Zusammenfassung von BGer-Urteil 2C_514/2024 vom 29. September 2025

Es handelt sich um ein experimentelles Feature. Es besteht keine Gewähr für die Richtigkeit der Zusammenfassung.

Gerne fasse ich das vorliegende Urteil des Schweizerischen Bundesgerichts detailliert zusammen:

Bundesgerichtsentscheid 2C_514/2024 vom 29. September 2025

1. Parteien und Streitgegenstand Die Beschwerdeführerinnen A._ (italienische Staatsangehörige, geb. 1998) und B._ (Sohn von A.__, geb. 2017) erhoben Beschwerde gegen ein Urteil des Kantonalen Verwaltungsgerichts des Kantons Tessin vom 12. September 2024. Dieses Urteil bestätigte die Widerrufung ihrer EU/EFTA-Aufenthaltsbewilligungen durch die Sezione della popolazione des Dipartimento delle istituzioni des Kantons Tessin und den darauf folgenden Entscheid des Staatsrates vom 5. Oktober 2022. Gegenstand des Verfahrens ist die Verlängerung der Aufenthaltsbewilligungen.

2. Sachverhalt A._ kam 2005 im Alter von sieben Jahren zum Familiennachzug zu ihrer Mutter in die Schweiz und erhielt eine EU/EFTA-Aufenthaltsbewilligung, die bis zum 21. Juli 2020 erneuert wurde. Im Jahr 2017 wurde sie Mutter von B._, dessen Vater (ebenfalls italienischer Staatsangehöriger und Grenzgänger) später verstarb. B.__ lebte stets bei seiner Mutter in der Schweiz und erhielt ebenfalls eine EU/EFTA-Aufenthaltsbewilligung, befristet bis zum 21. Juli 2020.

Am 24. Juni 2020 widerrief die Sezione della popolazione die Aufenthaltsbewilligungen beider Beschwerdeführender und ordnete ihre Ausreise an. Begründet wurde dies damit, dass A._ seit dem 1. April 2017 keiner Erwerbstätigkeit nachging und somit nicht als Arbeitnehmerin im Sinne des Freizügigkeitsabkommens (FZA) galt. Zudem verfügte sie nicht über ausreichende finanzielle Mittel, da sie Sozialhilfe bezog und kantonale Familienzulagen sowie Geburtszulagen gemäss Tessiner Gesetzgebung erhielt. Diese Massnahme wurde durch den Staatsrat und das kantonale Verwaltungsgericht bestätigt. Während des hängigen Verfahrens wurden A._ zwei weitere Kinder geboren (D._ 2020 und E._ 2021).

3. Zulässigkeit der Beschwerde Das Bundesgericht prüfte zunächst die Zulässigkeit der Beschwerde. Da die Beschwerdeführenden italienische Staatsangehörige sind und sich grundsätzlich auf das Freizügigkeitsabkommen (FZA) berufen können, fällt die Sache nicht unter die Unzulässigkeitsklausel von Art. 83 lit. c Ziff. 2 BGG. Angesichts der langen Aufenthaltsdauer der Beschwerdeführerin 1 (A.__) ist zudem das Recht auf Anrufung von Art. 8 EMRK gegeben (vergleiche hierzu BGE 144 I 266 E. 3.9). Die Frage, ob tatsächlich ein Aufenthaltsrecht besteht, ist eine materielle Frage (BGE 147 I 268 E. 1.2.7).

Unzulässig ist hingegen der Eventualantrag auf Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung aus «Härtefallgründen» gemäss Art. 20 der Verordnung über die Einführung der Personenfreizügigkeit (Einführungsverordnung FZA, OLCP) in Verbindung mit Art. 30 des Ausländer- und Integrationsgesetzes (AIG), da diese Bestimmungen keinen Rechtsanspruch auf Aufenthalt begründen. Auch der Antrag auf Aufhebung des Staatsratsentscheids vom 5. Oktober 2022 ist aufgrund des Devolutiveffekts der Beschwerden unzulässig. Im Übrigen ist die Beschwerde als Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten zulässig.

4. Materiellen Prüfung durch das Bundesgericht

4.1. Nicht bestrittene Punkte Die Beschwerdeführenden bestritten in ihrer Eingabe an das Bundesgericht nicht, dass die Voraussetzungen für folgende Punkte nicht erfüllt seien: * A.__s Status als Arbeitnehmerin im Sinne des FZA. * A.__s Verbleiberecht nach Beendigung ihrer Erwerbstätigkeit. * B.__s Verbleiberecht zur Beendigung seiner Ausbildung in der Schweiz.

Das Bundesgericht bestätigte die Ausführungen der Vorinstanz zu diesen Punkten trotzdem als korrekt und teilte die Einschätzung.

4.1.1. Arbeitnehmerstatus (Art. 4 FZA i.V.m. Art. 6 Anhang I FZA) Da A.__ seit April 2017 keiner Erwerbstätigkeit nachgeht und keine Arbeitslosenentschädigung bezieht, kann ihr der Status einer Arbeitnehmerin nicht (mehr) zuerkannt werden. Nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung erlischt der Arbeitnehmerstatus nach einer unfreiwilligen Arbeitslosigkeit von 18 Monaten und dem Erschöpfen des Anspruchs auf Arbeitslosenversicherungsleistungen, da keine realistische Aussicht auf eine Wiedereingliederung besteht (BGE 147 II 1 E. 2.1.3; 2C_699/2023 vom 19. Mai 2025 E. 5.2, zur Publikation vorgesehen).

4.1.2. Verbleiberecht nach Beendigung der Erwerbstätigkeit (Art. 7 lit. c FZA i.V.m. Art. 4 Anhang I FZA, Art. 2 der Verordnung (EWG) Nr. 1251/70) A.__, geboren 1998, hat weder das Rentenalter erreicht noch eine dauerhafte Arbeitsunfähigkeit, wie sie für ein solches Verbleiberecht erforderlich wäre (BGE 141 II 1 E. 4.1; 2C_565/2022 vom 14. April 2025 E. 5 und 6, zur Publikation vorgesehen).

4.1.3. Verbleiberecht für die Ausbildung des Kindes (Art. 3 Abs. 6 Anhang I FZA) Da B.__ 2017 geboren wurde und noch am Anfang seiner Schulpflicht steht, sind die Voraussetzungen für ein Verbleiberecht zur Beendigung seiner Ausbildung in der Schweiz nicht gegeben. Die Rechtsprechung verlangt, dass das Kind bereits mit der Integration im Aufnahmestaat begonnen hat, was bei Kleinkindern am Anfang der Schulzeit verneint wird (BGE 142 II 35 E. 4.1 ff.; 139 II 393 E. 4.2.2).

4.2. Verbleiberecht für Nichterwerbstätige (Art. 6 FZA i.V.m. Art. 24 Anhang I FZA) Art. 6 FZA gewährt Nichterwerbstätigen ein Aufenthaltsrecht, sofern sie für sich und ihre Familienangehörigen über ausreichende finanzielle Mittel verfügen, um während des Aufenthalts keine Sozialhilfe in Anspruch nehmen zu müssen, und eine umfassende Krankenversicherung besitzen (Art. 24 Abs. 1 Anhang I FZA). Das Bundesgericht stellte fest, dass B._ Ergänzungsleistungen in der Höhe von jährlich CHF 9'134.-- bezog. Gemäss Rechtsprechung werden Ergänzungsleistungen im Kontext des FZA der Sozialhilfe gleichgestellt (BGE 135 II 265 E. 3.5; 2C_290/2024 vom 5. September 2024 E. 5.5.2). Da diese Voraussetzung nicht erfüllt ist, kann weder A._ noch B.__ ein Aufenthaltsrecht auf dieser Grundlage zugestanden werden.

Das Bundesgericht präzisierte, dass es sich bisher nicht zur Frage geäussert hat, ob integrative Familienzulagen und Geburtszulagen (wie sie A.__ bezog) im Sinne von Art. 24 Anhang I FZA als Sozialhilfe gelten. Die vom kantonalen Gericht zitierte Rechtsprechung (BGE 141 II 401) betraf die Anwendung des AIG, nicht des FZA.

4.3. Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 8 EMRK und Art. 13 BV)

4.3.1. Grundsätze Art. 8 EMRK gewährt keinen direkten Anspruch auf Aufenthalt in der Schweiz, kann aber einer Massnahme entgegenstehen, die eine unverhältnismässige Einschränkung der Rechte darstellt. Das Recht auf Privatleben kann nach einem legalen Aufenthalt von etwa zehn Jahren in der Schweiz geltend gemacht werden, da dann von engen sozialen Bindungen ausgegangen werden kann (BGE 147 I 268 E. 1.2.4; 144 I 266 E. 3.9). Minderjährige Kinder teilen das migrationsrechtliche Schicksal des sorgeberechtigten oder faktisch betreuenden Elternteils (BGE 143 I 21 E. 5.4). Eine Einschränkung des Aufenthaltsrechts muss verhältnismässig sein (Art. 8 Abs. 2 EMRK, Art. 96 AIG).

4.3.2. Anwendbarkeit auf die Beschwerdeführenden Das Bundesgericht stellte fest, dass für A._ (geb. 1998, seit 2005 in der Schweiz) das Recht auf Anrufung von Art. 8 EMRK im Hinblick auf ihr Privatleben gegeben ist, da sie die erforderliche Aufenthaltsdauer von über zehn Jahren deutlich überschritten hat (15 Jahre bis 2020). Ihr Alter bei der Einreise (7 Jahre) und ihre aktuelle Wohnsituation sind für die Existenz dieses Rechts irrelevant. B._ als minderjähriger Sohn von A.__ teilt deren migrationsrechtliches Schicksal, sodass seine Situation zusammen mit der seiner Mutter zu prüfen ist.

4.3.3. Verhältnismässigkeitsprüfung (Entscheidender Punkt) Hier weicht das Bundesgericht von der Einschätzung der kantonalen Vorinstanz ab:

  • Fehlendes öffentliches Interesse: Das Bundesgericht stellte fest, dass im angefochtenen Urteil kein explizites oder anderweitig evidentes öffentliches Interesse zur Bestätigung der Wegweisung einer Person, die seit dem Alter von sieben Jahren in der Schweiz lebt, genannt wurde.

    • A.__ weist keine strafrechtlichen Verurteilungen auf (vgl. BGE 139 I 31 E. 2.3.2).
    • Sie hat keine privaten Schulden.
    • Der Bezug von integrativen Familienzulagen und Geburtszulagen kann ihr nicht zum Vorwurf gemacht werden. Das Bundesgericht bekräftigte, dass diese Leistungen familienpolitische Instrumente und keine Sozialleistungen mit Fürsorgecharakter darstellen, wenn es um die Verhältnismässigkeitsprüfung unter Art. 8 EMRK geht (BGE 141 II 401 E. 4 ff., betreffend genau die hier diskutierten kantonalen Zulagen; 2C_610/2023 vom 20. März 2025 E. 6.3.2). Dies ist ein zentraler Unterschied zur Bewertung unter Art. 24 Anhang I FZA, wo Ergänzungsleistungen als Sozialhilfe gelten.
    • Auch der Bezug von Sozialhilfe in der Vergangenheit und die aktuellen Ergänzungsleistungen (die als "contained" bezeichnet werden) rechtfertigen im Lichte des langen Aufenthalts und ohne qualifizierte Vorwürfe keine Wegweisung.
    • Die Tatsache, dass A.__ keine spezifische Ausbildung abgeschlossen hat, rechtfertigt ihren Landesverweis ebenfalls nicht, da keine anderen schwerwiegenden Gründe vorliegen.
  • Erhebliche private Interessen: Demgegenüber sind die privaten Interessen am Verbleib in der Schweiz erheblich und entscheidend.

    • A.__ kam als Kind in die Schweiz, hat ihr ganzes Leben hier verbracht, die Schulen besucht, ihre Kinder hier geboren und ihre Mutter lebt ebenfalls hier. Ein allfälliger Umzug nach Italien hätte "nicht unerhebliche" Konsequenzen für sie und ihre Kinder.
    • Eine Überweisung in die Grenzzone könnte die Auswirkungen zwar mindern, ist aber mangels eines spezifischen und wichtigen öffentlichen Interesses an der Ausreise nach einem derart langen Aufenthalt in der Schweiz nicht gerechtfertigt (vgl. 2C_610/2023 vom 20. März 2025 E. 6, 6.3.3, ein sehr ähnlicher Fall).

4.3.4. Fazit zur EMRK Das Bundesgericht kommt zum Schluss, dass die Verweigerung des Aufenthaltsrechts für die Beschwerdeführenden sowohl Art. 8 EMRK als auch Art. 96 AIG (Grundsatz der Verhältnismässigkeit) verletzt.

5. Ergebnis des Bundesgerichts Die Beschwerde wird, soweit zulässig, gutgeheissen. Das Urteil des Kantonalen Verwaltungsgerichts vom 12. September 2024 wird aufgehoben. Die Sache wird an die Sezione della popolazione des Dipartimento delle istituzioni des Kantons Tessin zurückgewiesen, damit sie die Aufenthaltsbewilligungen der Beschwerdeführenden verlängert. Dem Kanton Tessin werden keine Gerichtskosten auferlegt, und es werden keine Parteientschädigungen geschuldet. Die Frage der kantonalen Kosten und Parteientschädigungen wird an das kantonale Verwaltungsgericht zurückverwiesen.

Zusammenfassung der wesentlichen Punkte:

  1. FZA und Nichterwerbstätigkeit: Obwohl die Beschwerdeführerin A.__ den Status einer Arbeitnehmerin gemäss FZA verloren hatte und ihr auch kein Verbleiberecht nach Beendigung der Erwerbstätigkeit zustand, führte dies nicht automatisch zur Wegweisung.
  2. Ergänzungsleistungen als Sozialhilfe unter FZA: Der Bezug von Ergänzungsleistungen durch den Sohn B.__ wurde vom Bundesgericht als Inanspruchnahme von Sozialhilfe im Sinne von Art. 24 Anhang I FZA gewertet, was ein Aufenthaltsrecht für Nichterwerbstätige unter dem FZA ausschliesst.
  3. Art. 8 EMRK für Langzeitaufenthalt: Aufgrund des langen und legalen Aufenthalts von A.__ (15 Jahre seit ihrer Kindheit) in der Schweiz war ihr Recht auf Privatleben gemäss Art. 8 EMRK tangiert, und ihr Sohn teilt ihr Schicksal.
  4. Verhältnismässigkeitsprüfung unter EMRK: In der Verhältnismässigkeitsprüfung nach Art. 8 EMRK und Art. 96 AIG beurteilte das Bundesgericht:
    • Fehlendes öffentliches Interesse: Es gab kein ausreichend gewichtiges öffentliches Interesse (z.B. schwerwiegende Straffälligkeit oder hohe Sozialhilfeabhängigkeit im Sinne von qualifizierten Vorwürfen), um die Wegweisung zu rechtfertigen.
    • Familienzulagen vs. Sozialhilfe: Der Bezug von integrativen Familienzulagen und Geburtszulagen wurde im Rahmen der EMRK-Verhältnismässigkeit explizit nicht als Sozialhilfe mit Fürsorgecharakter gewertet, die eine Wegweisung rechtfertigen würde. Dies ist eine wichtige Unterscheidung zu Ergänzungsleistungen unter dem FZA.
    • Überwiegende private Interessen: Die starken privaten Interessen der Beschwerdeführenden (langer Aufenthalt seit Kindheit, etabliertes Leben in der Schweiz, familiäre Bindungen, Kinder) überwogen die fehlenden oder geringen öffentlichen Interessen.
  5. Folge: Die Ablehnung der Aufenthaltsverlängerung wurde als unverhältmässig erachtet und die Sache zur Erneuerung der Bewilligungen an die kantonale Behörde zurückgewiesen.