Zusammenfassung von BGer-Urteil 8C_687/2024 vom 22. August 2025

Es handelt sich um ein experimentelles Feature. Es besteht keine Gewähr für die Richtigkeit der Zusammenfassung.

Detaillierte Zusammenfassung des Urteils 8C_687/2024 des Schweizerischen Bundesgerichts vom 22. August 2025

Parteien: * Beschwerdeführer: A.__ (Versicherte Person) * Beschwerdegegnerin: Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (Suva)

Gegenstand: Unfallversicherung (insbesondere Invalidenrente nach mehreren Unfällen und Anwendung der Revisionsregeln)

Entscheid des Bundesgerichts: Die Beschwerde wird abgewiesen.

I. Sachverhalt (relevant für die Begründung)

Der Beschwerdeführer, geboren 1961, war seit 1998 als Bau(hilfs)arbeiter tätig und bei der Suva versichert. 1. Erster Unfall: Am 15. Februar 1999 erlitt er einen Arbeitsunfall an der rechten Schulter. Die Suva anerkannte die Leistungspflicht und sprach ihm nach initialen Rentenfestsetzungen (16 % Invalidität ab 2004) schliesslich mit Einspracheentscheid vom 28. Mai 2007 eine Invalidenrente bei einem Invaliditätsgrad von 32 % rückwirkend ab dem 1. Januar 2006 zu. 2. Berufswechsel: Bereits am 4. Oktober 1999, also wenige Monate nach dem ersten Unfall, wechselte der Beschwerdeführer seine Tätigkeit und arbeitete fortan als Speditionsmitarbeiter bei einer anderen Firma. 3. Zweiter Unfall: Ab Dezember 2014 als Lieferwagenfahrer angestellt und wiederum bei der Suva versichert, erlitt der Beschwerdeführer am 8. September 2020 einen weiteren Unfall (Bruch des fünften Mittelhandknochens links). 4. Suva-Entscheid 2022/2024: Die Suva erhöhte mit Verfügung vom 8. Juni 2022 die Invalidenrente ab 1. Juni 2022 auf einen Invaliditätsgrad von 33 % und einen versicherten Verdienst von Fr. 76'025.-, verneinte jedoch einen Anspruch auf eine höhere Integritätsentschädigung. Dieser Entscheid wurde mit Einspracheentscheid vom 8. Februar 2024 bestätigt. 5. Vorinstanzlicher Entscheid (Kantonales Versicherungsgericht): Der Beschwerdeführer erhob Beschwerde gegen den Suva-Entscheid. Das Versicherungsgericht des Kantons Aargau wies ihn am 27. Juni 2024 auf die Möglichkeit einer reformatio in peius (Schlechterstellung) bezüglich der Invalidenrente hin. Da der Beschwerdeführer seine Beschwerde nicht zurückzog, hob das kantonale Gericht mit Urteil vom 16. September 2024 den Suva-Einspracheentscheid auf und setzte die Invalidenrente bei einem Invaliditätsgrad von 32 % fest, bestätigte also den ursprünglichen Rentensatz vor dem zweiten Unfall. Hinsichtlich der Integritätsentschädigung wies es die Beschwerde ab.

II. Massgebende Rechtsgrundlagen und Fragestellung

Das Bundesgericht hatte zu prüfen, ob die Vorinstanz Bundesrecht verletzte, indem sie dem Beschwerdeführer im Zusammenhang mit den Folgen des Unfalls vom 8. September 2020 keine höhere Invalidenrente zusprach. Unbestritten blieb die Verneinung eines höheren Anspruchs auf Integritätsentschädigung.

Die zentralen rechtlichen Grundlagen sind: * Art. 17 Abs. 1 lit. a ATSG (Allgemeiner Teil des Sozialversicherungsrechts): Eine Invalidenrente wird revisionsweise erhöht, herabgesetzt oder aufgehoben, wenn sich der Invaliditätsgrad um mindestens fünf Prozentpunkte ändert. Dies ist die massgebende Erheblichkeitsschwelle für Rentenrevisionen. * Art. 16 ATSG: Der Invaliditätsgrad wird durch Einkommensvergleich ermittelt, wobei das Invalideneinkommen (was die Person trotz Invalidität noch verdienen kann) und das Valideneinkommen (was die Person ohne Invalidität verdienen könnte) gegenübergestellt werden. * Art. 24 Abs. 4 UVV (Verordnung über die Unfallversicherung): Diese Bestimmung regelt die Festlegung des versicherten Verdienstes bei Bezügern einer Invalidenrente, die einen weiteren versicherten Unfall erleiden, der zu einer höheren Invalidität führt. Sie legt fest, welcher Lohn für die neue Rente aus beiden Unfällen massgebend ist. * Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit: Für die Feststellung des Sachverhalts im Sozialversicherungsrecht genügt es, wenn das Gericht aufgrund der Würdigung aller relevanten Umstände zur Überzeugung gelangt ist, dass es sich um den wahrscheinlichsten aller in Betracht fallenden Geschehensabläufe handelt (BGE 139 V 176 E. 5.3).

III. Begründung des Bundesgerichts

Das Bundesgericht bestätigte die Rechtsauffassung der Vorinstanz und wies die Beschwerde des Versicherten ab.

  1. Umfassende Prüfung im Revisionsverfahren: Das Bundesgericht hielt fest, dass unbestrittenermassen der Gesundheitszustand des Beschwerdeführers durch den zweiten Unfall vom 8. September 2020 anspruchsrelevant verändert wurde. Dies löst ein Revisionsverfahren nach Art. 17 Abs. 1 lit. a ATSG aus. Bei Vorliegen eines Revisionsgrundes ist der Rentenanspruch in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht umfassend ("allseitig") zu prüfen, wobei keine Bindung an frühere Beurteilungen besteht (BGE 145 V 141 E. 5.4; 141 V 9 E. 2.3 und E. 6.1). Dies rechtfertigt ausdrücklich auch eine reformatio in peius durch die Vorinstanz.

  2. Unbestrittene Punkte zur Berechnung des Invaliditätsgrads: Es war unbestritten, dass der Beschwerdeführer seine letzte Tätigkeit als Lieferwagenfahrer aufgrund des neuen Unfalls nicht mehr ausüben kann. Es wurde auch anerkannt, dass ihm eine leidensangepasste Beschäftigung in einem ganztägigen Pensum mit einer um 25 % verminderten Leistungsfähigkeit zumutbar ist und er in einer solchen Tätigkeit ein Invalideneinkommen von Fr. 39'644.- erzielen könnte.

  3. Streitpunkt: Valideneinkommen und Berufswechsel 1999: Der Kern des Streits lag in der Festsetzung des Valideneinkommens (Einkommen, das der Beschwerdeführer ohne die Unfälle erzielt hätte).

    • Grundsatz: Für das Valideneinkommen wird in der Regel am zuletzt vor Eintritt der gesundheitlichen Beeinträchtigung erzielten Verdienst angeknüpft, da die bisherige Tätigkeit ohne Gesundheitsschaden fortgesetzt worden wäre. Ausnahmen müssen mit überwiegender Wahrscheinlichkeit erstellt sein (BGE 139 V 28 E. 3.3.2).
    • Argumentation der Vorinstanz und des Bundesgerichts: Die Vorinstanz ging davon aus, dass der Beschwerdeführer ohne die Unfälle mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nicht mehr im Baugewerbe, sondern als Speditionskraft tätig gewesen wäre, da er bereits im Oktober 1999 von sich aus die Stelle gewechselt hatte.
    • Analyse des Berufswechsels: Das Bundesgericht stellte fest, dass die Motivation für den Berufswechsel im Oktober 1999 den Akten nicht eindeutig zu entnehmen war. Entscheidend war jedoch, dass die Suva im ursprünglichen Rentenverfahren (nach dem ersten Unfall, das bis 2007 dauerte) das Valideneinkommen durchwegs gestützt auf den Verdienst bei der Spedition festlegte. Der bereits damals anwaltlich vertretene Beschwerdeführer hatte zwar die Höhe des Validenlohns kritisiert, jedoch nie geltend gemacht, der Stellenwechsel sei unfallbedingt erfolgt und die Grundlage der Berechnung falsch. Auch die damalige Vorinstanz sah keinen Anlass, davon abzuweichen. Dies deutet darauf hin, dass die damalige Beurteilung des Valideneinkommens als zutreffend erachtet wurde.
    • Ablehnung der Beschwerdeführerargumentation: Das Bundesgericht wies die Argumentation des Beschwerdeführers zurück, der Berufswechsel sei unfallbedingt gewesen und es handle sich um eine unzulässige Heranziehung der "Invalidenkarriere" (vgl. dazu BGE 145 V 141 E. 5.2.1). Die damaligen Arztberichte, die er jetzt zitierte, waren bereits damals in den Akten und wurden nicht übersehen. Vor diesem Hintergrund und der Tatsache, dass der Beschwerdeführer seine Schulter auch in der neuen Tätigkeit belastete, bestätigte das Bundesgericht die Annahme der Vorinstanz, der Stellenwechsel habe mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nicht unfallbedingt stattgefunden. Die Festsetzung des Valideneinkommens basierend auf dem indexierten Verdienst als Speditionsmitarbeiter (Fr. 60'006.- per 2022) hält somit vor Bundesrecht stand.
  4. Anwendung der 5%-Hürde (Art. 17 Abs. 1 lit. a ATSG):

    • Berechnung: Die Gegenüberstellung des Valideneinkommens von Fr. 60'006.- mit dem Invalideneinkommen von Fr. 39'644.- ergibt eine Erwerbseinbusse von Fr. 20'362.-, was einem Invaliditätsgrad von rund 34 % entspricht.
    • Vergleich zur bisherigen Rente: Dieser Invaliditätsgrad liegt lediglich zwei Prozentpunkte über dem bisherigen Invaliditätsgrad von 32 %.
    • Anwendbarkeit: Das Bundesgericht bekräftigte, dass die Erheblichkeitsschwelle von fünf Prozentpunkten gemäss Art. 17 Abs. 1 lit. a ATSG auch für die gesamthafte Neubestimmung des Invaliditätsgrads nach mehreren invalidisierenden Unfällen gilt (BGE 139 V 28 E. 3.3.1; 145 V 141 E. 7.3.1).
    • Art. 24 Abs. 4 UVV als reine Lohnregelung: Die Berufung des Beschwerdeführers auf Art. 24 Abs. 4 UVV als Ausnahme von der 5%-Hürde wurde zurückgewiesen. Das Bundesgericht hielt fest (in Anlehnung an BGE 123 V 45), dass Art. 24 Abs. 4 UVV eine Regelung zur Anpassung des versicherten Verdienstes (Art. 15 Abs. 1 UVG) im Rahmen einer revisionsweisen Neufestsetzung der Rente ist. Eine Ausnahme von den allgemeinen Revisionsvoraussetzungen (insbesondere der 5%-Hürde) lasse sich daraus nicht ableiten, auch wenn die Bestimmung nur von einer "höheren Invalidität" spricht, ohne explizit eine erhebliche Veränderung zu verlangen.
    • Fazit: Da die Veränderung des Invaliditätsgrads von 32 % auf 34 % die Erheblichkeitsschwelle von fünf Prozentpunkten nicht erreicht, sind die Voraussetzungen für eine revisionsweise Erhöhung der Invalidenrente nach Art. 17 Abs. 1 lit. a ATSG nicht erfüllt.
  5. Keine Neufestsetzung des versicherten Verdienstes: Folgerichtig verzichtete die Vorinstanz auch auf eine Neufestsetzung des versicherten Verdienstes. Da keine revisionsweise Neufestsetzung der Rente erfolgt und sich damit der Invaliditätsgrad nicht in revisionsrelevanter Weise verändert, ist der Tatbestand von Art. 24 Abs. 4 UVV nicht erfüllt (vgl. Urteile 8C_636/2018 E. 5.3 und 8C_634/2008 E. 4.3).

IV. Zusammenfassung der wesentlichen Punkte
  1. Revisionsprüfung bei mehreren Unfällen: Bei mehreren invalidisierenden Unfällen ist der Invaliditätsgrad gesamthaft und umfassend neu zu prüfen. Dies schliesst eine reformatio in peius (Schlechterstellung) durch die Rechtsmittelinstanz ein, da keine Bindung an frühere Beurteilungen besteht.
  2. Valideneinkommen bei Berufswechsel: Die Bestimmung des Valideneinkommens, das eine versicherte Person ohne Unfälle erzielt hätte, stützt sich auf den zuletzt ausgeübten Beruf. Ein Berufswechsel kurz nach dem ersten Unfall wird nicht als unfallbedingt betrachtet, wenn der Versicherte und sein damaliger Rechtsvertreter diese Grundlage in einem langjährigen Rentenverfahren nicht angefochten haben und keine überwiegende Wahrscheinlichkeit für einen unfallbedingten Wechsel besteht.
  3. Anwendung der 5%-Hürde: Eine revisionsweise Anpassung der Invalidenrente ist gemäss Art. 17 Abs. 1 lit. a ATSG nur zulässig, wenn sich der Invaliditätsgrad um mindestens fünf Prozentpunkte ändert. Diese Erheblichkeitsschwelle gilt auch bei der Neubestimmung des Invaliditätsgrades nach mehreren Unfällen.
  4. Art. 24 Abs. 4 UVV als reine Lohnregelung: Art. 24 Abs. 4 UVV regelt lediglich die Berechnung des versicherten Verdienstes im Rahmen einer Rentenrevision, stellt aber keine Ausnahme von der generellen 5%-Hürde des Art. 17 Abs. 1 lit. a ATSG dar.
  5. Ergebnis: Da der nach dem zweiten Unfall neu berechnete Invaliditätsgrad von 34 % den bisherigen Grad von 32 % nur um 2 Prozentpunkte übertraf, wurde die für eine Rentenrevision erforderliche Erheblichkeitsschwelle von fünf Prozentpunkten nicht erreicht. Die bisherige Invalidenrente von 32 % wurde daher bestätigt.