Zusammenfassung von BGer-Urteil 6B_1327/2023 vom 31. Juli 2025

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Gerne fasse ich das bereitgestellte Urteil des Schweizerischen Bundesgerichts 6B_1327/2023 vom 31. Juli 2025 detailliert zusammen:

Detaillierte Zusammenfassung des Bundesgerichtsurteils 6B_1327/2023

1. Einleitung und Sachverhalt

Das Bundesgericht hatte über eine Beschwerde in Strafsachen von A.__ (Beschwerdeführer) gegen ein Urteil des Obergerichts des Kantons Solothurn vom 16. August 2023 zu befinden. Der Beschwerdeführer war wegen mehrfacher Widerhandlungen gegen die Strassenverkehrsgesetzgebung (u.a. mehrfaches Führen eines Motorfahrzeugs ohne gültige Fahrerlaubnis, widerrechtliche/missbräuchliche Verwendung von Kontrollschildern, Fahren ohne Haftpflichtversicherung, grobe Verletzung der Verkehrsregeln) verurteilt worden.

Das Amtsgericht von Solothurn-Lebern (erste Instanz) sprach den Beschwerdeführer schuldig, widerrief eine frühere Geldstrafe und verurteilte ihn zu einer bedingten Freiheitsstrafe von 13 Monaten sowie einer (teilweise als Zusatzstrafe ausgesprochenen) bedingten Geldstrafe von 10 Tagessätzen. Die Probezeit betrug 5 Jahre.

Der Beschwerdeführer erhob Berufung, beschränkt auf den Widerruf der Geldstrafe. Die Staatsanwaltschaft erhob Anschlussberufung, welche sie auf die Frage des bedingten Vollzugs der Geld- und der Freiheitsstrafe eingrenzte.

Das Obergericht des Kantons Solothurn (Vorinstanz) stellte die Rechtskraft der Schuldsprüche fest. Es verurteilte den Beschwerdeführer zu einer teilbedingten Freiheitsstrafe von 21 Monaten, wobei der Vollzug im Umfang von 11 Monaten aufgeschoben wurde und 10 Monate unbedingt zu vollziehen sind, ebenfalls unter Ansetzung einer Probezeit von 5 Jahren. Auf den Widerruf der Geldstrafe verzichtete die Vorinstanz.

Mit seiner Beschwerde in Strafsachen vor dem Bundesgericht beantragte der Beschwerdeführer die Aufhebung des obergerichtlichen Urteils und die Verurteilung zu einer bedingten Freiheitsstrafe von 13 Monaten, wie vom Amtsgericht ursprünglich ausgesprochen. Eventualiter verlangte er die Rückweisung an die Vorinstanz zur Neubeurteilung.

2. Rechtliche Würdigung durch das Bundesgericht

Das Bundesgericht setzte sich mit drei zentralen Rügen des Beschwerdeführers auseinander:

2.1. Verletzung des Verschlechterungsverbots (Art. 391 Abs. 2 StPO i.V.m. Art. 404 StPO)

  • Rüge des Beschwerdeführers: Er machte geltend, er habe seine Berufung auf den Widerruf des bedingten Vollzugs seiner vorbestehenden Geldstrafe beschränkt, während die Beschwerdegegnerin sich in ihrer Anschlussberufung einzig auf den bedingt aufgeschobenen Vollzug der Freiheitsstrafe bezogen habe. Die im Rechtsmittelverfahren geltende Dispositionsmaxime, das Verbot der reformatio in peius sowie die Trennbarkeit der Materie stünden einer Erhöhung der Freiheitsstrafe durch die Vorinstanz entgegen.
  • Begründung des Bundesgerichts:
    • Das Bundesgericht verwies auf seine gefestigte Rechtsprechung (insbesondere BGE 144 IV 383 E. 1.1), wonach die Fragen des Strafmasses und des bedingten Strafvollzugs wegen ihres engen Konnexes nicht getrennt beurteilt werden können. Bei einer Anfechtung des Strafmasses oder des bedingten Vollzugs erstreckt sich die Prüfungsbefugnis der Rechtsmittelinstanz grundsätzlich auf beide Aspekte.
    • Im vorliegenden Fall richtete sich die Berufung des Beschwerdeführers gegen den Widerruf einer Geldstrafe, was gemäss der genannten Rechtsprechung nicht isoliert von der Frage des bedingten Strafvollzugs beurteilt werden kann.
    • Die Beschwerdegegnerin hatte zudem eine Anschlussberufung erhoben, die sich direkt gegen die erstinstanzliche Gewährung des bedingten Strafvollzugs wandte. Damit lag ein Rechtsmittel vor, das den Strafvollzug – und implizit auch das Strafmass – betraf und zu Ungunsten des Beschwerdeführers wirken konnte.
    • Schlussfolgerung: Das Bundesgericht stellte fest, dass die Prüfungsbefugnis der Vorinstanz die Frage des Strafmasses umfasste und das Verschlechterungsverbot (Art. 391 Abs. 2 StPO) aufgrund der Anschlussberufung nicht verletzt wurde.

2.2. Bundesrechtswidrige Anwendung von Art. 19 Abs. 2 StPO i.V.m. Art. 334 Abs. 1 StPO und kantonalem Prozessrecht (Strafkompetenz des Einzelgerichts)

  • Rüge des Beschwerdeführers: Der Beschwerdeführer argumentierte, die Anklage sei beim Amtsgericht als Einzelgericht eingereicht worden, dessen Urteilskompetenz im Kanton Solothurn gemäss § 12 Abs. 1 lit. c GO/SO auf maximal 18 Monate Freiheitsstrafe begrenzt sei. Da das erstinstanzliche Gericht keine Überweisung an ein Kollegialgericht (Dreiergericht) vorgenommen habe, sei die Vorinstanz ebenfalls an diese Strafobergrenze von 18 Monaten gebunden gewesen. Die Erhöhung der Strafe auf 21 Monate verletze somit die Urteilskompetenz der Vorinstanz und den Anspruch auf ein erstinstanzliches Kollegialgericht gemäss Art. 19 StPO sowie verfassungsrechtliche Garantien (Art. 29 Abs. 2 BV, Art. 30 Abs. 1 BV, Art. 6 Ziff. 1 EMRK).
  • Begründung des Bundesgerichts:
    • Das Bundesgericht hielt fest, dass sich in der Strafprozessordnung keine ausdrückliche Norm finde, welche das Ermessen des Berufungsgerichts bezüglich der Strafzumessung bei erstinstanzlichen Urteilen von Einzelgerichten einschränkt. Die Frage sei im Rahmen einer Auslegung von Art. 19 Abs. 2 StPO zu klären.
    • Auslegungsmethoden: Das Gericht wandte einen pragmatischen Methodenpluralismus an:
      • Wortlaut (grammatikalische Auslegung): Art. 19 Abs. 2 StPO ermächtigt die Kantone, Einzelgerichte für Verbrechen und Vergehen bis zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren vorzusehen. Eine Bindung für die Berufungsinstanz geht daraus nicht hervor.
      • Gesetzesmaterialien (historische/teleologische Auslegung): Die Botschaft zum StPO (BBl 2006 1139) zeigt, dass Art. 19 Abs. 2 StPO der Entlastung der erstinstanzlichen Gerichte dienen sollte. Eine Bindungswirkung für das Rechtsmittelverfahren wurde weder beabsichtigt noch diskutiert.
      • Systematik: Art. 398 Abs. 2 StPO stattet die Berufungsgerichte mit voller Kognition aus. Sie können das Urteil in allen angefochtenen Punkten umfassend überprüfen, sowohl in tatsächlicher als auch in rechtlicher Hinsicht. Dies schliesst reine Ermessensfragen wie die Strafzumessung explizit ein. Eine Einschränkung dieser Befugnis aufgrund der erstinstanzlichen Gerichtsbesetzung (Einzel- oder Kollegialgericht) findet keine Stütze in Gesetz oder Lehre.
      • Praktische Konsequenzen: Würde man der Argumentation des Beschwerdeführers folgen, käme den erstinstanzlichen Einzelgerichten im Ergebnis ein umfassenderes Strafermessen zu als den übergeordneten Berufungsgerichten, was nicht sachgerecht sei. Ausserdem hätten die unterschiedlichen kantonalen Regelungen zur Einzelgerichtskompetenz (z.B. 1 Jahr vs. 18 Monate im Kanton Solothurn) zu kaum zu rechtfertigenden Unterschieden im Strafermessen der Berufungsgerichte geführt, was dem Gesetzgeber nicht vorgeschwebt haben dürfte.
    • Schlussfolgerung: Das Bundesgericht lehnte die vom Beschwerdeführer vertretene Interpretation ab. Es liege weder eine Verletzung der sachlichen Zuständigkeit der ersten Instanz noch des Instanzenzugs vor. Das Berufungsgericht kann somit, unabhängig von der erstinstanzlichen Gerichtsbesetzung, innerhalb des gesetzlichen Strafrahmens und unter Beachtung des Verbots der reformatio in peius (welches hier wegen der Anschlussberufung nicht griff) auch eine höhere Strafe als die einzelgerichtlich zulässige aussprechen.

2.3. Gewährung des bedingten Strafvollzugs (Art. 42 Abs. 1 StGB)

  • Rüge des Beschwerdeführers: Er kritisierte die vorinstanzliche Ausfällung einer teilbedingten bzw. unbedingten Freiheitsstrafe und rügte eine Verletzung von Art. 42 Abs. 1 StGB, da die Vorinstanz diverse prognoserelevante Umstände komplett ausser Acht gelassen habe.
  • Begründung des Bundesgerichts:
    • Rechtliche Grundlagen zur Legalprognose: Das Gericht verwies auf die Grundsätze von Art. 42 Abs. 1 StGB: Der bedingte Vollzug einer Freiheitsstrafe von höchstens zwei Jahren ist die Regel, wenn eine unbedingte Strafe nicht notwendig erscheint, um den Täter von weiteren Delikten abzuhalten. Es genügt die Abwesenheit der Befürchtung, dass sich der Täter nicht bewähren wird (negative Prognose). Nur bei einer ungünstigen Prognose darf davon abgewichen werden (BGE 134 IV 1 E. 4.2.2). Die Beurteilung erfolgt anhand einer Gesamtwürdigung aller wesentlichen Umstände (Tatumstände, Vorleben, Leumund, Vorstrafen). Bei der Prognosestellung steht dem Sachgericht ein erheblicher Ermessensspielraum zu.
    • Teilbedingte Strafe (Art. 43 StGB): Für Freiheitsstrafen zwischen einem und zwei Jahren ist der vollständige Strafaufschub die Regel. Die teilbedingte Strafe kommt nur subsidiär zur Anwendung, wenn der Aufschub wenigstens eines Teils der Strafe aus spezialpräventiver Sicht erfordert, dass der andere Strafteil unbedingt ausgesprochen wird (BGE 144 IV 277 E. 3.1.1).
    • Anwendung im konkreten Fall:
      • Die Vorinstanz verhängte eine Freiheitsstrafe von 21 Monaten, für die grundsätzlich die Regel des vollständigen Strafaufschubs gilt. Sie nahm jedoch eine ungünstige Legalprognose hinsichtlich eines vollbedingten Vollzugs an, was das Bundesgericht als innerhalb des Ermessens liegend bestätigte.
      • Begründung der ungünstigen Prognose durch die Vorinstanz (vom Bundesgericht gestützt):
        • Erhebliche strafrechtliche Vorbelastung: Der Beschwerdeführer wurde wegen zahlreicher, teilweise einschlägiger Widerhandlungen gegen das Strassenverkehrsgesetz schuldig gesprochen, die er zwischen Mai 2018 und Februar 2021 beging, also auch während einer laufenden Probezeit. Seine Vorstrafen reichen bis ins Jahr 2007 zurück und sind mehrfach einschlägig.
        • Hartnäckigkeit und Dreistigkeit: Der Beschwerdeführer zeigte eine "unbekümmerte deliktische Tätigkeit". Er löste noch am Tag seiner polizeilichen Einvernahme ein neues Fahrzeug ein, obwohl er seit 2002 keine gültige deutsche Fahrerlaubnis und seit 2008 bzw. 2014 in der Schweiz ein Verwendungsverbot für sämtliche Fahrzeugkategorien besass (und eine Sperrfrist bis 2025 bestand). Seine Beteuerung, reinen Tisch machen zu wollen, sei vor diesem Hintergrund eine "hohle Phrase". Die Vorinstanz würdigte auch die Anweisung, ein Fahrzeug ausserhalb seines Grundstücks abzustellen, als Anhaltspunkt für Dreistigkeit.
        • Mangelnde Einsicht und Reue: Der Beschwerdeführer habe trotz Nachfrage nicht erklären können, weshalb er notorisch delinquiert habe, sondern lediglich auf seine "Dummheit" verwiesen. Die Inanspruchnahme der Bewährungshilfe sei erfolgt, um drohende Untersuchungshaft zu umgehen. Als mehrfach verurteilter Betrüger sei er sich bewusst, was von ihm gehört werden wolle, weshalb die Einschätzung der Bewährungshilfe relativiert werden müsse.
      • Würdigung der entlastenden Umstände: Die Vorinstanz hatte zwar anerkannt, dass der Beschwerdeführer einer geregelten Erwerbstätigkeit nachgeht und seit Ende 2020 deliktisch nicht mehr in Erscheinung getreten ist. Diese Punkte konnten jedoch die negativen Prognosekriterien nicht aufwiegen.
    • Schlussfolgerung: Das Bundesgericht erachtete die Begründung der Vorinstanz als nachvollziehbar. Angesichts der erheblichen Vorbelastung, Hartnäckigkeit und mangelnden Einsicht sei von einer schlechten Legalprognose für einen vollbedingten Vollzug auszugehen. Die Anordnung eines teilbedingten Vollzugs (10 Monate unbedingt zu vollziehen) sei zur Begegnung der Rückfallgefahr und zur Erhöhung der Bewährungsaussichten geboten und stelle keine Ermessensverletzung dar.

2.4. Verletzung der Begründungspflicht (Art. 29 Abs. 2 BV / Art. 3 Abs. 2 lit. c StPO)

  • Rüge des Beschwerdeführers: Der Beschwerdeführer rügte abschliessend eine "generelle" Verletzung der Begründungspflicht.
  • Begründung des Bundesgerichts: Soweit sich die Rüge auf die vorinstanzlichen Erwägungen zum Strafvollzug bezog, erachtete das Bundesgericht die Begründungsdichte als ausreichend. Im Übrigen sei die Rüge unsubstanziiert und wurde nicht behandelt.

3. Entscheid des Bundesgerichts

Das Bundesgericht wies die Beschwerde ab, soweit darauf eingetreten wurde. Die Kosten des Verfahrens wurden dem Beschwerdeführer auferlegt.

Kurze Zusammenfassung der wesentlichen Punkte:

  1. Nicht-Trennbarkeit von Strafmass und bedingtem Vollzug: Bei Anfechtung des Strafmasses oder des bedingten Strafvollzugs in der Berufung umfasst die Prüfungsbefugnis der Rechtsmittelinstanz stets beide Aspekte vollständig (BGE 144 IV 383). Eine Anschlussberufung gegen den bedingten Vollzug öffnete das Strafmass für eine Überprüfung zu Ungunsten des Beschwerdeführers, weshalb das Verschlechterungsverbot nicht verletzt wurde.
  2. Strafkompetenz des Berufungsgerichts unabhängig vom Einzelgericht: Die durch kantonales Recht festgelegte Strafkompetenz von erstinstanzlichen Einzelgerichten (hier 18 Monate) bindet das Berufungsgericht nicht. Dieses verfügt gemäss Art. 398 Abs. 2 StPO über volle Kognition und kann innerhalb des gesetzlichen Strafrahmens auch höhere Strafen aussprechen, selbst wenn die erste Instanz als Einzelgericht tagte und die internen Überweisungspflichten nach Art. 334 Abs. 1 StPO nicht einhielt.
  3. Ungünstige Legalprognose für vollbedingten Vollzug: Die Vorinstanz durfte eine ungünstige Legalprognose annehmen und eine teilbedingte Freiheitsstrafe (10 Monate unbedingt) anordnen. Dies wurde durch die extensive und einschlägige strafrechtliche Vorbelastung, die Hartnäckigkeit und Dreistigkeit des Beschwerdeführers bei der Begehung neuer Delikte (z.B. Fahren trotz langjährigem Verbot und neuer Fahrzeugeinlösung am Tag der Einvernahme) sowie eine mangelnde, glaubhafte Einsicht und Reue hinreichend begründet.