Zusammenfassung von BGer-Urteil 1C_667/2024 vom 4. August 2025

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Hier ist eine detaillierte Zusammenfassung des Urteils des Schweizerischen Bundesgerichts 1C_667/2024 vom 4. August 2025:

Zusammenfassung des Bundesgerichtsurteils 1C_667/2024 vom 4. August 2025

A. Parteien und Sachverhalt

Die Beschwerdeführerin A.__, eine 1978 geborene Gruppenleiterin der Genfer Kantonspolizei mit 16 Jahren operativer Erfahrung, befuhr am 29. Januar 2017 gegen 22:30 Uhr mit einem Dienstfahrzeug und eingeschalteten Blaulichtern, aber ohne Sirene, eine Strasse, auf der sie die erlaubte Geschwindigkeit von 50 km/h um 52 km/h überschritt (gemessene 108 km/h abzüglich Sicherheitsmarge).

  • Strafrechtliche Vorgeschichte:

    • Am 6. Dezember 2019 wurde sie vom Polizeigericht des Kantons Genf wegen grober Verletzung der Verkehrsregeln (Art. 90 Abs. 2 Strassenverkehrsgesetz, SVG) zu einer bedingten Geldstrafe verurteilt.
    • Die Strafkammer des Genfer Justizhofs (Cour de justice) erkannte sie am 1. Juni 2021 schuldig der vorsätzlichen Verletzung fundamentaler Verkehrsregeln (Art. 90 Abs. 3 und 4 lit. b SVG). Die Strafe wurde jedoch gemäss Art. 100 Ziff. 4, dritter Satz, aSVG (in der damals gültigen Fassung, welche eine fakultative Strafminderung vorsah) gemildert auf 280 Stunden gemeinnütziger Arbeit, bedingt. Die minimale Freiheitsstrafe nach Art. 90 Abs. 3 SVG beträgt ein Jahr.
    • Das Bundesgericht bestätigte dieses Urteil am 16. August 2022 (6B_1049/2021).
    • Am 19. November 2024 wurde der Beschwerdeführerin durch die Gnadengesuchskommission des Grossen Rats des Kantons Genf die gemeinnützige Arbeit erlassen.
  • Administrativrechtliche Vorgeschichte (Führerausweisentzug):

    • Das Strassenverkehrs- und Schifffahrtsamt des Kantons Freiburg (OCN) entzog der Beschwerdeführerin am 8. Februar 2023 den Führerausweis für 24 Monate (Art. 16c Abs. 2 lit. a bis SVG).
    • Das Verwaltungsgericht des Kantons Freiburg (III. Cour administrative) hiess die Beschwerde der A.__ am 17. Juli 2023 teilweise gut und wies die Sache zur Prüfung einer Reduktion der Entzugsdauer gemäss Art. 16 Abs. 3 SVG an das OCN zurück.
    • Am 16. Januar 2024 sprach das OCN einen Führerausweisentzug von 12 Monaten aus, unter Berücksichtigung der am 1. Oktober 2023 in Kraft getretenen Änderung von Art. 16c Abs. 2 lit. a bis SVG.
    • Das Verwaltungsgericht des Kantons Freiburg bestätigte am 18. Oktober 2024 die Dauer von 12 Monaten, stützte sich dabei jedoch auf Art. 16 Abs. 3, zweiter Satz, SVG.

Die Beschwerdeführerin beantragt dem Bundesgericht primär die Aufhebung des kantonalen Urteils und die Anordnung einer Verwarnung, subsidiär die Rückweisung der Sache.

B. Rechtliche Argumentation des Bundesgerichts

Das Bundesgericht trat auf die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten ein, da die Zulässigkeitsvoraussetzungen erfüllt waren (Art. 90, 86 Abs. 1 lit. d, 89 Abs. 1 lit. b und c BGG).

1. Verletzung des Rückwirkungsverbots (lex mitior) und Auslegung von Art. 16 Abs. 3 SVG

Die Beschwerdeführerin rügte primär eine Verletzung von Art. 2 Abs. 2 StGB und des Prinzips der lex mitior.

  • Grundsätze der lex mitior: Das Bundesgericht hält fest, dass der Führerausweisentzug eine administrative Massnahme mit überwiegend präventiver und erzieherischer Funktion ist, die jedoch in ihrer Natur einer strafrechtlichen Sanktion ähnelt und von dieser unabhängig ist. Grundsätze des Strafrechts, wie das der lex mitior (Art. 2 Abs. 2 StGB), finden analoge Anwendung, wenn eine neue, mildere Gesetzesbestimmung nach der Tat, aber vor dem Urteil in Kraft tritt (BGE 133 II 331 E. 4.2; 149 II 96 E. 4.1).

  • Rechtslage im Zeitpunkt des Urteils und der Tat:

    • Strafrechtlich: Art. 90 Abs. 3 und 4 lit. b SVG regeln qualifizierte Geschwindigkeitsüberschreitungen mit einer Freiheitsstrafe von einem bis vier Jahren. Art. 100 Ziff. 4 SVG (in der am 1. Oktober 2023 revidierten Fassung) sieht für Fahrer von Einsatzfahrzeugen eine obligatorische Strafminderung vor, wenn sie nicht die gebotene Vorsicht walten liessen oder die notwendigen Warnsignale nicht gaben (im Gegensatz zur früheren Fassung, die eine fakultative Minderung vorsah). Art. 100 Ziff. 5 SVG (seit 1. Oktober 2023) berücksichtigt bei Geschwindigkeitsüberschreitungen auf offiziellen Dringlichkeitsfahrten nur die Differenz zur interventionsangemessenen Geschwindigkeit.
    • Administrativrechtlich: Art. 16c Abs. 2 lit. a bis SVG (seit 1. Oktober 2023) sieht bei vorsätzlicher Verletzung fundamentaler Verkehrsregeln einen Mindestentzug von zwei Jahren vor, wobei die Dauer um maximal zwölf Monate reduziert werden kann, wenn eine Strafe von weniger als einem Jahr verhängt wurde. Art. 16 Abs. 3, zweiter Satz, SVG, welcher die Reduktion der Mindestentzugsdauer erlaubt, wenn die Strafe gemäss Art. 100 Ziff. 4, dritter Satz, SVG gemildert wurde, ist jedoch seit 1. August 2016 unverändert geblieben.
  • Fehlerhafte Anwendung der lex mitior durch die Vorinstanz: Das Bundesgericht stellte fest, dass die Vorinstanz (Kantonales Verwaltungsgericht) zu Unrecht angenommen hatte, Art. 16 Abs. 3 SVG sei zum 1. Januar 2023 geändert worden. Da die massgebende Bestimmung für den Führerausweisentzug (Art. 16 Abs. 3 SVG) seit dem Vorfall unverändert ist, stellt sich die Frage der lex mitior für die administrativen Massnahmen nicht. Der Rüge der Beschwerdeführerin, die sich auf abstrakte Erwägungen zum lex mitior-Prinzip beschränkte, wurde daher nicht stattgegeben.

  • Auslegung von Art. 16 Abs. 3, zweiter Satz, SVG (Ob Reduktion der Entzugsdauer obligatorisch ist): Da die Frage, ob Art. 16 Abs. 3, zweiter Satz, SVG eine obligatorische Reduktion der Entzugsdauer vorschreibt, wenn die strafrechtliche Sanktion nach Art. 100 Ziff. 4, dritter Satz, SVG gemildert wurde, noch nicht vom Bundesgericht geklärt wurde, nahm das Bundesgericht eine detaillierte Gesetzesauslegung vor:

    • Wortlautauslegung: Der Wortlaut ("kann reduziert werden") deutet auf ein Ermessen hin, nicht auf eine Pflicht zur Reduktion.
    • Historische Auslegung: Die Gesetzgebungsgeschichte zeigt, dass die Reduktion "ausnahmsweise" erfolgen soll. Im Botschaft von 2015 wurde betont, dass die Reduktion "à titre exceptionnel" (ausnahmsweise) erfolgen kann. Im Zuge der Revision von Art. 100 Ziff. 4 SVG (2023) wurde zwar die strafrechtliche Minderung obligatorisch, jedoch wurde bewusst darauf verzichtet, eine entsprechende Pflicht für die administrativen Behörden zu statuieren. Anträge im Parlament, die einen Verzicht auf den Entzug ermöglichen sollten, wurden abgelehnt. Dies deutet darauf hin, dass der Gesetzgeber die administrative Ermessensfreiheit beibehalten wollte.
    • Systematische und teleologische Auslegung: Art. 16 Abs. 3, erster Satz, SVG gewährt den Verwaltungsbehörden ein weites Ermessen bei der Festsetzung der Entzugsdauer. Die Ausnahme in Art. 16 Abs. 3, zweiter Satz, SVG soll dieses Ermessen wiederherstellen, indem die starre Mindestentzugsdauer unterschritten werden kann, nicht aber eine neue obligatorische Beschränkung des Ermessens einführen. Eine obligatorische Reduktion wäre auch nicht mit der Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls und den präventiven Zielen des Führerausweisentzugs vereinbar, insbesondere bei schwerwiegenden Fehlern oder wiederholten Verstössen.
    • Fazit zur Auslegung: Art. 16 Abs. 3, zweiter Satz, SVG verpflichtet die Administrativbehörde nicht, die Entzugsdauer zu reduzieren, wenn die strafrechtliche Strafe gemäss Art. 100 Ziff. 4, dritter Satz, SVG gemildert wurde. Die Behörde behält ihr Ermessen und ist nur ausnahmsweise nicht an die Mindestentzugsdauer gebunden.

2. Ermessensmissbrauch und Verhältnismässigkeit (Art. 5 Abs. 2 BV)

Die Beschwerdeführerin rügte zudem eine Verletzung von Art. 16 Abs. 3, 100 Ziff. 4 und 5 SVG sowie des Verhältnismässigkeitsprinzips. Sie machte geltend, dass die Vorinstanz keine Linearität zur strafrechtlichen Strafminderung beachtet habe.

  • Grundsätze: Die Festsetzung der Entzugsdauer erfolgt unter Berücksichtigung der Verkehrssicherheitsgefährdung, der Schwere des Verschuldens, des Vorlebens als Motorfahrzeugführer und der beruflichen Notwendigkeit des Führens (Art. 16 Abs. 3 SVG). Das Bundesgericht greift nur bei Ermessensmissbrauch ein (BGE 128 II 173 E. 4b). Das Verhältnismässigkeitsprinzip (Art. 5 Abs. 2 BV) verlangt, dass eine Massnahme geeignet, erforderlich und zumutbar ist (BGE 149 I 49 E. 5.1).

  • Anwendung auf den Fall:

    • Die Vorinstanz hat bei der Festsetzung des 12-monatigen Entzugs alle Umstände berücksichtigt: Die Tätigkeit der Beschwerdeführerin als Polizistin, ihre 20-jährige Fahrerfahrung und fehlende Vorstrafen wurden zugunsten der Beschwerdeführerin gewichtet. Dagegen standen die Tatsache, dass sie nur Blaulichter, aber keine Sirene benutzte (Art. 16 Verkehrsregelnverordnung, VRV), und die unverhältnismässige Geschwindigkeit. Da sie nicht mit der gebotenen Vorsicht gehandelt hatte, konnte sie strafrechtlich keine Straffreiheit beanspruchen, was auch administrativ zu berücksichtigen war.
    • Das Bundesgericht befand, dass die vorinstanzliche Würdigung der Umstände nicht zu beanstanden sei. Der Entscheid, den Führerausweis für 12 Monate zu entziehen, stellt keinen Ermessensmissbrauch dar. Der Entzug von 12 Monaten entspricht der Hälfte der gesetzlichen Mindestentzugsdauer von zwei Jahren. Damit wurde die Dauer erheblich reduziert und dem Umstand der offiziellen Dringlichkeitsfahrt explizit Rechnung getragen, was eine Abweichung vom Grundsatz der Unreduzierbarkeit darstellt.
    • Keine lineare Reduktion: Die Beschwerdeführerin verlangte eine lineare Reduktion der Entzugsdauer analog zur strafrechtlichen Strafminderung (was sie auf 17 Tage schätzte, vom Bundesgericht auf 146 Tage korrigiert). Das Bundesgericht lehnte dies ab. Die strafrechtliche Strafzumessung (Art. 47-48a StGB) folgt anderen Regeln und Zielen als der administrative Führerausweisentzug. Obwohl die Administrativbehörde sich von der strafrechtlichen Minderung inspirieren lassen kann, ist sie nicht an deren Umfang gebunden. Eine Pflicht zur linearen Reduktion würde dem Ermessen der Administrativbehörden widersprechen.
    • Art. 100 Ziff. 5 SVG (angemessene Geschwindigkeit): Die Rüge, die Vorinstanz habe Art. 100 Ziff. 5 SVG nicht beachtet, wurde ebenfalls abgewiesen. Diese Bestimmung (die eine vorteilhaftere Qualifikation des Sachverhalts für den Strafprozess vorsieht, indem nur die Differenz zur interventionsangemessenen Geschwindigkeit zählt) hat keine unmittelbare bindende Wirkung für die Administrativbehörde. Da die Minderung nach Art. 100 Ziff. 4, dritter Satz, SVG die Administrativbehörde nicht zur Reduktion verpflichtet, kann Art. 100 Ziff. 5 SVG auch keine Berücksichtigung einer "angemessenen Geschwindigkeit" zwingend vorschreiben. Die Beschwerdeführerin hatte zudem nicht dargelegt, wie sich dies konkret auf den Ausgang ihres Falles ausgewirkt hätte.

3. Verzicht auf Entzug / Verwarnung (Art. 16 Abs. 3, zweiter Satz, SVG)

Zuletzt rügte die Beschwerdeführerin eine Verletzung von Art. 16 Abs. 3, zweiter Satz, SVG sowie das Willkürverbot. Sie argumentierte, die Administrativbehörde müsse auf einen Entzug verzichten können und die Vorinstanz habe ihr Ermessen nicht ausgeübt, indem sie sich an eine minimale Entzugsdauer gebunden fühlte. Sie forderte stattdessen eine Verwarnung.

  • Auslegung von Art. 16 Abs. 3, zweiter Satz, SVG (Ob Verzicht auf Entzug möglich ist):

    • Wortlaut: Spricht nur von "Reduktion" der Dauer, nicht von "Verzicht" oder "Befreiung".
    • Historie: Die Botschaft von 2015 unterschied klar zwischen Strafbefreiung (führt zu keinem Entzug) und Strafminderung (führt zur ausnahmsweisen Reduktion der Entzugsdauer). Ein Verzicht auf den Entzug war bei Strafminderung nicht vorgesehen. Ein parlamentarischer Antrag, der generell einen Verzicht auf den Entzug oder die Verhängung einer Verwarnung ermöglichen sollte, wurde im Rahmen der SVG-Revision 2023 abgelehnt.
    • Systematik: Der Verweis in Art. 16 Abs. 3, zweiter Satz, SVG bezieht sich nur auf Art. 100 Ziff. 4, dritter Satz, SVG, also auf Fälle, in denen der Fahrer strafbar bleibt, aber die Strafe gemildert wird. Eine Verwarnung ist gemäss Gesetz nur für leichte Widerhandlungen (Art. 16a Abs. 1 und 3 SVG) vorgesehen, nicht für schwere Widerhandlungen wie die vorliegende (Art. 16c SVG). Die strafrechtliche Milderung gemäss Art. 100 Ziff. 4, dritter Satz, SVG ändert nichts an der Schwere der Widerhandlung im administrativen Sinne.
    • Fazit zur Auslegung: Keine Auslegungsmethode spricht für die Möglichkeit, bei Anwendung von Art. 16 Abs. 3, zweiter Satz, SVG auf den Führerausweisentzug zu verzichten oder ihn in eine Verwarnung umzuwandeln.
  • Anwendung auf den Fall: Da die Beschwerdeführerin eine schwere Widerhandlung (Art. 16c SVG) begangen hat, konnte die Administrativbehörde weder auf den Entzug verzichten noch diesen in eine Verwarnung umwandeln. Eine analoge Anwendung von Art. 48a Abs. 2 StGB (Verhängung einer Strafe anderer Art) kommt ebenfalls nicht in Betracht.

C. Ergebnis

Das Bundesgericht wies die Beschwerde in dem Umfang, in dem es darauf eintrat, ab. Die Gerichtskosten wurden der Beschwerdeführerin auferlegt.

Zusammenfassung der wesentlichen Punkte:

  1. Keine lex mitior für administrative Massnahmen: Die für den Führerausweisentzug relevante Bestimmung des Art. 16 Abs. 3 SVG blieb seit dem Vorfall unverändert. Die Änderungen in Art. 100 Ziff. 4 SVG im Strafrecht haben keine direkte Anwendung auf die administrativrechtlichen Massnahmen gemäss lex mitior.
  2. Reduktion der Entzugsdauer ist Ermessensfrage: Art. 16 Abs. 3, zweiter Satz, SVG verpflichtet die Administrativbehörde nicht, die Entzugsdauer zu reduzieren, wenn die strafrechtliche Strafe gemäss Art. 100 Ziff. 4, dritter Satz, SVG gemildert wurde. Die Behörde verfügt über ein weites Ermessen und kann die Dauer ausnahmsweise unter das gesetzliche Minimum senken.
  3. Kein Ermessensmissbrauch bei 12 Monaten Entzug: Die Festsetzung eines Entzugs von 12 Monaten (der die Hälfte der gesetzlichen Mindestdauer von 2 Jahren darstellt) war verhältnismässig und berücksichtigte sowohl mildernde Umstände (Polizistin, Erfahrung, keine Vorstrafen) als auch erschwerende Umstände (disproportionale Geschwindigkeit, fehlende Sirene). Eine lineare Reduktion der Entzugsdauer analog zur strafrechtlichen Strafminderung ist nicht geschuldet.
  4. Verzicht auf Entzug oder Verwarnung nicht möglich: Bei einer schweren Widerhandlung im Sinne von Art. 16c SVG kann die Administrativbehörde gemäss Art. 16 Abs. 3, zweiter Satz, SVG nicht auf den Führerausweisentzug verzichten oder diesen in eine Verwarnung umwandeln. Eine Verwarnung ist ausschliesslich für leichte Widerhandlungen vorgesehen.