Zusammenfassung von BGer-Urteil 9C_590/2024 vom 27. August 2025

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Detaillierte Zusammenfassung des Urteils des Schweizerischen Bundesgerichts 9C_590/2024 vom 27. August 2025 1. Einleitung und Prozessgegenstand

Das vorliegende Urteil des Schweizerischen Bundesgerichts (BGer) befasst sich mit einer Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten der A.__ B.V. (nachfolgend: Beschwerdeführerin), einem in den Niederlanden ansässigen Unternehmen, gegen ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts (BVGer) vom 17. September 2024. Streitgegenstand ist die Mehrwertsteuerpflicht der Beschwerdeführerin in der Schweiz für die Steuerperioden 2015 bis 2020 sowie die daraus resultierende Nachforderung der Eidgenössischen Steuerverwaltung (ESTV) in Höhe von insgesamt Fr. 32'028'947.- (für 2015-2019) und Fr. 2'195'956.- (für 2020), zuzüglich Verzugszinsen. Die zentralen Fragen betreffen die Qualifikation der von der Beschwerdeführerin erbrachten Leistungen als "elektronische Dienstleistungen" im Sinne des Mehrwertsteuergesetzes (MWSTG), den Empfängerkreis dieser Leistungen und die Methodik der Steuerberechnung durch die ESTV.

2. Sachverhalt und Verfahrensablauf

Die Beschwerdeführerin, mit Sitz in U.__ (NL), meldete sich am 16. Juli 2020 rückwirkend per 1. Juli 2020 zur Eintragung in das Register der Inlandsteuerpflichtigen der ESTV an. Da die ESTV einen früheren Eintritt der Inlandsteuerpflicht vermutete, führte sie eine Geschäftsbuchkontrolle durch und erliess am 27. September 2021 zwei Einschätzungsmitteilungen über eine Steuerforderung von Fr. 46'749'868.- für 2015-2019 und Fr. 3'621'758.- für 2020. Nach Bestreitung durch die Beschwerdeführerin verfügte die ESTV am 15. Dezember 2022 eine Nachbelastung von Fr. 32'028'947.- (2015-2019) und Fr. 2'195'956.- (2020), wobei sie vereinnahmte Provisionen, die von Leistungsempfängern bereits mittels Bezugsteuer abgerechnet worden waren, von der Nachbelastung ausnahm. Die ESTV ermittelte diese Anteile annäherungsweise, verweigerte der Beschwerdeführerin jedoch die Einsicht in die internen Berechnungsgrundlagen, die zu einer tabellarischen "Gesamtübersicht zur annäherungsweisen Ermittlung" führten, unter Berufung auf das Steuergeheimnis Dritter.

Die Beschwerdeführerin erhob Einsprache und verlangte gleichzeitig Akteneinsicht in die Berechnungsgrundlagen. Die ESTV wies beides am 22. September 2023 ab, begründete ihre Methodik detailliert (Bereinigung von Excel-Listen, Einteilung der Leistungsempfänger in Kategorien, Systemabfrage der deklarierten Dienstleistungsbezüge) und verweigerte die Akteneinsicht unter Hinweis auf Art. 74 Abs. 1 MWSTG und die Unmöglichkeit einer Identifikation Dritter auch bei Anonymisierung.

Das BVGer beschränkte das Verfahren zunächst auf die Akteneinsichtsfrage und wies das entsprechende Gesuch mit Zwischenverfügung vom 21. März 2024 ab. Eine dagegen erhobene Beschwerde der Beschwerdeführerin an das BGer (9C_248/2024) wurde als unzulässig (Zwischenentscheid) beurteilt. Im Endurteil vom 17. September 2024 wies das BVGer die Beschwerde der A.__ B.V. vollumfänglich ab und bestätigte die Nachforderungen der ESTV.

3. Massgebende Rechtsgrundlagen

Das BGer legt die Mehrwertsteuerpflicht gemäss Art. 1 Abs. 1 und Art. 18 Abs. 1 MWSTG (Inlandsteuer auf Leistungen steuerpflichtiger Personen gegen Entgelt) und die Unternehmereigenschaft nach Art. 10 Abs. 1 MWSTG dar. Für die Dienstleistungen der Beschwerdeführerin sind folgende Bestimmungen zentral:

  • Ort der Dienstleistung (Art. 8 MWSTG): Grundsätzlich gilt das Empfängerortsprinzip (Art. 8 Abs. 1 MWSTG), wonach der Ort der Dienstleistung dort ist, wo der Empfänger seinen Sitz, seine Betriebsstätte, Wohnort oder üblichen Aufenthalt hat. Dieses Prinzip ist subsidiär zu den Ausnahmeregeln des aArt. 8 Abs. 2 MWSTG (Erbringerort, Tätigkeitsort etc.).
  • Elektronische Dienstleistungen (Art. 10 Abs. 2 lit. b MWSTG): Anbieter von Telekommunikations- und elektronischen Dienstleistungen mit Sitz im Ausland sind von der Steuerpflicht befreit, es sei denn, sie erbringen solche Leistungen im Inland an nicht (bezug-)steuerpflichtige Personen und erzielen dabei einen Umsatz von mindestens Fr. 100'000.- (Art. 10 Abs. 2 lit. b Teilsatz 2 MWSTG 2009 / Art. 10 Abs. 2 lit. b Ziff. 2 Teilsatz 2 MWSTG 2016).
  • Definition elektronische Dienstleistungen (Art. 10 MWSTV und BGE 139 II 346): Der Begriff wird in Art. 10 MWSTV nicht abschliessend aufgezählt. Gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung (BGE 139 II 346 E. 7.3.5, bestätigt in Urteil 9C_482/2024) muss eine elektronische Dienstleistung kumulativ folgende Kriterien erfüllen:
    1. Sie wird über das Internet oder ein anderes elektronisches Netz erbracht.
    2. Sie wird weitgehend automatisiert und mit minimaler menschlicher Beteiligung seitens des Leistungserbringers erbracht.
    3. Das Erbringen der Dienstleistungen ist ohne Informationstechnologie nicht möglich. Diese Definition lehnt sich an das EU-Recht an und wurde in der MWST-Branchen-Info (MBI) 13 der ESTV übernommen.
  • Beweislast (Art. 71 Abs. 1, 72 MWSTG): Die Steuerbehörde trägt die Beweislast für steuerbegründende und -mehrende Tatsachen. Die steuerpflichtige Person ist für steueraufhebende und -mindernde Tatsachen beweisbelastet (z.B. Nachweis des ausländischen Leistungsortes oder bereits entrichteter Bezugsteuer).
  • Verfahrensrecht: Der Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV) beinhaltet das Recht auf Akteneinsicht (Art. 26 VwVG), welches jedoch durch ein überwiegendes öffentliches oder privates Interesse (z.B. Steuergeheimnis gemäss Art. 74 Abs. 1 MWSTG) eingeschränkt werden kann (Art. 27 VwVG).
4. Begründung des Gerichts im Detail

Das Bundesgericht bestätigte in allen wesentlichen Punkten die Argumentation des Bundesverwaltungsgerichts und wies die Beschwerde ab.

4.1. Anspruch auf rechtliches Gehör und Akteneinsicht

Das BGer verneinte eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV) durch die Verweigerung der Einsicht in die internen Berechnungsgrundlagen der ESTV. Es schloss sich der Vorinstanz an, wonach die ESTV gemäss Art. 74 Abs. 1 MWSTG zur Geheimhaltung von Daten Dritter (namentlich der UID und der deklarierten Bezugsteuer der Kunden der Beschwerdeführerin) verpflichtet ist. Eine Anonymisierung der Daten wäre nicht möglich, ohne die Nachvollziehbarkeit der Berechnungen durch die Beschwerdeführerin selbst zu verunmöglichen, da die genaue Zuordnung der Provisionsumsätze zu den Kunden zur Feststellung der bereits entrichteten Bezugsteuer unerlässlich war. Die ESTV habe ihre Methodik ausführlich und nachvollziehbar im Einspracheentscheid dargelegt und der Beschwerdeführerin eine tabellarische Zusammenfassung sowie die Möglichkeit zur Stellungnahme und zum Beibringen von Gegenbeweismitteln eingeräumt. Damit wurde dem wesentlichen Inhalt des Einsichtsrechts entsprochen. Die Trennung der Verfahrensfrage der Akteneinsicht von der Hauptsache durch das BVGer wurde als unbedenklich beurteilt.

4.2. Qualifikation der Leistungen als elektronische Dienstleistungen

Das BGer bestätigte, dass die von der Beschwerdeführerin erbrachten Leistungen als elektronische Dienstleistungen im Sinne von Art. 10 Abs. 2 lit. b MWSTG zu qualifizieren sind.

  • Anlehnung an EU-Recht und Zweckbestimmung: Das BGer hob erneut hervor, dass die Einführung des Begriffs "elektronische Dienstleistungen" im Schweizer MWSTG per 2010 eine Anlehnung an das EU-Recht bezweckte, um Doppel- oder Nichtbesteuerungen und Wettbewerbsverzerrungen zu vermeiden (BGE 139 II 346 E. 7.2). Die höchstrichterliche Definition anhand der drei genannten Kriterien (Internetnutzung, Automatisierung/minimale menschliche Beteiligung, Notwendigkeit der IT) sei seit 2013 etabliert und verbindlich, unabhängig von der späteren Aufnahme in die MBI 13. Ein Verstoss gegen das Legalitätsprinzip wurde verneint.
  • Neutralitätsprinzip: Das Gericht bekräftigte das "Neutralitätsprinzip", wonach für die Qualifikation als elektronische Dienstleistung nicht der Inhalt der Leistung, sondern ausschliesslich die formale Art und Weise der Leistungserbringung massgebend ist. Dies sei lediglich eine Zusatzqualifikation zur Bestimmung des Leistungsortes und der Steuerpflicht ausländischer Anbieter, nicht aber zur Schaffung zusätzlicher Steuerbarkeit für bestimmte Leistungskategorien.
  • Anwendung der Kriterien auf den vorliegenden Fall:
    1. Erbringung über das Internet: Die Beschwerdeführerin stellt ein Online-Reservierungssystem (Website, App) zur Verfügung. Dieses Kriterium ist erfüllt.
    2. Automatisierung/minimale menschliche Beteiligung: Die Leistungen (Erfassung von Angaben, Ermittlung von Suchergebnissen mittels Algorithmus, automatisierte Benachrichtigungen, Qualitätsbewertungen durch maschinelles Lernen, Sichtbarkeitserhöhung gegen Kommission) erfolgen weitgehend automatisiert und mit minimaler menschlicher Beteiligung der Beschwerdeführerin. Auch dieses Kriterium ist erfüllt.
    3. Unmöglichkeit ohne Informationstechnologie: Die weltweite Verfügbarkeit, sekundenschnelle Verarbeitung, Überwindung grosser Distanzen und Erbringung an eine sehr grosse Zahl von Empfängern wäre ohne IT und Algorithmen nicht möglich. Das dritte Kriterium ist ebenfalls erfüllt.
  • Abgrenzung zu Reisebüroleistungen: Der Einwand, es handle sich um Reisebüroleistungen im Sinne von aArt. 8 Abs. 2 lit. b MWSTG, wurde zurückgewiesen. Die Beschwerdeführerin bietet auf ihrer Plattform lediglich Reiseleistungen an, verkauft sie aber nicht selbst und bezieht auch keine Drittleistungen für die Erbringung von Reiseleistungen. Selbst wenn es sich inhaltlich um Reisebüroleistungen handeln würde, würde die elektronische Art und Weise der Leistungserbringung dazu führen, dass der Leistungsort gemäss dem Empfängerortsprinzip von Art. 8 Abs. 1 MWSTG in der Schweiz läge (Konsequenz des Neutralitätsprinzips).
4.3. Empfängerkreis "nicht steuerpflichtige Empfänger und Empfängerinnen"

Das BGer bestätigte, dass die Regelung betreffend "nicht steuerpflichtige Empfänger und Empfängerinnen" gemäss Art. 10 Abs. 2 lit. b MWSTG nicht nur auf Privatpersonen, sondern auch auf Unternehmen anwendbar ist, die aufgrund der Unterschreitung der Umsatzlimite nicht MWST-pflichtig sind.

  • Historische Auslegung und Systematik: Bereits die Vorgängernorm aArt. 25 Abs. 1 lit. c aMWSTG wurde dahingehend ausgelegt, dass sie "nicht mehrwertsteuerpflichtige Personen/Unternehmungen" umfasst. Die aktuelle Fassung von Art. 10 Abs. 2 lit. b MWSTG 2009/2016 hat keine materielle Änderung erfahren und der Wortlaut von Art. 10 Abs. 1 MWSTG stützt diese Interpretation. Die Beschwerdeführerin betrieb zudem erwiesenermassen ihre Plattform nicht als reine "B2B-Hotelplattform", sondern vermittelte auch Unterkünfte von explizit als "private Gastgeber" bezeichneten Privatpersonen, welche keine offiziellen Gewerbetreibenden sind.
  • Vermeidung von Wettbewerbsverzerrung: Eine Beschränkung auf reine Privatpersonen würde dem gesetzgeberischen Ziel zuwiderlaufen, Wettbewerbsverzerrungen und Steuerausfälle im Bereich grenzüberschreitender elektronischer Dienstleistungen zu vermeiden. Die restriktive Handhabung von Steuerbefreiungsgründen ist dabei geboten (BGE 139 II 346 E. 7.3.1).
  • Beweis aus den Akten: Die von der Beschwerdeführerin bereitgestellte Excel-Aufstellung enthielt bereits Angaben zu "vermutl. nicht Steuerpfl./nicht Bezugsteuerpfl." Kunden, was die Erbringung von Leistungen an diesen Empfängerkreis belegt. Der Umfang dieser Leistungen ist für die Auslösung der Steuerpflicht unerheblich (bereits Fr. 1.- genügt).

Aufgrund der Erbringung elektronischer Dienstleistungen auch an nicht steuerpflichtige Empfänger im Inland tritt die Gegenausnahme zur Steuerbefreiung in Kraft, wodurch die Steuerpflicht der Beschwerdeführerin ab dem 1. Januar 2015 bejaht wurde.

4.4. Höhe der Nachforderung und Berechnungsmethode

Das BGer bestätigte die Berechnung der Nachforderung durch die ESTV.

  • Erleichterung nach Art. 80 MWSTG: Die Beschwerdeführerin berief sich auf Art. 80 MWSTG für eine vereinfachte Berechnung. Das Gericht befand jedoch, dass die ESTV bereits eine Erleichterung gewährt hatte. Anstatt von der Beschwerdeführerin den expliziten Nachweis der durch die Leistungsempfänger abgerechneten Bezugsteuer zu verlangen (was gemäss MWST-Info 14, Ziff. 2.1.5 eigentlich erforderlich wäre, wenn ein ausländisches Unternehmen rückwirkend registriert wird), hatte die ESTV selbst mit hohem Aufwand eine detaillierte Überprüfung mittels Systemabgleich vorgenommen.
  • ESTV-Methodik: Die ESTV ermittelte individuell für jeden Kunden und jede Steuerperiode, in welchem Umfang die Bezugsteuer tatsächlich abgerechnet worden war. Nur auf dem Anteil der Provisionen, für die nachweislich keine Bezugsteuer entrichtet wurde, erfolgte eine Nachbelastung der Inlandsteuer. Diese aufwändige und sachgerechte Vorgehensweise verhinderte Doppelbesteuerung ohne Steuerausfälle zu Lasten des Bundes zu verursachen.
  • Ablehnung der Beschwerdeführerin: Die pauschalen Annahmen der Beschwerdeführerin zu Steuer- und Bezugsteuerpflichten und ihr Verweis auf die (theoretische) Bezugsteuerpflicht der Empfänger wurde zurückgewiesen. Die subjektive Steuerpflicht des Leistungserbringers besteht unabhängig von einer allfälligen Bezugsteuerpflicht. Auch der Einwand der Unmöglichkeit der nachträglichen Steuerüberwälzung ging ins Leere, da dies der Privatautonomie unterliegt und nicht die Steuerpflicht beim Leistungserbringer aufhebt.
4.5. Verzugszinsen

Die vom BVGer bestätigten Verzugszinsen gemäss Art. 87 Abs. 1 MWSTG wurden als rechtmässig befunden, da kein Ausnahmefall gemäss Art. 87 Abs. 2 MWSTG (kein Steuerausfall bei Fehler) vorlag.

5. Kurzfassung der wesentlichen Punkte
  • Mehrwertsteuerpflicht: Die Beschwerdeführerin ist ab dem 1. Januar 2015 in der Schweiz mehrwertsteuerpflichtig.
  • Elektronische Dienstleistungen: Die von der Beschwerdeführerin über ihre Online-Buchungsplattform erbrachten Leistungen erfüllen die Kriterien für "elektronische Dienstleistungen" gemäss MWSTG und bundesgerichtlicher Rechtsprechung (Erbringung über Internet, weitgehend automatisiert, ohne IT nicht möglich).
  • Ort der Leistung: Der Leistungsort ist nach dem Empfängerortsprinzip (Art. 8 Abs. 1 MWSTG) in der Schweiz, da elektronische Dienstleistungen auch an "nicht steuerpflichtige Empfänger" in der Schweiz erbracht werden.
  • "Nicht steuerpflichtige Empfänger": Dieser Begriff umfasst sowohl Privatpersonen als auch Unternehmen, die aufgrund der Unterschreitung der Umsatzlimite nicht MWST-pflichtig sind.
  • Berechnung der Nachforderung: Die ESTV-Berechnungsmethode, die eine Nachbelastung nur auf jenen Provisionen vornimmt, für die nachweislich keine Bezugsteuer entrichtet wurde, ist rechtmässig und stellt eine sachgerechte Anwendung von Art. 80 MWSTG dar. Eine Verletzung des Rechts auf Akteneinsicht oder eine Doppelbesteuerung liegt nicht vor.
  • Verzugszinsen: Die geschuldeten Verzugszinsen sind ebenfalls rechtmässig.

Das Bundesgericht wies die Beschwerde der A.__ B.V. ab und bestätigte die Mehrwertsteuernachforderungen der ESTV.