Detaillierte Zusammenfassung des Urteils des Schweizerischen Bundesgerichts 9C_50/2025 vom 1. Oktober 2025
1. Einleitung und Verfahrensgegenstand
Das vorliegende Urteil des Bundesgerichts (BGer) betrifft eine Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten der A.__ AG (Beschwerdeführerin) gegen ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts (BVGer) vom 11. Dezember 2024. Gegenstand der Beschwerde sind Mehrwertsteuernachforderungen der Eidgenössischen Steuerverwaltung (ESTV) für die Steuerperioden 2015 und 2016. Die Beschwerdeführerin beantragt primär die Aufhebung des vorinstanzlichen Urteils, eventualiter eine Herabsetzung der Steuerforderung auf CHF 0.-.
2. Sachverhalt (Fokus auf relevante Punkte)
Die A._ AG ist eine von vier Schwestergesellschaften, deren Verwaltungsrat bzw. Präsident B.B._ ist. Die Gesellschaften sind in verschiedenen Bereichen tätig, darunter Facility Management, Gastronomie (Café A.__), Immobilien und Beteiligungen.
Im November 2017 eröffnete die ESTV ein Verwaltungsstrafverfahren gegen B.B._ und dessen Ehefrau G.B._ wegen Verdachts auf Abgabebetrug und Mehrwertsteuerhinterziehung im Zusammenhang mit den genannten Gesellschaften. Im Rahmen dieses Verfahrens wurden Hausdurchsuchungen durchgeführt und Unterlagen sichergestellt. Die A.__ AG wurde am 19. Dezember 2017 über die Eröffnung des Strafverfahrens informiert, verbunden mit dem Hinweis, dass die Verjährungsfrist für die Festsetzung der Steuerforderung für die entsprechenden Perioden stillstehe.
Nachdem die A._ AG Umsatzabstimmungen mit Korrekturen für 2015 und 2016 eingereicht hatte, führte die ESTV eine buchhalterische Auswertung durch und stellte zusätzliche Steuerforderungen fest. Am 21. Juni 2022 erliess die ESTV zwei zentrale Verfügungen:
1. Eine Strafverfügung gegen B.B._, in der er wegen mehrfacher vorsätzlicher Steuerhinterziehung und Verletzung von Verfahrenspflichten schuldig gesprochen, mit einer Busse von CHF 10'000.- belegt und für die Steuernachforderung der A._ AG solidarisch haftbar erklärt wurde.
2. Eine Leistungsverfügung gegen die A._ AG, die eine Nachzahlung von CHF 17'469.- zuzüglich Verzugszinsen für die Steuerperioden 2015 und 2016 forderte.
Die A._ AG erhob Einsprache, anerkannte dabei aber nur geringe Korrekturen. Die ESTV wies die Einsprache grösstenteils ab und nahm sogar eine zusätzliche Korrektur von CHF 4'354.13 vor, was die Gesamtforderung auf CHF 20'179.- erhöhte. Das Bundesverwaltungsgericht hiess die Beschwerde der A._ AG lediglich teilweise im Umfang von CHF 845.40 gut, wies sie im Übrigen ab.
3. Rechtliche Kernfragen und Begründung des Bundesgerichts
Das Bundesgericht befasste sich hauptsächlich mit den von der Beschwerdeführerin erhobenen Verfahrensrügen, den materiellen Einwänden gegen die Mehrwertsteuer-Nachforderungen sowie der zentralen Frage der Festsetzungsverjährung.
3.1. Verfahrensrechtliche Rügen der Beschwerdeführerin
Die Beschwerdeführerin brachte eine Reihe von verfahrensrechtlichen Mängeln vor, darunter fehlende Paginierung der Akten, unvollständige Akten (keine Kenntnis der Strafanzeige der Steuerverwaltung Basel-Stadt), angebliche Verletzung der Unschuldsvermutung durch Bankauskünfte und Kontensperren, eine als zu lange empfundene Verfahrensdauer sowie eine Verletzung der Garantie des fairen Verfahrens aufgrund der Beteiligung desselben ESTV-Mitarbeiters an Hausdurchsuchung und Ergänzungsabrechnung.
Das Bundesgericht wies diese Rügen ausnahmslos zurück. Es stellte fest, dass die Beschwerdeführerin sich in keiner Weise mit den detaillierten Ausführungen der Vorinstanz zu diesen Punkten auseinandersetze (vgl. angefochtener Entscheid E. 3.3 zur EMRK-Anwendbarkeit im Nachleistungsverfahren; E. 4 zum rechtlichen Gehör). Die Vorbringen genügten den qualifizierten Rüge- und Begründungsobliegenheiten gemäss Art. 42 Abs. 2 und Art. 106 Abs. 2 BGG nicht. Insbesondere wurde nicht dargelegt, inwiefern die vorinstanzlichen Sachverhaltsfeststellungen offensichtlich unrichtig oder rechtswidrig gewesen seien und welche dieser Mängel für den Verfahrensausgang entscheidend gewesen wären (Art. 97 Abs. 1 BGG). Bloße Wiederholungen früherer Vorbringen oder appellatorische Kritik wurden nicht zugelassen.
3.2. Materielle Mehrwertsteuer-Nachforderungen
Die Beschwerdeführerin bestritt weiterhin die materiellen Nachforderungen der ESTV.
- Ermessenseinschätzung: Die Beschwerdeführerin rügte, die ESTV habe zu Unrecht eine Ermessenseinschätzung vorgenommen. Das Bundesgericht hielt fest, dass die Vorinstanz dieses Vorgehen der ESTV bereits als unzutreffend erkannt und für die einzelnen bestrittenen Positionen die allgemein geltenden Beweislastregeln des Mehrwertsteuerrechts angewendet habe (vgl. angefochtener Entscheid E. 6.3.5 und 6.3.6). Insoweit sei die Beschwerdeführerin nicht mehr beschwert und daher nicht zur Beschwerde legitimiert (Art. 89 Abs. 1 lit. b und c BGG).
- Aufrechnungen für Zahlungen an H._ AG und Lieferungen an "I._": Auch hier wiederholte die Beschwerdeführerin lediglich stereotype Vorbringen, ohne sich mit der detaillierten Beweiswürdigung der Vorinstanz auseinanderzusetzen. Die Vorinstanz hatte die Aufrechnungen ausführlich behandelt und gestützt auf die ESTV-Beweiswürdigung bestätigt (angefochtener Entscheid E. 7.1.1 und E. 7.1.2). Das Bundesgericht erachtete die Begründung als ungenügend (Art. 42 Abs. 2 BGG).
- Geldwerte Leistungen: Ähnlich verhielt es sich mit den Aufrechnungen für geldwerte Leistungen. Die Vorinstanz hatte diese Positionen einer eingehenden Analyse unterzogen (angefochtener Entscheid E. 7.2). Die Beschwerdeführerin legte keine Willkür in der Beweiswürdigung dar und versuchte, neue Beweismittel einzureichen, was gemäss Art. 99 Abs. 1 BGG unzulässig ist.
- Verpflegung G.B.__ im Café: Die Beschwerdeführerin monierte, in den Veranlagungen für die direkten Steuern der Beteiligten seien keine entsprechenden Aufrechnungen vorgenommen worden. Das Bundesgericht stellte klar, dass der Umstand, dass für direkte Steuern keine Aufrechnungen erfolgten, einer solchen Aufrechnung bei der Mehrwertsteuer nicht entgegensteht. Es verwies auf ähnliche Entscheidungen (BGer 9C_616/2024 und 9C_620/2024 vom 20. August 2025 E. 4), welche die steuerrechtliche Autonomie der Mehrwertsteuer gegenüber anderen Steuerarten unterstreichen. Die Rüge, es seien unzutreffend hohe Pauschalansätze verwendet worden, wurde mangels Nachweises abgewiesen.
3.3. Festsetzungsverjährung
Ein zentraler Streitpunkt war die von der Beschwerdeführerin geltend gemachte Festsetzungsverjährung für die Steuerperioden 2015 und 2016.
- Argument der Beschwerdeführerin: Die Beschwerdeführerin vertrat die Ansicht, die Durchführungsverjährung beginne mit der "ersten Untersuchungshandlung der Behörden" bzw. mit der internen Strafanzeige der Steuerverwaltung Basel-Stadt im November 2016. Damit sei die fünfjährige Durchführungsverjährungsfrist bis zur Strafverfügung vom 21. Juni 2022 überschritten worden.
- Begründung des Bundesgerichts: Das Bundesgericht wies diese Argumentation dezidiert zurück:
- Anwendbare Norm: Die Verjährung für die Leistungspflicht richte sich hier nach Art. 105 Abs. 3 lit. a i.V.m. Art. 42 MWSTG, da B.B.__ nicht wegen eines der in Art. 105 Abs. 3 lit. b MWSTG genannten Tatbestände verurteilt wurde.
- Beginn des Fristenstillstands: Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin sei der Startpunkt für die Verfolgungsverjährung nicht der interne Entscheid zur Durchführung einer Strafuntersuchung, sondern der Zeitpunkt, zu dem das Strafverfahren eröffnet wurde. Das Bundesgericht verwies hierzu auf seine Rechtsprechung (BGer 6B_1360/2022, 6B_1362/2022, 6B_1378/2022 vom 22. Juli 2024 E. 3.7.5) und die herrschende Lehre (Valerie Paris, in: Kommentar zum Schweizerischen Steuerrecht, 2. Aufl. 2025, N. 5a zu Art. 105 MWSTG).
- Berechnung der Fristen:
- Der Fristenstillstand für die relative Festsetzungsverjährung (Art. 42 Abs. 4 MWSTG) begann mit der Mitteilung der Eröffnung des Strafverfahrens an die Beschwerdeführerin am 19. Dezember 2017.
- Die absolute Verjährungsfrist von zehn Jahren (Art. 42 Abs. 5 MWSTG) lief jedoch während dieses Stillstands weiter. Das Bundesgericht bestätigte dies unter Verweis auf seine Rechtsprechung (BGer 9C_691/2022 vom 7. September 2023 E. 3.5.1 - 3.5.4).
- Für die Steuerperiode 2015 tritt die absolute Festsetzungsverjährung demnach erst Ende 2025 ein, für 2016 erst Ende 2026.
- Selbst wenn der Fristenstillstand mit dem Erlass der Strafverfügung am 21. Juni 2022 geendet hätte, wäre der Lauf der Verjährungsfrist durch den gleichzeitigen Erlass der Leistungsverfügung unterbrochen worden, und die relative Verjährungsfrist hätte gemäss Art. 42 Abs. 3 MWSTG neu für zwei Jahre zu laufen begonnen. Angesichts der Daten des Einspracheentscheids (30. Dezember 2022) und des angefochtenen Bundesverwaltungsgerichtsentscheids (11. Dezember 2024) ist somit weder die relative noch die absolute Festsetzungsverjährung für die Jahre 2015 und 2016 eingetreten.
4. Fazit des Bundesgerichts
Die Beschwerde erweist sich, soweit darauf einzutreten war, als unbegründet und wurde abgewiesen.
Kurze Zusammenfassung der wesentlichen Punkte:
- Mehrwertsteuer-Nachforderungen: Das Bundesgericht bestätigte die Mehrwertsteuer-Nachforderungen der ESTV für die A.__ AG für die Steuerperioden 2015 und 2016.
- Verfahrensrügen abgewiesen: Zahlreiche verfahrensrechtliche Beschwerden der A.__ AG wurden wegen ungenügender Begründung oder mangelnder Auseinandersetzung mit den vorinstanzlichen Erwägungen abgewiesen.
- Materielle Rügen abgewiesen: Die Einwände gegen spezifische Aufrechnungen der ESTV (z.B. geldwerte Leistungen, Verpflegungskosten) wurden aufgrund fehlender Substantiierung oder Unzulässigkeit neuer Beweismittel verworfen.
- Unabhängigkeit der Steuerarten: Das Gericht bekräftigte, dass die Behandlung eines Sachverhalts bei der direkten Besteuerung nicht massgeblich für die Mehrwertsteuer ist.
- Festsetzungsverjährung nicht eingetreten: Die zentrale Rüge der Verjährung wurde zurückgewiesen. Der Fristenstillstand für die relative Verjährung begann mit der Mitteilung des Strafverfahrens (19.12.2017), während die absolute zehnjährige Verjährungsfrist weiterlief. Diese absolute Frist läuft für 2015 erst Ende 2025 und für 2016 Ende 2026 ab, somit ist keine Verjährung eingetreten. Der massgebende Zeitpunkt für den Beginn des Fristenstillstands ist die Eröffnung des Strafverfahrens, nicht ein interner Behördenentscheid.