Detaillierte Zusammenfassung des Urteils des schweizerischen Bundesgerichts 9C_48/2025 vom 1. Oktober 2025
Parteien und Gegenstand
Beschwerdeführerin: A.__ AG, vertreten durch Advokat Dr. Hubertus Ludwig und Angelina Sulzer.
Beschwerdegegnerin: Eidgenössische Steuerverwaltung (ESTV), Hauptabteilung Mehrwertsteuer.
Gegenstand: Mehrwertsteuer (MWST) für die Steuerperioden 2012 bis 2016, im Rahmen einer Beschwerde gegen das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 11. Dezember 2024 (A-688/2023).
Sachverhalt und Prozessgeschichte
Die A._ AG, eine im Bereich Facility Management, CAD, Gebäudebewirtschaftung und Architektur tätige Gesellschaft, ist seit 2004 mehrwertsteuerpflichtig. Sie gehört zu einer Gruppe von vier Schwestergesellschaften, deren Verwaltungsrat bzw. Präsident B.B._ ist.
- Einleitung des Verfahrens: Im November 2017 eröffnete die ESTV ein Verwaltungsstrafverfahren gegen B.B._ und dessen Ehefrau G.B._ wegen Verdachts auf Abgabebetrug, Mehrwertsteuerhinterziehung (Art. 96 Abs. 1 MWSTG) und Verletzung von Verfahrenspflichten (Art. 98 MWSTG). Im Rahmen dieses Verfahrens wurden im Dezember 2017 Hausdurchsuchungen und Einvernahmen durchgeführt. Der A.__ AG wurde die Eröffnung des Strafverfahrens am 19. Dezember 2017 mitgeteilt, verbunden mit dem Hinweis auf den Friststillstand der Verjährung.
 
- Einreichung von Berichtigungen und Audit: Im Januar 2018 reichte die A._ AG Berichtigungsabrechnungen für 2012-2016 ein, in denen sie zusätzliche Steuerbeträge von insgesamt Fr. 27'923.- anerkannte. Eine interne Prüfung der ESTV führte zu einer Feststellung von zusätzlichen Steuerforderungen zulasten der A._ AG von anfänglich Fr. 135'810.-, später auf Fr. 87'943.- reduziert (ohne 2010-2011).
 
- Straf- und Leistungsverfügung: Im Schlussprotokoll vom Dezember 2021 stellte die ESTV eine Verkürzung der Steuerforderung fest, verwarf jedoch den Tatverdacht des Abgabebetrugs. Am 21. Juni 2022 erliess die ESTV eine Strafverfügung gegen B.B._ wegen mehrfacher vorsätzlicher Steuerhinterziehung (Art. 96 Abs. 1 lit. a MWSTG) und mehrfacher Verletzung von Verfahrenspflichten (Art. 98 lit. e MWSTG), verhängte eine Busse von Fr. 10'000.- und erklärte ihn solidarisch haftbar für die Steuernachforderung. Gleichzeitig erging eine Leistungsverfügung über Fr. 87'943.- zuzüglich Verzugszinsen gegen die A._ AG und B.B.__.
 
- Vorinstanzliche Entscheidungen:
- Die Einsprache der A._ AG gegen die Leistungsverfügung wurde von der ESTV teilweise gutgeheissen, wobei die Forderung auf Fr. 82'130.- reduziert wurde (Verzicht auf Nachbelastungen im Zusammenhang mit Zahlungen der C._ AG an die A.__ AG sowie einem Teil der Bezugssteuern).
 
- Das Bundesverwaltungsgericht hiess die Beschwerde der A.__ AG am 11. Dezember 2024 im Umfang von Fr. 14'881.- teilweise gut, wies sie im Übrigen jedoch ab. Es stellte zudem die Festsetzungsverjährung für die Steuerjahre 2012 und 2013 fest, da die ESTV dagegen kein Rechtsmittel ergriffen hatte. Damit ging es im vorliegenden Verfahren nur noch um die Steuerjahre 2014-2016.
 
 
Massgebende Rechtsfragen und Argumente der Parteien
Die A.__ AG beantragte beim Bundesgericht die Aufhebung des Urteils des Bundesverwaltungsgerichts wegen Verjährung, eventualiter eine Reduktion der Steuerforderung auf Fr. 0.-.
1. Verfahrensrechtliche und formelle Rügen der Beschwerdeführerin
Die Beschwerdeführerin brachte eine Reihe von Rügen vor, darunter die fehlende Paginierung von Akten, mangelhafte Substantiierung der Strafverfahrenseröffnung, die angebliche Verletzung der Unschuldsvermutung durch eine Kontensperre, die Verwendung des Begriffs "Ergänzungsabrechnung" sowie die Unverhältnismässigkeit der Fristen für Stellungnahmen und die Abweisung von Fristverlängerungsgesuchen.
- Bundesgerichtliche Würdigung: Das Bundesgericht wies diese Rügen als unzureichend begründet oder ins Leere gehend ab (Art. 42 Abs. 2, Art. 97 Abs. 1, Art. 106 Abs. 2 BGG). Es stellte fest, dass die Beschwerdeführerin sich in keiner Weise mit den Erwägungen der Vorinstanz auseinandergesetzt habe, die sich mit mehreren dieser Fragen bereits ausführlich befasst hatte.
 
2. Materielle Rügen der Beschwerdeführerin
Die Beschwerdeführerin beanstandete verschiedene von der ESTV vorgenommene Steuerkorrekturen:
- Ermessenseinschätzung: Die Beschwerdeführerin rügte eine unrechtmässige Ermessenseinschätzung durch die ESTV.
- Bundesgerichtliche Würdigung: Diese Rüge zielte ins Leere, da die Vorinstanz bereits anerkannt hatte, dass die ESTV keine Ermessenseinschätzung hätte vornehmen dürfen, und die einzelnen Positionen nach den allgemeinen Beweislastregeln des Mehrwertsteuerrechts selbst geprüft hatte.
 
 
- Umsatzabstimmung: Die Beschwerdeführerin bestritt, dass bestimmte Buchungen Entgelte für steuerbare Leistungen darstellten, und behauptete, es handle sich um Einlagen oder zinslose Darlehen.
- Bundesgerichtliche Würdigung: Das Bundesgericht folgte der Vorinstanz, welche die Darstellung der Beschwerdeführerin als nicht nachgewiesen erachtete. Die Beschwerdeführerin setzte sich mit dieser Beweiswürdigung nicht auseinander.
 
 
- "Spende B.B.__": Eine Rechnung, bei der ein Teil des Betrags als "Spende B.B.__" abgezogen wurde.
- Bundesgerichtliche Würdigung: Das Bundesgericht bestätigte die Vorinstanz, wonach hier eine geldwerte Leistung an B.B.__ vorlag, da die Gesellschaft nicht selbst als Spenderin auftrat, sondern der nicht geltend gemachte Teil des Entgelts als persönliche Spende ihres Verwaltungsratsvorsitzenden deklariert wurde.
 
 
- Zahlungen der C.__ AG und Bezugssteuer: Die Beschwerdeführerin rügte fälschlicherweise aufgerechnete Mehrwertsteuern im Zusammenhang mit Zahlungen der C.__ AG und der Bezugssteuer.
- Bundesgerichtliche Würdigung: Diese Rügen zielten ins Leere, da die ESTV die entsprechende Aufrechnung im Einspracheverfahren bereits vollständig zurückgenommen hatte und das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde bezüglich weiterer Bezugssteuer-Aufrechnungen gutgeheissen hatte.
 
 
- Geldwerte Leistungen für private Konsumationen: Die ESTV rechnete Mehrwertsteuern für diverse Aufwendungen (Wein, Restaurantbesuche, Kleider, Gartenartikel, Apothekenausgaben) auf, die mangels Belegen als Leistungen im Interesse eng verbundener Personen betrachtet wurden.
- Bundesgerichtliche Würdigung: Das Bundesgericht wies die Rüge der Beschwerdeführerin ab. Es stellte fest, dass die Beschwerdeführerin die Argumentation der Vorinstanz, wonach es sich um unentgeltlich zur Verfügung gestellte Leistungen für private Bedürfnisse handelte, nicht widerlegt hatte. Auch das Argument des Verrechnungsverbots und der Saldosteuersätze verkennt die Natur der Nachbelastung, die nicht auf einer Umqualifizierung von Aufwand, sondern auf der Besteuerung unentgeltlicher Leistungen basierte.
 
 
- Leasinggebühren: Die ESTV rechnete Leasinggebühren auf, da das geleaste Gerät bereits 2012 gekauft und aktiviert worden sei (Doppelbuchung).
- Bundesgerichtliche Würdigung: Die Vorinstanz hatte in freier Beweiswürdigung festgestellt, dass es sich um dieselben Geräte handelte und die Beschwerdeführerin Kosten für eng verbundene Personen übernommen hatte. Die Beschwerdeführerin setzte sich mit diesen Erwägungen nicht auseinander und brachte neue, unzulässige Tatsachenbehauptungen vor (Art. 99 Abs. 1 BGG).
 
 
- Privatanteile für Fahrzeugnutzung:
- Bundesgerichtliche Würdigung: Die Vorinstanz hatte festgestellt, dass die A._ AG B.B._ unentgeltlich Geschäftsfahrzeuge zur Verfügung stellte, ohne Privatanteile auszuscheiden. Die ermessensweise Aufrechnung durch die ESTV wurde als korrekt erachtet. Die Beschwerdeführerin legte keine Rechtsfehler der Vorinstanz dar.
 
 
3. Die entscheidende Frage der Verjährung
Die zentrale und für den Teilerfolg der Beschwerde massgebliche Rechtsfrage betraf die Festsetzungsverjährung der Mehrwertsteuerforderungen.
- Rechtliche Grundlagen:
- Art. 105 Abs. 3 MWSTG regelt die Verjährung der Leistungspflicht:
- lit. a: Grundsätzlich nach Art. 42 MWSTG (Festsetzungsverjährung): relative Frist von fünf Jahren (Art. 42 Abs. 1 MWSTG) und absolute Frist von zehn Jahren (Art. 42 Abs. 5 MWSTG). Ein Strafverfahren führt zum Friststillstand der relativen Verjährung (Art. 42 Abs. 4 MWSTG).
 
- lit. b: Wenn ein Tatbestand nach Art. 96 Abs. 4, 97 Abs. 2 oder 99 MWSTG oder Art. 14-17 VStrR erfüllt ist, richten sich die Fristen nach der Verfolgungsverjährung (Art. 105 Abs. 1 und 2 MWSTG).
 
 
 
- Argumente der ESTV und Beschwerdeführerin:
- Die ESTV vertrat im bundesgerichtlichen Verfahren die Ansicht, es seien schwerwiegendere Tatbestände (gewerbsmässige Steuerhinterziehung nach Art. 97 Abs. 2 MWSTG oder gewerbsmässiger Abgabebetrug nach Art. 14 Abs. 4 VStrR) erfüllt, was eine Verjährung nach Art. 105 Abs. 3 lit. b MWSTG zur Folge hätte.
 
- Die Beschwerdeführerin argumentierte, die Frist für die Durchführungsverjährung habe bereits mit der Strafanzeige (November 2016) begonnen, wodurch die Strafverfügung (Juni 2022) verspätet sei und auch die Steuerjahre 2014-2016 verjährt wären.
 
 
- Bundesgerichtliche Würdigung der Verjährung:
- Ablehnung der ESTV-Argumentation: Das Bundesgericht wies die Argumentation der ESTV zurück. Die ESTV hatte in ihrer eigenen Strafverfügung vom Juni 2022 lediglich die Tatbestände der mehrfachen vorsätzlichen Steuerhinterziehung (Art. 96 Abs. 1 lit. a MWSTG) und der mehrfachen Verletzung von Verfahrenspflichten (Art. 98 lit. e MWSTG) festgestellt. Die ESTV kann im bundesgerichtlichen Verfahren nicht entgegen ihrer eigenen früheren Qualifikation des Verhaltens nunmehr eine schwerwiegendere Qualifikation vertreten, um die Verjährung der Leistungsverpflichtung zu umgehen. Daher sei Art. 105 Abs. 3 lit. a i.V.m. Art. 42 MWSTG anzuwenden.
 
- Ablehnung der Beschwerdeführerin-Argumentation: Das Bundesgericht hielt fest, dass für die Verfolgungsverjährung (die hier ohnehin nicht zur Anwendung kommt) der massgebende Zeitpunkt für den Fristbeginn die Eröffnung der Strafuntersuchung ist, nicht der Zeitpunkt einer Strafanzeige.
 
- Entscheidender Punkt zur absoluten Verjährung: Das Bundesgericht präzisierte die Anwendung von Art. 105 Abs. 3 lit. a i.V.m. Art. 42 MWSTG. Es bestätigte die Rechtsprechung (u.a. Urteil 9C_691/2022 vom 7. September 2023), wonach die absolute Verjährungsfrist von zehn Jahren (Art. 42 Abs. 5 MWSTG) auch während des Friststillstands der relativen Verjährung weiterläuft, der durch ein eingeleitetes Strafverfahren ausgelöst wird.
- Für die Steuerperiode 2014 endete die Zehnjahresfrist der absoluten Festsetzungsverjährung am 31. Dezember 2024 (zehn Jahre nach Ablauf der Steuerperiode 2014).
 
- Da das Urteil des Bundesgerichts am 1. Oktober 2025 erging, war die Steuerforderung für das Jahr 2014 zu diesem Zeitpunkt bereits absolut verjährt.
 
- Für die Steuerperioden 2015 und 2016 war die Verjährung hingegen noch nicht eingetreten.
 
 
 
Entscheid des Bundesgerichts
Das Bundesgericht hiess die Beschwerde, soweit darauf eingetreten wurde, teilweise gut und hob den angefochtenen Entscheid hinsichtlich der Steuerperiode 2014 infolge eingetretener Verjährung auf. Im Übrigen wurde die Beschwerde abgewiesen.
Wesentliche Punkte der Zusammenfassung
- Das Bundesgericht bestätigte die meisten materiellen Steuerkorrekturen der ESTV, da die Rügen der Beschwerdeführerin unsubstanziiert waren oder sich nicht mit den vorinstanzlichen Erwägungen auseinandersetzten.
 
- Es lehnte die Argumentation der ESTV ab, nachträglich schwerwiegendere Straftatbestände zur Anwendung zu bringen, um die Verjährung zu umgehen. Es blieb bei der im Strafbefehl der ESTV selbst festgestellten einfachen Steuerhinterziehung und Verletzung von Verfahrenspflichten (Art. 96 Abs. 1 lit. a und Art. 98 lit. e MWSTG).
 
- Entscheidend für den Teilerfolg war die Verjährungsfrage: Das Bundesgericht stellte klar, dass die absolute Festsetzungsverjährungsfrist von zehn Jahren (Art. 42 Abs. 5 MWSTG) auch während des Friststillstands der relativen Verjährung (Art. 42 Abs. 4 MWSTG) – ausgelöst durch ein Strafverfahren – weiterläuft.
 
- Da die Steuerperiode 2014 am 31. Dezember 2014 endete und das Bundesgerichtsurteil am 1. Oktober 2025 erging, war die Zehnjahresfrist der absoluten Verjährung für das Jahr 2014 abgelaufen.
 
- Die Steuerforderungen für die Jahre 2015 und 2016 waren hingegen im Zeitpunkt des Urteils noch nicht verjährt.