Zusammenfassung von BGer-Urteil 8C_62/2025 vom 23. September 2025

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Detaillierte Zusammenfassung des Urteils des Bundesgerichts 8C_62/2025 vom 23. September 2025

1. Einleitung und Sachverhalt

Das vorliegende Urteil des Schweizerischen Bundesgerichts befasst sich mit einem Fall aus der obligatorischen Unfallversicherung und der Frage, wann der Anspruch auf Versicherungsleistungen für die Folgen eines Unfalls endet, insbesondere im Kontext eines vorbestehenden Leidenszustands (sog. Statu quo sine vel ante).

Die Beschwerdeführerin, A.__, geboren 1976, war als Pflegefachfrau tätig und bei der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (CNA) gegen Berufs- und Nichtberufsunfälle versichert. Am 29. Juli 2022 erlitt sie im Urlaub in Portugal einen Unfall, indem sie beim Aussteigen aus dem Auto eine ruckartige Bewegung mit dem rechten Bein machte, um eine heruntergefallene Handtasche aufzuheben. Dies führte zu starken Schmerzen in der rechten Gesäss- und Oberschenkelrückseite. Die diagnostischen Abklärungen ergaben eine partielle Rissbildung mit Hämatom im Bereich des proximalen Ansatzes der Ischiocruralmuskulatur (ischiocrurale Sehnenplatte) sowie später eine ausgeprägte Ansatzsehnenentzündung (Enthesopathie) und interstitielle Fissuren der Ischiocruralmuskeln mit Weichteilinfiltration und Ödem.

Die CNA übernahm den Fall zunächst, stellte jedoch gestützt auf die Beurteilung ihrer Bezirksärztin, Dr. F.__, die Leistungen mit Wirkung per 29. Oktober 2022 ein. Sie begründete dies damit, dass zu diesem Zeitpunkt das Statu quo sine vel ante erreicht gewesen sei. Die Beschwerdeführerin legte erfolglos Einsprache ein und reichte Beschwerde beim Kantonsgericht Wallis ein, welches die Auffassung der CNA bestätigte. Dagegen erhob die Beschwerdeführerin Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beim Bundesgericht.

2. Rechtliche Grundlagen

Das Bundesgericht rekapituliert die massgeblichen Rechtsgrundlagen:

  • Leistungspflicht (Art. 6 Abs. 1 UVG): Versicherungsleistungen werden bei Berufs-, Nichtberufs- und Berufskrankheiten erbracht.
  • Kausalzusammenhang: Für den Anspruch auf Leistungen ist ein natürlicher und adäquater Kausalzusammenhang zwischen dem Unfallereignis und der Gesundheitsschädigung erforderlich. Im Bereich der obligatorischen Unfallversicherung fällt bei körperlichen Gesundheitsschäden der adäquate Kausalzusammenhang weitgehend mit dem natürlichen Kausalzusammenhang zusammen. Ein natürlicher Kausalzusammenhang liegt vor, wenn der Schaden ohne das Ereignis überhaupt nicht oder nicht in gleicher Weise eingetreten wäre (conditio sine qua non). Es genügt, wenn das Ereignis in Verbindung mit anderen Faktoren die Gesundheitsschädigung verursacht hat (ATF 148 V 356 E. 3; 142 V 435 E. 1).
  • Statu quo sine vel ante (Art. 36 Abs. 1 UVG): Diese Bestimmung regelt die Abgrenzung der Leistungspflicht des Unfallversicherers bei vorbestehenden Krankheiten oder Leiden. Leistungen für Heilbehandlung und Taggelder werden nicht gekürzt, wenn der Gesundheitsschaden nur teilweise auf den Unfall zurückzuführen ist. Die Leistungspflicht des Unfallversicherers endet, wenn der Unfall nicht mehr die natürliche (und adäquate) Ursache des Schadens darstellt, d.h., wenn der Schaden ausschliesslich unfallfremden Ursachen zuzuschreiben ist. Dies ist der Fall, wenn der Gesundheitszustand demjenigen unmittelbar vor dem Unfall (statu quo ante) oder demjenigen gleicht, der sich auch ohne Unfall infolge der natürlichen Entwicklung eingestellt hätte (statu quo sine). Solange das Statu quo sine vel ante nicht wiederhergestellt ist, muss der Unfallversicherer die Behandlung des vorbestehenden Leidens übernehmen, soweit es im Rahmen des Unfalls manifest geworden oder durch diesen verschlimmert worden ist (ATF 146 V 51 E. 5.1).
    • Beweismass und Beweislast: Das Erreichen des Statu quo sine vel ante ist mit dem im Sozialversicherungsrecht üblichen Beweismass der überwiegenden Wahrscheinlichkeit (vraisemblance prépondérante) nachzuweisen (ATF 129 V 177 E. 3.1). Die Beweislast für den Wegfall des Kausalzusammenhangs und damit für die Einstellung der Leistungen liegt beim Versicherer (ATF 146 V 51 E. 5.1 in fine).
  • Würdigung ärztlicher Gutachten (ATF 135 V 465 E. 4.5 und 4.6): Stützt sich eine Verwaltungsentscheidung ausschliesslich auf die Einschätzung eines versicherungsinternen Arztes und lassen die motivierte Stellungnahme eines behandelnden Arztes oder eines privaten Gutachters, denen ebenfalls Beweiswert zukommt, auch nur geringe Zweifel an der Zuverlässigkeit und Relevanz der versicherungsinternen Einschätzung aufkommen, so darf die Sache nicht aufgrund dieser Meinungsverschiedenheit entschieden werden. Vielmehr ist eine Expertise durch einen unabhängigen Arzt nach Art. 44 ATSG (ehemals LPGA) oder ein Gerichtsgutachten einzuholen.

3. Argumentation der Vorinstanzen und der Beschwerdeführerin

  • CNA und Dr. F.__: Die Bezirksärztin der CNA, Dr. F.__, führte aus, die Sehnenbeteiligung der Ischiocruralmuskulatur sei stark verdächtig auf ein chronisches Leiden. Die beschriebenen "kleinen Fissuren" seien ein fortgeschrittenes Stadium der Tendinopathie. Die natürliche Entwicklung einer Tendinopathie führe zu spontanen Schmerzen nach einem (auch geringfügigen) Trauma, was hier der Fall zu sein scheine. Hämatom und Ödem seien sowohl mit einer akuten als auch mit einer chronischen Schädigung vereinbar. Unter Berücksichtigung der Aktenlage und der physiopathologischen Entwicklung der Tendinopathie habe das Ereignis vom 29. Juli 2022 eine vorübergehende Verschlimmerung eines vorbestehenden Zustandes für zwei bis drei Monate, d.h. bis spätestens 29. Oktober 2022, verursacht. Die Tatsache, dass die Heilung länger dauerte, bestätige die Annahme eines zugrundeliegenden chronischen Leidens.
  • Kantonsgericht: Das Kantonsgericht schloss sich den Schlussfolgerungen von Dr. F._ an. Es sah weder in den Argumenten der Beschwerdeführerin noch in den Berichten der behandelnden Ärzte Dr. D._ und Dr. E._ Anlass, die Beurteilung von Dr. F._ in Zweifel zu ziehen. Die behandelnden Ärzte hätten keine überzeugenden Erklärungen für die Kausalität der Tendinopathie geliefert und nicht dargelegt, welche objektiven Befunde eine unfallbedingte Ursache belegten. Der blosse Hinweis auf eine "traumatische" Schädigung (Dr. E.__) bedeute nicht zwingend eine Kausalität mit dem Unfall vom 29. Juli 2022. Die Beweislast für das Erreichen des Statu quo sine vel ante erfordere zudem nicht den Nachweis unfallfremder Faktoren oder der vollständigen Genesung. Massgeblich sei einzig, ob die unfallbedingten Ursachen keine Rolle mehr spielten.
  • Beschwerdeführerin: Die Beschwerdeführerin rügte, Dr. E._ habe zwar der Ansicht von Dr. F._ zugestimmt, dass die Heilung einer Ischiocruraltendinopathie gewöhnlich drei Monate dauere, jedoch explizit festgestellt, dass dies im vorliegenden Fall nicht zutreffe. Gemäss Dr. E._ sei die ungünstige Entwicklung möglicherweise durch die berufliche Tätigkeit der Beschwerdeführerin (häufiges Ein- und Aussteigen aus dem Auto, Hilfe bei Patiententransfers) unterhalten worden, was die Pathologie über die übliche Dauer von drei Monaten hinaus verlängert haben könnte. Zudem habe Dr. E._ angegeben, dass die degenerativen Veränderungen an der Hüfte im MRT die aktuell bestehenden Schmerzen nicht erklärten. Diese Diskrepanzen zwischen den ärztlichen Beurteilungen würden hinreichende Zweifel an der Einschätzung von Dr. F._ wecken, weshalb eine unabhängige medizinische Expertise erforderlich sei. Sie monierte zudem, dass der Bericht von Dr. G._ vom 24. Mai 2023 von Dr. F.__ nicht berücksichtigt wurde.

4. Erwägungen des Bundesgerichts

Das Bundesgericht gibt der Beschwerdeführerin Recht und hebt das Urteil des Kantonsgerichts sowie den Einspracheentscheid der CNA auf.

  • Zweifel an der versicherungsinternen Beurteilung: Das Bundesgericht stellt fest, dass das Kantonsgericht die Tatsachen falsch gewürdigt hat, indem es annahm, es gäbe keine Zweifel an der Zuverlässigkeit und Relevanz der Schlussfolgerungen der Bezirksärztin der CNA.
  • Verkannte Kausalitätsregel: Das Bundesgericht erinnert daran, dass der Unfallversicherer die Behandlung eines vorbestehenden Leidens übernehmen muss, solange das Statu quo sine vel ante nicht wiederhergestellt ist, sofern es im Rahmen des Unfalls manifest geworden oder durch diesen verschlimmert wurde. Das Kantonsgericht habe dies ausser Acht gelassen.
  • Bedeutung der behandelnden Ärzte:
    • Dr. E.__: Dieser Arzt habe klar festgestellt, dass der Unfall zumindest teilweise die Ursache der Tendinopathie war, indem er in seinem Bericht vom 4. April 2023 auf die "traumatische Muskelschädigung" (lésion musculaire traumatique) mit Hämatom im Ultraschall vom 14. September 2022 hinwies.
    • Anhaltende Beschwerden: Die Schmerzen hätten trotz der Wiederaufnahme der Arbeit durch die Beschwerdeführerin angehalten, was auch Dr. G._ (der sie im November 2022 sah) bestätigte. Dr. F._ konzentrierte sich jedoch auf die "übliche" Dauer der Remission der Symptome, ohne die "ungewöhnliche" Dauer und die von Dr. E.__ genannten möglichen Gründe (berufliche Belastung) ernsthaft in Betracht zu ziehen.
    • Ausschluss unfallfremder Ursachen: Dr. E.__ hatte zudem ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die degenerativen Veränderungen am Hüftgelenk im MRT die aktuell bestehenden Schmerzen nicht erklärten.
  • Resultierende Zweifel: Diese Feststellungen der behandelnden Ärzte rufen nach Ansicht des Bundesgerichts mindestens Zweifel an der Zuverlässigkeit und Gültigkeit der Schlussfolgerungen von Dr. F.__ hervor.
  • Konsequenz – unabhängige Expertise: Gemäss der bundesgerichtlichen Rechtsprechung (ATF 135 V 465) ist in solchen Fällen, in denen berechtigte Zweifel an einer versicherungsinternen Beurteilung bestehen, eine weitere Abklärung durch einen unabhängigen medizinischen Gutachter nach Art. 44 ATSG unerlässlich. Diese Expertise soll den Kausalzusammenhang zwischen den festgestellten Schäden der rechten Ischiocruralmuskulatur und dem Unfall über den 29. Oktober 2022 hinaus beurteilen.

5. Entscheid und Kosten

Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut, annulliert das Urteil des Kantonsgerichts Wallis vom 13. Dezember 2024 sowie den Einspracheentscheid der CNA vom 23. Mai 2023. Die Sache wird an die CNA zur Durchführung einer ergänzenden Abklärung (insbesondere eine unabhängige Expertise) und zu einem neuen Entscheid über den Leistungsanspruch der Beschwerdeführerin zurückgewiesen.

Die Gerichtskosten werden der CNA auferlegt, und die CNA hat der Beschwerdeführerin eine Parteientschädigung für das Bundesgerichtsverfahren zu zahlen. Die Regelung der Parteientschädigung für das kantonale Verfahren wird an die Vorinstanz zurückgewiesen.

Kurze Zusammenfassung der wesentlichen Punkte:

  1. Statu quo sine vel ante: Der Versicherer muss den Nachweis erbringen, dass der Gesundheitszustand des Versicherten wieder dem Zustand vor dem Unfall oder dem Zustand ohne Unfall entspricht, um die Leistungen einzustellen.
  2. Zweifel an versicherungsinternen Gutachten: Treten auch nur geringe, aber begründete Zweifel an der Zuverlässigkeit der Beurteilung eines versicherungsinternen Arztes auf, insbesondere wenn diese von den Meinungen behandelnder Ärzte abweichen, ist eine unabhängige medizinische Expertise (Art. 44 ATSG) einzuholen.
  3. Fehlerhafte Würdigung der Arztberichte: Das Kantonsgericht und die CNA haben die Hinweise der behandelnden Ärzte (Dr. E._, Dr. G._) auf einen fortbestehenden Kausalzusammenhang und die Erklärung für eine verzögerte Heilung (berufliche Belastung, Ausschluss degenerativer Ursachen für die aktuellen Schmerzen) unzureichend berücksichtigt.
  4. Rückweisung: Aufgrund der bestehenden Zweifel am Erreichen des Statu quo sine vel ante zum massgeblichen Zeitpunkt wird die Sache zur Durchführung einer unabhängigen medizinischen Begutachtung an die CNA zurückgewiesen.