Zusammenfassung von BGer-Urteil 2C_49/2024 vom 6. August 2025

Es handelt sich um ein experimentelles Feature. Es besteht keine Gewähr für die Richtigkeit der Zusammenfassung.

Gerne fasse ich das bereitgestellte Urteil des Schweizerischen Bundesgerichts detailliert zusammen:

Bundesgericht, Urteil 2C_49/2024 vom 6. August 2025

1. Einleitung und Sachverhalt

Das Bundesgericht hatte über die Beschwerde von A.__, einer polnischen Staatsbürgerin, gegen das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 27. November 2023 zu befinden. Streitgegenstand war die Anerkennung ihres polnischen Diploms im Studiengang Kosmetologie mit Fachrichtung Podologie (Spezialisierungstitel Podologin) als gleichwertig mit dem schweizerischen Diplom "diplomierte Podologin Höhere Fachschule (HF)". Das Schweizerische Rote Kreuz (SRK) hatte die HF-Anerkennung zuvor verweigert, jedoch eine Anerkennung als "Podologin mit eidgenössischem Fähigkeitszeugnis (EFZ)" ausgesprochen. Die Beschwerdeführerin, die seit 2013 in der Schweiz im Bereich Fusspflege tätig ist und seit 2021 Filialleiterin einer Podologie- und Cosmetologiepraxis ist, verlangte die Aufhebung des vorinstanzlichen Urteils und die Anerkennung ihres Diploms als Podologin HF, gegebenenfalls mit Rückweisung zur Prüfung allfälliger Ausgleichsmassnahmen.

2. Rechtliche Grundlagen

Das Bundesgericht legte zunächst die massgebenden nationalen und internationalen Rechtsgrundlagen dar:

  • Schweizerisches Berufsbildungsrecht:
    • Das Berufsbildungsgesetz (BBG) regelt die Grund- und höhere Berufsbildung.
    • Die Ausbildung zur Podologin HF ist eine höhere Berufsbildung. Der Rahmenlehrplan (genehmigt 2010) beschreibt dipl. Podologinnen HF als Fachpersonen im medizinisch-therapeutischen Bereich, die einen wesentlichen Beitrag zur Gesundheitsförderung leisten, eigenverantwortlich Prävention, Behandlung und Betreuung von Risikopatienten gewährleisten, interdisziplinär mit anderen Fachpersonen (z.B. Ärzten) zusammenarbeiten und Praxisführung sowie Qualitätsmanagement sicherstellen. Sie beaufsichtigen und beraten Podologinnen EFZ in komplexen Situationen. Der Bildungsgang umfasst 3600 bzw. 5400 Lernstunden.
    • Die Podologin EFZ stellt die berufliche Grundbildung dar. Die entsprechende Verordnung (alte Fassung von 2012, neu 2020) sieht vor, dass Podologinnen EFZ keine selbstständigen Leistungen für Risikogruppen erbringen dürfen, ausser unter Aufsicht eines dipl. Podologen HF. Sie erstellen auch keine fachlich komplexen Behandlungspläne und interpretieren keine komplexen ärztlichen Diagnosen/Verordnungen eigenverantwortlich.
    • Die Berufsbildungsverordnung (BBV) regelt die Anerkennung ausländischer Abschlüsse. Art. 69a BBV verlangt für die Anerkennung eines ausländischen Abschlusses für einen reglementierten Beruf, dass dieser die Voraussetzungen der gleichen Bildungsstufe, Dauer und vergleichbaren Inhalte erfüllt und praktische Qualifikationen umfasst oder einschlägige Berufserfahrung vorliegt. Sind nicht alle Voraussetzungen erfüllt, sind Ausgleichsmassnahmen zu prüfen. Das SRK ist die delegierte Behörde für die Anerkennung im Bereich Podologie.
  • Kantonales Gesundheitsrecht (Basel-Landschaft): Das kantonale Gesundheitsgesetz (§ 7 Abs. 1, § 35 Abs. 1 GesG/BL) und die Verordnung über die Berufe im Gesundheitswesen (§ 29) reglementieren die Berufsausübung als Podologin und verlangen für die selbstständige Tätigkeit einen gesamtschweizerisch anerkannten Berufsabschluss (höhere Fachprüfung als diplomierte Podologin).
  • Freizügigkeitsabkommen (FZA) mit der EU: Das FZA und sein Anhang III verweisen auf die Richtlinie 2005/36/EG zur gegenseitigen Anerkennung von Berufsqualifikationen. Gemäss Art. 16 Abs. 2 FZA ist die einschlägige Rechtsprechung des EuGH vor dem 21. Juni 1999 massgebend, wobei von jüngeren EuGH-Entscheiden nur bei "triftigen Gründen" abgewichen wird.

3. Prüfung nach Richtlinie 2005/36/EG

Das Bundesgericht prüfte zunächst, ob ein Anspruch auf Anerkennung gestützt auf die Richtlinie 2005/36/EG besteht:

  • Anwendungsbereich: Die Richtlinie gilt für Staatsangehörige eines Mitgliedstaats, die einen reglementierten Beruf in einem anderen Mitgliedstaat ausüben wollen. Der Beruf der Podologin ist in der Schweiz reglementiert, in Polen jedoch nicht. Auch die Ausbildung der Beschwerdeführerin in Polen ist nicht reglementiert.
  • Art. 13 Abs. 2 Richtlinie 2005/36/EG (Allgemeine Regelungen): Diese Bestimmung regelt die Anerkennung, wenn der Beruf im Herkunftsmitgliedstaat nicht reglementiert ist. Sie setzt unter anderem voraus, dass der Antragsteller den Beruf vollzeitlich zwei Jahre lang in den vorhergehenden zehn Jahren in einem anderen Mitgliedstaat, der diesen Beruf nicht reglementiert, ausgeübt hat.
  • Definition der Berufserfahrung: Das Bundesgericht verwies auf die EuGH-Rechtsprechung (Urteil Toki, C-424/09; Urteil Vandorou, C-422/09 u.a.), wonach Berufserfahrung die tatsächliche und rechtmässige Ausübung des betreffenden Berufs ist. Eine Arbeitsleistung, die in einem Mitgliedstaat erbracht wird, in dem die Berechtigung zur Ausübung eines Berufs noch nicht erlangt wurde, kann grundsätzlich nicht als Ausübung von reglementierten beruflichen Tätigkeiten im Sinne der Richtlinie angesehen werden.
  • Anwendung im vorliegenden Fall: Da die Beschwerdeführerin ihr polnisches Diplom erst 2012 erwarb und kurz darauf in der Schweiz zu arbeiten begann, konnte sie die erforderliche zweijährige Berufserfahrung in einem Mitgliedstaat, in dem der Beruf nicht reglementiert ist, nicht nachweisen. Ihre Tätigkeit in der Schweiz vor der Anerkennung kann gemäss der zitierten EuGH-Rechtsprechung nicht als massgebende Berufserfahrung im Sinne der Richtlinie qualifiziert werden, da der Beruf der Podologin HF in der Schweiz reglementiert ist. Die spätere Anerkennung als Podologin EFZ ändert daran nichts, da sich die Qualifikationen EFZ und HF wesentlich unterscheiden.
  • Schlussfolgerung: Die Voraussetzungen für eine direkte Anerkennung gestützt auf die Richtlinie 2005/36/EG sind nicht erfüllt.

4. Subsidiäre Gleichwertigkeitsprüfung nach FZA-Primärrecht

Das Bundesgericht bejahte jedoch die Möglichkeit einer subsidiären Prüfung nach dem Primärrecht des FZA (Grundfreiheiten):

  • Primärrechtlicher Anspruch: Wenn die Richtlinie 2005/36/EG nicht anwendbar ist, kann sich eine Person subsidiär auf das Primärrecht berufen (EuGH, Urteil Hocsman, C-238/98; Vlassopoulou, C-340/89). Die Behörden müssen sämtliche Diplome, Zeugnisse und die einschlägige Erfahrung des Betroffenen berücksichtigen und die belegten Fachkenntnisse mit den national vorgeschriebenen vergleichen.
  • Bedeutung für das FZA: Das Bundesgericht bestätigte, dass dieses primärrechtliche Anerkennungsregime auch für das FZA relevant ist. Eine Behörde muss eine Gleichwertigkeitsprüfung vornehmen, wenn eine Anerkennung nicht durch die Richtlinie geregelt ist. Eine materielle Diskriminierung durch die Abhängigkeit des Berufszugangs von einem inländischen Diplom kann zwar gerechtfertigt sein, der Verhältnismässigkeitsgrundsatz erfordert jedoch die Gleichwertigkeitsprüfung.
  • Jüngere EuGH-Rechtsprechung: Neuere EuGH-Urteile (z.B. Sosiaali- ja terveysalan lupa- ja valvontavirasto, C-577/20; Lietuvos Respublikos sveikatos apsaugos ministerija, C-166/20) bestätigen die Notwendigkeit einer subsidiären Prüfung auch dann, wenn die Richtlinie anwendbar ist, aber deren Anerkennungsvoraussetzungen (z.B. die erforderliche Berufserfahrung) nicht erfüllt sind.
  • Gestaltungsspielraum der Schweiz: Im Rahmen dieser primärrechtlichen Prüfung kommt der Schweiz ein erheblicher Gestaltungs- bzw. Ermessensspielraum zu, sowohl hinsichtlich der Festlegung von Schutzanliegen und Schutzniveau als auch bei der Verhältnismässigkeitsprüfung.
  • Inhalt der Gleichwertigkeitsprüfung: Die zuständigen Behörden müssen objektiv feststellen, ob das ausländische Diplom gleiche oder gleichwertige Kenntnisse und Fähigkeiten wie das innerstaatliche Diplom bescheinigt, unter Berücksichtigung von Art und Dauer des Studiums sowie praktischer Ausbildung. Objektiven Unterschieden im rechtlichen Rahmen und Tätigkeitsbereich kann Rechnung getragen werden. Bei teilweiser Entsprechung können Ausgleichsmassnahmen verlangt werden, wobei auch im Aufnahmemitgliedstaat erworbene praktische Erfahrung berücksichtigt werden muss, deren Wert jedoch von den spezifischen Aufgaben, erworbenen Kenntnissen, übertragener Verantwortung und dem Grad der Unabhängigkeit abhängt (EuGH, Urteil Brouillard, C-298/14).

5. Vergleich der Qualifikationen und Berufserfahrung im vorliegenden Fall

Das Bundesgericht verglich die Qualifikationen der Beschwerdeführerin mit dem schweizerischen Diplom Podologin HF:

  • Polnische Ausbildung: Die polnische Ausbildung der Beschwerdeführerin (2360 Stunden insgesamt, davon 1430 Stunden für allgemeine und kosmetische Podologie, nur 65 Stunden für "pathologische Zustände") und die Art ihrer Praktika konzentrierten sich primär auf allgemeine und kosmetische Podologie. Sie vermittelte nicht die gesundheitsfördernden und krankheitsbezogenen Kompetenzen, die für die autonome Behandlung von Risikopatienten als dipl. Podologin HF in der Schweiz erforderlich sind. Es fehlte insbesondere an ärztlich angeleiteten Praktika in klinischem Umfeld.
  • Unterschied HF vs. EFZ: Die Vorinstanzen beurteilten zu Recht, dass die von der Beschwerdeführerin erworbenen Kenntnisse und Qualifikationen wesentlich von denen einer dipl. Podologin HF abweichen. Die Abgrenzung zwischen den Berufsprofilen HF und EFZ ist im schweizerischen Rechtssystem etabliert und freizügigkeitsrechtlich haltbar, da sie objektiven Unterschieden im medizinisch-therapeutischen Verantwortungsbereich Rechnung trägt.
  • Berufserfahrung in der Schweiz: Die Beschwerdeführerin berief sich auf ihre elfjährige Berufserfahrung in der Schweiz, in der sie auch Risikopatienten behandelt habe. Das Bundesgericht hielt jedoch fest, dass fehlende theoretische Kenntnisse bzw. Bildungslücken nicht leichthin durch Berufserfahrung ausgeglichen werden können. Ihre Praxistätigkeit in der Schweiz entspricht im Wesentlichen derjenigen einer Podologin EFZ (Behandlung von Risikopatienten unter Aufsicht). Selbst eine praktizierende Podologin EFZ müsste für das HF-Diplom einen umfangreichen Bildungsgang (3600 Lernstunden) absolvieren. Die Erwägungen der Beschwerdeführerin zur Bewilligungssituation ihrer Vorgesetzten wurden als nicht entscheiderheblich eingestuft.
  • Ausgleichsmassnahmen: Eine Anerkennung unter der Voraussetzung von Kompensationsmassnahmen würde im Wesentlichen darauf hinauslaufen, dass die Beschwerdeführerin die gesamte Ausbildung zur dipl. Podologin HF absolvieren müsste. Dies erachtete das Bundesgericht als verhältnismässig.

6. Verletzung des rechtlichen Gehörs

Die Beschwerdeführerin rügte eine Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV) durch die Ablehnung von Beweisanträgen (Parteibefragung, Zeugenbefragung der Vorgesetzten, Augenschein). Das Bundesgericht wies diese Rüge unter Verweis auf die antizipierte Beweiswürdigung ab. Die Vorinstanz konnte ohne Willkür annehmen, dass weitere Beweiserhebungen keine neuen entscheidrelevanten Erkenntnisse gebracht hätten, da die Beschwerdeführerin ihre Argumente schriftlich darlegen konnte und die Behandlung von Risikopatienten unter Aufsicht die massgeblichen medizinischen Hintergrundkenntnisse für das HF-Niveau nicht ersetzen kann.

7. Ergebnis

Das Bundesgericht wies die Beschwerde als unbegründet ab. Ein Anspruch auf Anerkennung des polnischen Diploms als gleichwertig mit dem schweizerischen Diplom Podologin HF besteht weder direkt gestützt auf die Richtlinie 2005/36/EG noch im Rahmen der subsidiären Gleichwertigkeitsprüfung nach dem FZA-Primärrecht.

Zusammenfassung der wesentlichen Punkte:

  • Die Beschwerdeführerin, eine polnische Podologin, ersuchte um Anerkennung ihres Diploms als gleichwertig mit dem schweizerischen Diplom "diplomierte Podologin HF".
  • Die direkte Anerkennung nach Richtlinie 2005/36/EG scheiterte an der fehlenden zweijährigen Berufserfahrung in einem nicht-reglementierten Mitgliedstaat vor der Anerkennung, gemäss EuGH-Rechtsprechung.
  • Eine subsidiäre Gleichwertigkeitsprüfung nach dem FZA-Primärrecht war geboten, wobei der Schweiz ein Ermessensspielraum bei der Festlegung des Schutzanliegens zukommt.
  • Die polnische Ausbildung der Beschwerdeführerin wurde als primär auf allgemeine und kosmetische Podologie ausgerichtet befunden, mit unzureichenden gesundheits- und krankheitsbezogenen Kompetenzen für die autonome Behandlung von Risikopatienten, wie sie für die Podologin HF in der Schweiz erforderlich sind.
  • Die elfjährige Berufserfahrung in der Schweiz konnte die fehlenden medizinisch-therapeutischen Kenntnisse des HF-Niveaus nicht kompensieren, da sie im Wesentlichen den Tätigkeiten einer Podologin EFZ (Behandlung unter Aufsicht) entsprach. Eine Kompensation würde praktisch das Absolvieren der gesamten HF-Ausbildung erfordern.
  • Die Verweigerung der Anerkennung wurde als verhältnismässig erachtet.
  • Die Rüge der Verletzung des rechtlichen Gehörs wurde abgewiesen (antizipierte Beweiswürdigung).