Zusammenfassung von BGer-Urteil 1C_469/2024 vom 19. September 2025

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Gerne fasse ich das bereitgestellte Urteil des schweizerischen Bundesgerichts (1C_469/2024 vom 19. September 2025) detailliert zusammen:

Detaillierte Zusammenfassung des Bundesgerichtsentscheids 1C_469/2024

I. Einleitung

Das vorliegende Urteil des Schweizerischen Bundesgerichts befasst sich mit einer Beschwerde der Politischen Gemeinde St. Gallen gegen einen Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons St. Gallen betreffend die Höhe einer enteignungsrechtlichen Entschädigung. Im Zentrum des Rechtsstreits steht die Frage, ob bei der Enteignung eines Landstreifens, der als sogenanntes Vorgartenland qualifiziert wird, ein Abzug vom vollen Baulandpreis vorzunehmen ist. Das Bundesgericht hatte zu beurteilen, ob die Vorinstanz mit ihrer Ablehnung eines solchen Abzugs gegen den Grundsatz der vollen Entschädigung (Art. 26 Abs. 2 BV) sowie gegen die bundesgerichtliche Rechtsprechung verstossen hat.

II. Sachverhalt und Vorinstanzliche Entscheidungen

Die Beschwerdegegnerin A._ AG ist Eigentümerin einer 3'508 m² grossen Parzelle in St. Gallen, welche mit zwei Mehrfamilienhäusern überbaut und der Wohn- und Gewerbezone WG3 zugewiesen ist. Die Politische Gemeinde St. Gallen plante ein Strassenbauprojekt ("Falkensteinweg, Fuss- und Radwegverbindung Hubertusstrasse bis Grütlistrasse"), für das ein bestehender privater Fussweg zu einem öffentlichen Fuss- und Veloweg ausgebaut werden sollte. Für dieses Vorhaben sollten am südöstlichen Rand der Parzelle der A._ AG 109 m² Boden dauernd und weitere Flächen vorübergehend abgetreten werden. Die gegen das Projekt erhobenen Rechtsmittel der A.__ AG blieben erfolglos (Urteil 1C_486/2019 vom 16. Oktober 2020).

Im anschliessenden Schätzungsverfahren beantragte die Gemeinde eine Entschädigung von Fr. 450.-- pro Quadratmeter. Die A.__ AG forderte demgegenüber Fr. 2'428.-- pro Quadratmeter. Die kantonale Schätzungskommission setzte die Entschädigung für den dauernd abzutretenden Boden auf Fr. 1'170.-- pro Quadratmeter fest. Das Verwaltungsgericht des Kantons St. Gallen wies die hiergegen erhobene Beschwerde der Gemeinde ab und bestätigte die von der Schätzungskommission festgesetzte Entschädigung.

Die Politische Gemeinde St. Gallen focht diesen Entscheid mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten vor Bundesgericht an und beantragte die Reduktion der Entschädigung auf Fr. 450.-- pro Quadratmeter, eventualiter eine Reduktion um ein Drittel, subeventualiter die Rückweisung an die Vorinstanz zur Neubeurteilung. Die Hauptbegründung der Gemeinde war, dass das Verwaltungsgericht zu Unrecht einen Abzug für sogenanntes Vorgartenland abgelehnt habe.

III. Rechtliche Würdigung durch das Bundesgericht

Das Bundesgericht bejahte die Zulässigkeit der Beschwerde, da die Gemeinde in dieser Konstellation gleich oder ähnlich wie eine Privatperson betroffen sei und die Beschwerdelegitimation von Gemeinwesen bei finanziellen Leistungen aus öffentlich-rechtlichen Rechtsverhältnissen, die Analogien zu privatrechtlichen Instituten wie dem Enteignungsrecht aufweisen, gemäss ständiger Rechtsprechung (BGE 141 III 161 E. 2.3; 138 II 506 E. 2.3) gegeben sei.

1. Der Grundsatz der vollen Entschädigung (Art. 26 Abs. 2 BV) Das Bundesgericht erinnert an den verfassungsrechtlichen Grundsatz der vollen Entschädigung gemäss Art. 26 Abs. 2 BV. Dieser besagt, dass der Enteignete durch die Enteignung weder einen Verlust erleiden noch einen Gewinn erzielen soll; er ist wirtschaftlich so zu stellen, wie er ohne den Eintritt der Enteignung stünde (BGE 122 I 168 E. 4b/aa). Zwar gesteht die bundesgerichtliche Rechtsprechung den Kantonen einen legislatorischen Spielraum zu, um den Enteigneten mehr als den vollen Schaden zu ersetzen (z.B. durch einen Unfreiwilligkeitszuschlag, BGE 127 I 185 E. 4). Die Verfassung des Kantons St. Gallen (Art. 2 KV/SG) enthält jedoch keine Bestimmung, die über den Schutzumfang von Art. 26 BV hinausginge. Auch das kantonale Enteignungsgesetz (Art. 15 Abs. 1 EntG/SG), das den Umfang der Entschädigung aus Marktwert, Minderwert und Inkonvenienzen zusammensetzt, enthält keine explizite Regelung, die eine über die tatsächliche Schadloshaltung hinausgehende Entschädigung vorsehen würde.

2. Die Problematik des "Vorgartenabzugs"

2.1. Begriffsbestimmung und bundesgerichtliche Praxis Das Bundesgericht stellt fest, dass die Qualifikation der enteigneten Randfläche als "Vorgartenland" von keiner Partei bestritten wird. Vorgartenland ist definitionsgemäss ein am Rand eines Grundstücks gelegener Landstreifen, der keine bauliche Nutzung aufweist und dessen Abtretung die Nutzung des Restgrundstücks nicht wesentlich schmälert. Es wird oft innerhalb der Baulinie eines überbauten Grundstücks enteignet (vgl. Urteile 1C_681/2019 vom 19. Mai 2021 E. 3.3; 1P.743/1999 vom 29. Juni 2000 E. 4c/aa).

Der von der Beschwerdeführerin geforderte "Vorgartenabzug" leitet sich direkt aus dem Grundsatz der vollen Entschädigung ab und entspricht der ständigen bundesgerichtlichen Rechtsprechung und Schätzungspraxis. Der Wert überbauten Landes (sogenannter relativer Landwert) ist in der Regel niedriger anzusetzen als der Wert nicht überbauten Landes, da der Landwert letztlich von der wirtschaftlichen Nutzung abhängt, die es zulässt (BGE 128 II 74 E. 5c). Eine bereits überbaute Liegenschaft erleidet durch den Entzug von Vorgartenland daher eine Werteinbusse, die unter dem üblichen Baulandpreis liegt (Urteil 1P.743/1999 vom 29. Juni 2000 E. 4c/aa). Der Preis pro Quadratmeter innerhalb des Baulinien- oder Abstandsbereichs liegt somit unter dem des übrigen Grundstücks (Urteil 1C_339/2013 vom 27. August 2013 E. 2.4). Diese Praxis wird auch in der Lehre einhellig vertreten (z.B. Ludwig/Stalder, Kessler Coendet, Eggs, Hess/Weibel, Wiederkehr).

2.2. Kritik an der Argumentation der Vorinstanz Die Vorinstanz hatte einen Vorgartenabzug im Wesentlichen mit der Begründung abgelehnt, dass die Nutzbarkeit des Restgrundstücks Nr. F1547 durch die Abtretung des Randstreifens geschmälert werde, sofern die Beschwerdegegnerin künftig einen Neubau anstelle einer Renovation der bestehenden Mehrfamilienhäuser in Betracht ziehen würde. Sie verwies auf ihre eigene Rechtsprechung, wonach eine Differenzierung des Quadratmeterpreises innerhalb eines Grundstücks schwierig sei und beim Verkauf oft ein einheitlicher Landpreis gelte.

Das Bundesgericht weist diese Argumentation als fehlerhaft zurück: * Keine Ungleichbehandlung: Die Tatsache, dass im Liegenschaftenhandel nicht zwischen Vorgartenland und eigentlichem Bauland unterschieden wird, bedeutet nicht, dass im Enteignungsfall alle Grundstücksteile gleich zu behandeln wären. Vorgartenland weist in der Regel nicht den Charakter von vollwertigem Bauland auf und kommt als selbstständiges Handelsobjekt gar nicht in Betracht. * Keine tatsächliche Beeinträchtigung der Nutzung: Entgegen der Annahme der Vorinstanz führt die Landabtretung für die Beschwerdegegnerin im vorliegenden Fall zu keinerlei Einschränkung der baulichen Ausnutzung, auch nicht im Falle eines – rein hypothetischen – Neubaus. Gemäss Art. 61 Abs. 3 des im Enteignungszeitpunkt anwendbaren St. Galler Baugesetzes (aBauG/SG) wird bei der Bestimmung der anrechenbaren Parzellenfläche jene Landfläche hinzugerechnet, die für den Bau öffentlicher Strassen und Trottoirs abgetreten werden musste. Eine allfällige leichte Beeinträchtigung der Gestaltungsfreiheit hinsichtlich der Positionierung von Baukörpern bei einer theoretischen Neuüberbauung stellt keinen wirtschaftlichen Schaden dar, solange sich das realisierbare Bauvolumen dank der unveränderten Ausnützungsziffer nicht reduziert. * Vermeidung von Bereicherung: Die Argumentation der Vorinstanz würde faktisch auf einen generellen Verzicht auf einen Vorgartenabzug hinauslaufen und die Beschwerdegegnerin als Enteignete bereichern, da sie eine Entschädigung erhielte, die über die volle Schadloshaltung hinausginge. Das Bundesgericht hält fest, dass der Entzug von Vorgartenland für Strassenbauten, der regelmässig zur Einhaltung neuer Strassen- oder Grenzabstände führt, nicht dazu führt, dass diese Flächen zum vollen Baulandpreis entschädigt werden. Auch die Tatsache, dass es sich zuvor um einen privaten Fussweg handelte, ändert nichts daran, dass die Fläche bereits aufgrund von Grenzabständen nur eingeschränkt überbaubar war. * Hypothetische Nutzungsmöglichkeiten: Eine blosse Reduktion der Gestaltungsfreiheit für eine zukünftige, nicht konkret geplante Neuüberbauung rechtfertigt für sich allein keine Bewertung zum vollen Baulandpreis (analog zu Entscheiden wie Kantonsgericht Basel-Landschaft vom 16. November 2022 [810 21 315] E. 5.2). Enteignungsrechtlich sind nur künftige Nutzungen relevant, die ohne die Enteignung in naher Zukunft eingetreten wären; bloss theoretische Möglichkeiten oder vage Aussichten genügen nicht (BGE 134 II 176 E. 11.4). Da hier keine konkreten Neubauabsichten bestehen, würde eine Entschädigung ohne Abzug zu einer unzulässigen Bereicherung führen und den Grundsatz der vollen Entschädigung (Art. 26 Abs. 2 BV) verletzen.

IV. Schlussfolgerung des Bundesgerichts

Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut. Es hebt das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons St. Gallen auf und weist die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurück. Diese hat über die Höhe des Vorgartenabzugs zu entscheiden und die Enteignungsentschädigung neu festzusetzen oder die Sache an die kantonale Schätzungskommission zurückzuweisen. Die Kosten- und Entschädigungsfolgen des vorinstanzlichen Verfahrens sind ebenfalls neu zu verlegen. Die Gerichtskosten des bundesgerichtlichen Verfahrens werden der unterliegenden Beschwerdegegnerin auferlegt.

Zusammenfassung der wesentlichen Punkte:

  1. Vorgartenabzug ist integraler Bestandteil der vollen Entschädigung: Das Bundesgericht bekräftigt, dass der "Vorgartenabzug" aus dem Grundsatz der vollen Entschädigung (Art. 26 Abs. 2 BV) folgt und der Enteignete weder Verlust noch Gewinn erleiden soll.
  2. Unterschiedliche Wertigkeit von Landflächen: Der Wert von überbautem Land (relativer Landwert) ist in der Regel niedriger als der von unüberbautem Bauland, da der Wert durch die wirtschaftliche Nutzung bestimmt wird. Vorgartenland hat nicht den Charakter von vollwertigem Bauland.
  3. Kantonales Recht folgt Bundesrecht: Das St. Galler Enteignungsrecht weicht nicht vom bundesrechtlichen Minimalstandard ab und erlaubt keine Entschädigung, die über die tatsächliche Schadloshaltung hinausgeht.
  4. Keine Beeinträchtigung der Nutzung im vorliegenden Fall: Die Vorinstanz hat zu Unrecht argumentiert, die Abtretung des Randstreifens schmälere die Nutzbarkeit des Restgrundstücks für einen hypothetischen Neubau. Art. 61 Abs. 3 aBauG/SG ermöglicht die Anrechnung der abgetretenen Fläche für die Ausnützungsziffer.
  5. Vermeidung von Bereicherung: Eine Entschädigung zum vollen Baulandpreis ohne Abzug für Vorgartenland würde die Enteignete ohne tatsächlichen Schaden bereichern, da keine konkreten Neubauabsichten bestehen und die "Gestaltungsfreiheit" allein keine volle Baulandentschädigung rechtfertigt.
  6. Rückweisung zur Neubeurteilung: Das Bundesgericht hebt den vorinstanzlichen Entscheid auf und weist die Sache an das Verwaltungsgericht zurück, damit dieses die Höhe des Vorgartenabzugs und die Enteignungsentschädigung neu festlegt.