Zusammenfassung von BGer-Urteil 6B_819/2023 vom 5. September 2025

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Nachfolgend wird das Urteil des Schweizerischen Bundesgerichts 6B_819/2023 vom 5. September 2025 detailliert zusammengefasst.

1. Parteien und Vorinstanzen * Beschwerdeführer: A.__, vertreten durch Me Sylvain Savolainen, Rechtsanwalt. * Beschwerdegegner: Ministère public de la République et canton de Genève. * Vorinstanzen: * Strafbefehl vom 16. April 2021 (Ministère public). * Urteil des Tribunal de police du canton de Genève vom 18. Juli 2022 (Freispruch von der Strafe bei Schuldspruch). * Urteil der Chambre pénale d'appel et de révision de la Cour de justice genevoise vom 9. Mai 2023 (Teilweise Gutheissung der Berufung der Staatsanwaltschaft, Schuldigsprechung und Verurteilung zu 10 Tagessätzen à 150 CHF).

2. Sachverhalt Der Beschwerdeführer A._ ist assoziiert mit Kollektivunterschrift zu zweit in der Firma C._. Er stellte B._ am 1. Juli 2019 als Concierge ein und ermöglichte ihm Zugang zu einem Firmenfahrzeug. Vor der Einstellung verlangte A._ eine Kopie des Führerausweises von B._ und prüfte diese. Er war sich jedoch nicht bewusst, dass ausländische Führerausweise ein Ablaufdatum haben können, und kannte das Ablaufdatum des spanischen Führerausweises von B._ nicht. C.__ ist ein Familienunternehmen mit einem Vertrauensklima, besitzt 12 oder 13 Lieferwagen, die von rund einem Dutzend Mitarbeitern, die meist seit über zehn Jahren im Unternehmen sind, sowohl beruflich als auch für den Arbeitsweg genutzt werden.

Am 21. Januar 2021 wurde B._ von der Polizei angehalten, weil er eine rote Ampel missachtet hatte, während er ein auf C._ zugelassenes Fahrzeug führte. Die Polizeibeamten stellten fest, dass sein spanischer Führerausweis nur bis zum 3. Dezember 2020 gültig war und somit abgelaufen war.

Mit Strafbefehl vom 16. April 2021 wurde A._ vorgeworfen, seit dem 4. Dezember 2020 und letztmals am 21. Januar 2021 wiederholt ein Fahrzeug B._ zur Verfügung gestellt zu haben, obwohl dieser nicht im Besitz des erforderlichen Führerausweises war, was A._ wusste oder bei gehöriger Aufmerksamkeit hätte wissen müssen (Art. 95 Abs. 1 lit. e SVG). Nach erstinstanzlicher Verurteilung ohne Strafe wurde A._ in zweiter Instanz zu einer Geldstrafe verurteilt.

3. Rechtliche Würdigung durch das Bundesgericht

3.1. Zulässigkeit der Beschwerde Das Bundesgericht prüft die Sachverhaltsfeststellungen der Vorinstanz nur unter dem Gesichtspunkt der Willkür (Art. 97 Abs. 1, 105 Abs. 1 und 2 LTF). Rügen betreffend die Verletzung von Grundrechten (inkl. Willkür) müssen präzise substanziiert werden (Art. 106 Abs. 2 LTF). Appellatorische Kritik ist unzulässig.

3.2. Verletzung des Anklageprinzips (Art. 9 CPP) * Grundlagen: Eine Straftat kann nur beurteilt werden, wenn die Staatsanwaltschaft eine Anklageschrift mit präzise beschriebenen Fakten gegen eine bestimmte Person eingereicht hat. Im Falle eines Einspruchs gegen einen Strafbefehl gilt dieser als Anklageschrift (Art. 356 Abs. 1 CPP). Der Angeklagte muss die ihm vorgeworfenen Fakten genau kennen, um seine Verteidigung vorbereiten zu können (Informations- und Abgrenzungsfunktion). Das Gericht ist an den in der Anklageschrift beschriebenen Sachverhalt gebunden, kann aber von der rechtlichen Würdigung abweichen (Art. 350 Abs. 1 CPP), sofern es die Parteien informiert. * Rüge des Beschwerdeführers: Die kantonale Instanz sei vom Sachverhalt der Anklageschrift abgewichen, indem sie ihm vorwarf, er habe den «statu quo ante» aufrechterhalten, und indem die Fahrzeugübergabe durch einen anderen Mitarbeiter vor dem relevanten Tatzeitraum stattgefunden habe, als der Führerausweis noch gültig war. * Beurteilung des Bundesgerichts: * Die Rüge ist bereits deshalb nicht zulässig, weil der Beschwerdeführer sie in den kantonalen Verfahrensphasen nicht vorgebracht hat, obwohl er dazu Gelegenheit hatte. Eine Rüge des Anklageprinzips in diesem späten Stadium des Verfahrens, in dem die Anklage nicht mehr geändert werden kann, widerspricht dem Grundsatz von Treu und Glauben. * Inhaltlich hält das Bundesgericht fest, dass die Strafverfügung vom 16. April 2021 dem Beschwerdeführer ausdrücklich vorwarf, das Fahrzeug wiederholt ab dem 4. Dezember 2020 und letztmals am 21. Januar 2021 zur Verfügung gestellt zu haben, obwohl B.__ nicht über den erforderlichen Führerausweis verfügte, was der Beschwerdeführer wusste oder hätte wissen müssen. Die Begründung bezog sich eindeutig auf die unzureichende Kontrolle des abgelaufenen ausländischen Führerausweises. * Dass die physische Übergabe der Schlüssel durch einen anderen Mitarbeiter erfolgte, ist ein unwesentliches Detail. Der Beschwerdeführer bestritt nicht, die Befugnis gehabt zu haben, dem Mitarbeiter das Fahrzeug zu überlassen. Die Schlüsselübergabe war lediglich die Konkretisierung der vom Beschwerdeführer erteilten Erlaubnis. Eine Zurechnung als mittelbarer Täter (auteur médiat) ändert nichts an der strafrechtlichen Verantwortlichkeit als Täter. Die rechtliche Qualifikation der Teilnahme (z.B. als mittelbarer Täter) ist in der Regel keine Bedingung für die Gültigkeit der Anklageschrift, solange das Verhalten aus der Anklageschrift ersichtlich ist. Die Rüge wird somit abgewiesen.

3.3. Tatbestand der Fahrzeugüberlassung an eine Person ohne den erforderlichen Führerausweis (Art. 95 Abs. 1 lit. e SVG) * Sinn und Zweck: Die Norm soll den Zugang zu Motorfahrzeugen für Personen ohne erforderliche Berechtigung erschweren und ist als eigenständiges Delikt konzipiert, das eine Form der Teilnahme an anderen in Art. 95 Abs. 1 lit. a-d SVG genannten Delikten darstellt. * Begriff "zur Verfügung stellen" (mettre à disposition): * Dieser unbestimmte Rechtsbegriff ist restriktiv auszulegen. Er erfordert ein aktives Verhalten, das den unberechtigten Fahrer tatsächlich in die Lage versetzt, das Fahrzeug zu führen (z.B. Schlüsselübergabe, Bereitstellung von Zugangsdaten). * Wichtig ist, dass der Täter dem Fahrer den Gebrauch des Fahrzeugs überlassen und seine Zustimmung dazu gegeben hat, oder zumindest das Risiko einer Fahrt bewusst in Kauf genommen hat. Die blosse Schlüsselübergabe kann auch andere Zwecke haben (z.B. Reparaturen). * Der Verkauf eines Fahrzeugs fällt nicht darunter, da der Verkäufer keine Verfügungsgewalt mehr hat. Leasing ist dem Verkauf gleichzustellen. * Eine Minderheitsmeinung, wonach auch eine Unterlassung (z.B. ein Vater, der die Schlüssel seinem Sohn nicht unzugänglich macht) ausreichen könnte, wird vom Bundesgericht aufgrund mangelnder gesetzlicher Stützung, fehlender Garantenstellung und praktischer Schwierigkeiten abgelehnt. * Objektive Nichtberechtigung des Fahrers: * Es muss zwischen verschiedenen Situationen unterschieden werden: * Fahren ohne das Führerausweisdokument mit sich zu führen (Art. 99 Abs. 1 lit. b SVG) ist eine blosse Übertretung und fällt nicht unter Art. 95 Abs. 1 lit. e SVG. * Die Überlassungsperson haftet in der Regel nicht für die Einhaltung sämtlicher Auflagen (z.B. zeitliche, örtliche Beschränkungen, Sehhilfe), es sei denn, diese betreffen direkt die Verkehrssicherheit (z.B. spezifische Fahrzeuganpassungen aus medizinischen Gründen). Dies wird im vorliegenden Fall offengelassen. * Ein abgelaufener Probe-Führerausweis (Art. 15a Abs. 4 i.V.m. Art. 95 Abs. 1 lit. c SVG) ist von einem verfallenen Führerausweis (Art. 15a Abs. 1 und 15b Abs. 1 i.V.m. Art. 95 Abs. 2 SVG) zu unterscheiden. Im ersten Fall ist die Überlassungsperson strafbar, im zweiten nicht, da es sich eher um die Nichteinhaltung von Formalitäten handelt. * Ausländische Führerausweise: Bei ausländischen Führerausweisen kann sich die Schweizer Polizei im Gegensatz zu schweizerischen Ausweisen (SIAC-System) im Moment der Kontrolle nur auf das vorgezeigte Dokument verlassen. Ein Führerausweis aus einem fremden Staat ist ein Hoheitsakt dieses Landes. Die Schweiz kann einen solchen Ausweis nicht "entziehen", aber das Fahren in der Schweiz untersagen oder die Anerkennung des ausländischen Ausweises aussetzen. Wenn ein ausländischer Führerausweis nicht gültig oder nicht in Kraft ist, ist die betreffende Person nicht einfach nur ein Fahrer ohne Dokument, sondern eine Person, deren Fahrberechtigung in der Schweiz nicht anerkannt werden kann und die somit nicht zum Führen eines Fahrzeugs in der Schweiz berechtigt ist. * Subjektiver Tatbestand ("wusste oder hätte wissen müssen"): Die Formulierung umschreibt auch die Strafbarkeit der Fahrlässigkeit (Art. 100 Ziff. 1 SVG i.V.m. Art. 12 und 13 Abs. 2 StGB). Es gilt, den Umfang der zumutbaren Kontrollmassnahmen im Einzelfall zu bestimmen. * Umfang der Kontrollpflicht: * Im Allgemeinen muss, wer ein Fahrzeug zur Verfügung stellt, die Berechtigung und Gültigkeit des Führerausweises überprüfen. Bei unbekannten Personen ist die physische Vorlage des Dokuments erforderlich. * Der Umfang der Kontrollpflicht hängt von den Umständen und bestehenden Vertrauensbeziehungen ab (z.B. professionelle Vermietung vs. enge Beziehungen vs. Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Verhältnis). Je enger die Vertrauensbeziehungen sind, desto milder können die Kontrollpflichten sein. * Im beruflichen Kontext muss der Arbeitgeber bei der Einstellung eines Mitarbeiters, der ein Fahrzeug führen soll, den Führerausweis verlangen. Später kann eine mündliche Versicherung ausreichen, solange keine Umstände Zweifel aufkommen lassen. Eine tägliche Kontrolle der Gültigkeit ist unzumutbar. Der Arbeitgeber darf davon ausgehen, dass der Mitarbeiter ihn über Änderungen informiert. * Anwendung auf den vorliegenden Fall: * Die kantonale Instanz ging davon aus, dass im beruflichen Rahmen eine regelmässige Überprüfung der Gültigkeit des Führerausweises die Regel sein muss. * Das Bundesgericht befand, diese Formulierung sei zu absolut. Im familiären Firmenkontext mit langjährigen Mitarbeitern und einem Vertrauensklima sind tägliche Kontrollen der Gültigkeit nicht zumutbar. * Entscheidend ist jedoch: Der bei der Einstellung vorgelegte spanische Führerausweis enthielt ein Ablaufdatum. Der Beschwerdeführer war somit von Anfang an darüber informiert, dass die Situation nicht dauerhaft sein würde. Von ihm durfte erwartet werden, dass er entsprechende Massnahmen ergreift, um die Erneuerung des Ausweises zu kontrollieren, und andernfalls das Fahrzeug nicht mehr zur Verfügung stellt. * Der Beschwerdeführer machte nicht geltend, die Angaben auf dem spanischen Führerausweis nicht verstanden zu haben. Seine Behauptung, er habe kein Ablaufdatum erwartet, da schweizerische Führerausweise in der Regel keines hätten, ist irrelevant. Die Angabe auf dem Dokument hätte ihn zur Abklärung bewegen müssen. Sein Versäumnis, das Datum zu beachten oder dessen Bedeutung abzuklären, begründet Fahrlässigkeit (Art. 12 Abs. 3, 13 Abs. 2 StGB i.V.m. Art. 100 Abs. 1 SVG). Ob er das Datum nicht sah, seine Bedeutung nicht verstand oder im Zweifel keine Informationen einholte – in all diesen Fällen war die Kontrolle unzureichend. Die Rüge wird abgewiesen.

3.4. Strafbefreiung bei geringfügiger Fahrlässigkeit (Art. 100 Ziff. 1 Satz 2 SVG) * Voraussetzungen: Diese Bestimmung betrifft "Bagatellfälle" und wird restriktiv angewendet. Eine Strafbefreiung kommt nur in Betracht, wenn sowohl Schuld als auch Folgen des Delikts im Vergleich zu anderen typischen Anwendungsfällen der Norm so gering sind, dass eine Bestrafung offensichtlich nicht notwendig erscheint (vgl. Art. 52 StGB). * Beurteilung der Vorinstanz: Die kantonale Instanz stufte die Fahrlässigkeit des Beschwerdeführers als "leicht" ein, aber nicht als "minimal". Er habe zwar in gutem Glauben gehandelt und sich auf eine unzureichende Kontrolle verlassen. Es sei jedoch nicht unerheblich, dass ein Arbeitgeber bei der Einstellung eines Mitarbeiters, dem regelmässig ein Fahrzeug überlassen wird, eine vollständige Überprüfung des Führerausweises unterlässt und diese Kontrolle nie wiederholt. Die Angabe des Gültigkeitsdatums war sowohl auf der Vorder- als auch auf der Rückseite des spanischen Ausweises vermerkt und bei aufmerksamer Prüfung leicht erkennbar. Der Fehler sei leicht vermeidbar gewesen. * Beurteilung des Bundesgerichts: * Der Beschwerdeführer kritisierte die Einstufung seiner Fahrlässigkeit als "leicht" nicht, sondern argumentierte lediglich, sein Fall sei "von geringer Schwere". Er zeigte nicht auf, inwiefern die kantonale Instanz ihr weites Ermessen willkürlich ausgeübt hätte. * Das Bundesgericht schliesst sich der Auffassung der Vorinstanz an. Als Organ einer Firma, die fast allen ihrer zwölf Angestellten Fahrzeuge zur Verfügung stellt, war der Beschwerdeführer sich bewusst, dass ein gültiger Führerausweis unerlässlich ist. Die Kontrolle der Führerausweisangaben ist einfach, und der spanische Ausweis enthielt unübersehbar ein Ablaufdatum auf beiden Seiten. Die Fahrlässigkeit des Beschwerdeführers führte dazu, dass eine rechtswidrige Situation über fast sieben Wochen aufrechterhalten wurde. Es handelte sich dabei nicht um eine blosse Übertretung (Nichtmitführen des Ausweises), sondern um eine Teilnahme an einem Delikt. Daher kann die Schuld des Beschwerdeführers nicht als so minimal erachtet werden, dass auf eine Bestrafung verzichtet werden könnte. Die Rüge wird abgewiesen.

4. Kosten Der Beschwerdeführer unterliegt und trägt die Gerichtskosten (Art. 65 Abs. 2 und 66 Abs. 1 LTF). Er hat keinen Anspruch auf Parteientschädigung im Bundesgerichtsverfahren (Art. 68 Abs. 1 und 2 LTF).

Zusammenfassung der wesentlichen Punkte:

  1. Fahrlässige Fahrzeugüberlassung an unberechtigte Person: Der Beschwerdeführer wurde schuldig gesprochen, seinem Mitarbeiter ein Firmenfahrzeug überlassen zu haben, obwohl dessen spanischer Führerausweis abgelaufen war. Die Vorinstanz verurteilte ihn zu einer Geldstrafe.
  2. Anklageprinzip: Das Bundesgericht wies die Rüge einer Verletzung des Anklageprinzips ab. Die Anklageschrift war ausreichend präzise. Die konkrete Art und Weise der Schlüsselübergabe durch einen Dritten war ein unwesentliches Detail, da der Beschwerdeführer als Vorgesetzter die Verfügungsgewalt über das Fahrzeug hatte (mittelbare Täterschaft).
  3. Pflicht zur Kontrolle von ausländischen Führerausweisen: Das Bundesgericht betonte, dass der Begriff der Fahrzeugüberlassung ein aktives Verhalten und die Überlassung des Gebrauchs voraussetzt. Insbesondere bei ausländischen Führerausweisen, die ein Ablaufdatum enthalten, muss der Arbeitgeber bei der Einstellung oder der erstmaligen Überlassung eines Fahrzeugs die Gültigkeit des Ausweises sorgfältig prüfen. Die Angabe eines Ablaufdatums auf dem Führerausweis des Mitarbeiters hätte den Beschwerdeführer zur Abklärung der Gültigkeit bewegen müssen. Sein Versäumnis, dies zu tun, begründet Fahrlässigkeit.
  4. Keine Strafbefreiung bei geringfügiger Fahrlässigkeit: Obwohl die Fahrlässigkeit als "leicht" eingestuft wurde, verneinte das Bundesgericht eine Strafbefreiung. Angesichts der Verantwortung des Beschwerdeführers als Organ eines Unternehmens, das regelmässig Fahrzeuge überlässt, der klaren Angaben auf dem Ausweis und der Aufrechterhaltung einer widerrechtlichen Situation über mehrere Wochen, wurde die Schuld nicht als so minimal erachtet, dass von einer Bestrafung abgesehen werden könnte.