicht wurde nicht erfüllt.