Zusammenfassung von BGer-Urteil 8C_99/2025 vom 19. August 2025

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Detaillierte Zusammenfassung des Urteils 8C_99/2025 des Schweizerischen Bundesgerichts vom 19. August 2025

1. Einleitung und Streitgegenstand

Das vorliegende Urteil des Bundesgerichts betrifft eine Beschwerde des kantonalen IV-Amtes Wallis (nachfolgend: Beschwerdeführerin) gegen einen Entscheid des Kantonsgerichts Wallis, IV. Sozialversicherungsrechtliche Abteilung. Streitgegenstand ist der Anspruch der Versicherten (nachfolgend: Beschwerdegegnerin) auf eine Invalidenrente, insbesondere deren Höhe und Beginn, sowie die Frage einer Rentenrevision.

2. Sachverhalt (Kurzfassung)

Die 1979 geborene Beschwerdegegnerin war ab August 2010 vollamtlich als Akademielehrerin tätig. Im März 2019 stellte sie einen ersten Leistungsantrag bei der Invalidenversicherung (IV) aufgrund einer psoriatischen Arthritis, gab jedoch im Juli 2019 an, ihre Arbeitsfähigkeit vollständig wiedererlangt zu haben. Die IV-Stelle lehnte diesen Antrag im November 2019 ab, da die Arbeitsunfähigkeit weniger als ein Jahr gedauert hatte.

Im Juli 2020 reichte die Beschwerdegegnerin einen neuen Leistungsantrag ein, da ihre Krankheit sie ab 2019 zur Reduktion ihrer Arbeitszeit auf 50 % und ab Mai 2020 zur vollständigen Arbeitsniederlegung gezwungen hatte. Ab August 2020 nahm sie eine 50 %-Stelle als Ausbildungsverantwortliche bei einer Stiftung an. Ein rheumatologisches Gutachten vom Mai 2021 attestierte ihr seit September 2019 eine Restarbeitsfähigkeit von 50 % in einer angepassten Tätigkeit. Basierend darauf sprach die IV-Stelle der Beschwerdegegnerin mit Entscheiden vom Juli und September 2022 eine halbe Invalidenrente ab dem 1. Januar 2021 zu.

Das Kantonsgericht Wallis bestätigte in seinem Urteil vom Januar 2024 den Beginn des Rentenanspruchs per 1. Januar 2021 für eine halbe Invalidenrente. Es erhöhte jedoch den Rentenanspruch ab dem 6. Mai 2022 auf eine Rente, die auf einem Invaliditätsgrad von 55 % beruhte. Diese Erhöhung stützte sich auf die erstmalige Erwähnung psychologischer Schwierigkeiten und ein psychiatrisches Attest, welches eine Leistungsminderung von 10 % seit dem 6. Mai 2022 bescheinigte.

3. Rechtliches Vorgehen vor Bundesgericht und Zulässigkeit der Beschwerde

Die Beschwerdeführerin (IV-Stelle) erhob Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beim Bundesgericht. Sie beantragte die Aufhebung des kantonalen Urteils bezüglich der Zuteilung einer halben Invalidenrente ab dem 1. Januar 2021 und einer Rente basierend auf einem Invaliditätsgrad von 55 % ab dem 6. Mai 2022, sowie die Rückweisung der Angelegenheit zur weiteren Instruktion und Neubeurteilung an die IV-Stelle.

Das Bundesgericht stellte fest, dass die Beschwerde der IV-Stelle bezüglich der Zuerkennung einer halben Invalidenrente ab dem 1. Januar 2021 unzulässig ist (Erwägung 2.2). Gemäss Art. 99 Abs. 2 BGG sind neue Begehren vor Bundesgericht unzulässig. Da die Beschwerdeführerin im kantonalen Verfahren die Bestätigung ihrer eigenen Entscheidungen vom Juli und September 2022 beantragt hatte, welche der Beschwerdegegnerin eine halbe Invalidenrente ab dem 1. Januar 2021 zusprachen, konnte sie vor Bundesgericht nicht die Aufhebung dieses Teils des kantonalen Urteils verlangen. Dieser Punkt ist daher rechtskräftig und nicht mehr Gegenstand des bundesgerichtlichen Verfahrens.

Der Streitgegenstand vor Bundesgericht beschränkte sich somit ausschliesslich auf die Frage des Rentensatzes ab dem 6. Mai 2022, d.h. die Erhöhung von einer halben Rente auf eine Rente, die auf einem Invaliditätsgrad von 55 % basiert. Die Zuerkennung einer halben Rente ab dem 1. Januar 2021 ist auch für die Zeit nach dem 5. Mai 2022 gesichert und kann nicht mehr in Frage gestellt werden.

4. Massgebende Rechtsgrundlagen und Begründung des Bundesgerichts

4.1. Übergangsrecht und Revisionsprinzipien Das Bundesgericht legte dar, dass bei einer Gesetzesänderung grundsätzlich die zum Zeitpunkt der Verwirklichung des Sachverhalts geltenden Bestimmungen anzuwenden sind (ATF 150 V 323 E. 4.2). Seit dem 1. Januar 2022 ist eine Revision des IVG in Kraft (Weiterentwicklung der IV). Gemäss den Übergangsbestimmungen (Bst. b Abs. 1) dieser Revision ändert sich bei Rentenbezügern, deren Rentenanspruch vor dem 1. Januar 2022 entstand und die zu diesem Zeitpunkt noch nicht 55 Jahre alt waren, die Rentenquote nur dann, wenn sich der Invaliditätsgrad um mindestens 5 Prozentpunkte im Sinne von Art. 17 Abs. 1 ATSG ändert.

Art. 17 Abs. 1 ATSG (in der seit 1. Januar 2022 gültigen Fassung) regelt die Revision von Invalidenrenten: Sie wird von Amtes wegen oder auf Antrag für die Zukunft erhöht, herabgesetzt oder entzogen, wenn sich der Invaliditätsgrad des Versicherten um mindestens 5 Prozentpunkte (Bst. a) ändert oder 100 % erreicht (Bst. b). Ein Revisionsgrund liegt bei jeder wesentlichen Änderung der Verhältnisse vor, die den Invaliditätsgrad und damit den Rentenanspruch beeinflussen kann. Dies kann eine erhebliche Änderung des Gesundheitszustandes sein oder eine unveränderte gesundheitliche Situation, deren Auswirkungen auf die Erwerbsfähigkeit sich jedoch erheblich geändert haben (z.B. durch Gewöhnung an die Behinderung). Eine bloße Neubewertung eines im Wesentlichen unveränderten Sachverhalts rechtfertigt hingegen keine Revision (ATF 147 V 167 E. 4.1; 134 V 131 E. 3).

4.2. Berechnung des Invaliditätsgrades Die Bewertung des Invaliditätsgrades von erwerbstätigen Versicherten richtet sich nach Art. 28a Abs. 1 IVG in Verbindung mit Art. 16 ATSG. Für die Bestimmung des Invaliditätsgrades wird das Einkommen, das die versicherte Person ohne Invalidität erzielen könnte (Valideneinkommen), mit dem Einkommen verglichen, das sie nach Durchführung der medizinischen Behandlungen und Eingliederungsmassnahmen durch eine ihr zumutbare Tätigkeit auf einem ausgeglichenen Arbeitsmarkt erzielen könnte (Invalideneinkommen).

Art. 28b Abs. 2 IVG sieht seit dem 1. Januar 2022 vor, dass bei einem Invaliditätsgrad zwischen 50 % und 69 % die Rentenquote dem Invaliditätsgrad entspricht. Vor dem 31. Dezember 2021 wurde eine halbe Invalidenrente bei einem Invaliditätsgrad von mindestens 50 % gewährt (Art. 28 Abs. 2 aIVG).

5. Würdigung der Rügen des Beschwerdeführers und Rückweisungsentscheid

Die Beschwerdeführerin rügte eine offensichtlich unrichtige Sachverhaltsfeststellung und eine Rechtsverletzung, insbesondere der Art. 28a Abs. 1 IVG und 16 ATSG, da das Kantonsgericht die allgemeine Einkommensvergleichsmethode zur Bewertung des Invaliditätsgrades nicht angewandt habe.

Das Bundesgericht hielt fest, dass der vom Kantonsgericht bestätigte Invaliditätsgrad von 50 % ab dem 1. Januar 2021 aus prozessualen Gründen nicht mehr in Frage gestellt werden kann (siehe Erwägung 2.2). Die Beschwerdeführerin bestreitet die medizinisch attestierte Leistungsminderung von 10 % (aufgrund psychischer Faktoren) ab dem 6. Mai 2022 nicht.

Jedoch fehlen im angefochtenen Urteil des Kantonsgerichts Angaben zum tatsächlich erzielten Einkommen der Beschwerdegegnerin bei der Stiftung C.__ (Invalideneinkommen). Es wurde nicht geklärt, ob dieses Einkommen aufgrund der festgestellten Leistungsminderung von 10 % ab dem 6. Mai 2022 gesunken ist oder ob es allenfalls einen "sozialen Lohnanteil" beinhaltet. Die Beschwerdeführerin machte zu Recht geltend, dass seit dem 1. Januar 2022 Art. 25 IVV nicht mehr vorsieht, Lohnelemente auszuschliessen, für die der Versicherte aufgrund seiner eingeschränkten Arbeitsfähigkeit keine Gegenleistung erbringen kann. Zudem warf die Beschwerdeführerin die Frage auf, ob eine höhere Rente gemäss Art. 88a Abs. 2 IVV erst ab dem 1. August 2022 hätte zugesprochen werden können.

Das Bundesgericht kam zum Schluss, dass aufgrund der fehlenden Feststellungen zum Invalideneinkommen und dessen allfälligen Komponenten (insbesondere "sozialer Lohn") eine zuverlässige Festsetzung des Invaliditätsgrades nach der Leistungsminderung nicht möglich ist. Die Bedingungen für eine Rentenrevision im Sinne von Art. 17 Abs. 1 ATSG können daher nicht beurteilt werden. Eine weitere Prüfung der Tragweite von Art. 25 IVV im Zusammenhang mit einem allfälligen "sozialen Lohn" wäre ohne gesicherte Faktenlage verfrüht.

6. Entscheid des Bundesgerichts

Das Bundesgericht hiess die Beschwerde im Rahmen ihrer Zulässigkeit gut. Das Urteil des Kantonsgerichts Wallis vom 9. Januar 2024 wurde aufgehoben, soweit es die Zuerkennung einer Rente auf der Grundlage eines Invaliditätsgrades von 55 % anstelle einer halben Rente ab dem 6. Mai 2022 betrifft. Die Angelegenheit wurde zur Ergänzung der Sachverhaltsfeststellungen und zur Neubeurteilung unter Berücksichtigung der seit dem 1. Januar 2022 geltenden Art. 25 und 88a Abs. 2 IVV an die kantonale Instanz zurückgewiesen.

7. Zusammenfassung der wesentlichen Punkte

  • Eingeschränkter Streitgegenstand: Die halbe Invalidenrente ab dem 1. Januar 2021 ist rechtskräftig und nicht mehr Gegenstand des Verfahrens vor Bundesgericht. Streitig war nur die Erhöhung des Invaliditätsgrades auf 55 % ab dem 6. Mai 2022.
  • Revisionsgrundsatz: Eine Rentenrevision erfordert eine Änderung des Invaliditätsgrades um mindestens 5 Prozentpunkte (Art. 17 Abs. 1 ATSG).
  • Fehlender Einkommensvergleich: Das Kantonsgericht hat den Invaliditätsgrad nach der Leistungsminderung ab Mai 2022 nicht mittels eines korrekten Einkommensvergleichs (Valideneinkommen vs. Invalideneinkommen) nach Art. 16 ATSG ermittelt.
  • Unzureichende Sachverhaltsfeststellung: Es fehlen im kantonalen Urteil Angaben zum effektiven Invalideneinkommen der Beschwerdegegnerin und zur Frage, ob ein allfälliger "sozialer Lohnanteil" vorliegt, der seit der IVG-Revision 2022 (Art. 25 IVV) anders zu behandeln ist.
  • Rückweisung: Aufgrund dieser fehlenden Sachverhaltsfeststellungen muss der Fall an das Kantonsgericht zurückgewiesen werden, damit es die notwendigen Abklärungen trifft und eine neue Entscheidung unter Berücksichtigung der aktuellen Rechtslage (insbesondere Art. 25 und 88a Abs. 2 IVV) trifft.