Zusammenfassung von BGer-Urteil 6B_687/2024 vom 12. September 2025

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Detaillierte Zusammenfassung des Urteils des Schweizerischen Bundesgerichts (6B_687/2024, 6B_698/2024)

Datum des Urteils: 12. September 2025 Abteilung: I. Strafrechtliche Abteilung Parteien: * A.A._ (Stiefmutter, Beschwerdeführerin 6B_687/2024) * B.A._ (Vater, Beschwerdeführer 6B_698/2024) * Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich (Beschwerdegegnerin) Gegenstand: Schwere Körperverletzung (aArt. 122 Abs. 3 StGB); Strafzumessung; Beschränkung der Berufung (Art. 399 Abs. 4 StPO); Landesverweisung

I. Sachverhalt und Vorinstanzen

Den Beschwerdeführenden A.A._ (Stiefmutter) und B.A._ (Vater) wurde vorgeworfen, die leibliche Tochter C.__ (geb. 2004) des Vaters über einen Zeitraum von acht Jahren (2011 bis 2019) physisch und psychisch misshandelt sowie sie aus der Familie ausgegrenzt zu haben. Die Misshandlungen umfassten eine systematische Abfolge von körperlichen Strafen und seelischen Grausamkeiten: * Beginn mit Ohrfeigen durch den Vater (ab 2011, verstärkt 2015-2017). * Ab Februar 2013 zunehmende Ausgrenzung der Tochter, die fortan die meiste Zeit in ihrem Zimmer verbringen und dort auch Mahlzeiten einnehmen musste. * Ab September 2017 massive Verschlimmerung der Misshandlungen: wiederholtes, teils tägliches Abbrausen mit sehr kaltem, später sehr heissem Wasser, auch gemeinsam oder alleine. * Besonders schwere Vorfälle: * Vater schüttete alkoholhaltigen Kalkentferner über den Kopf der Tochter, was zu Verätzungen führte. * Vater fesselte die Tochter mit Klebeband, drückte sie in einer halb gefüllten Badewanne unter Wasser, während die Stiefmutter nur teilweise zur Atmung aufforderte. * Vater steckte der Tochter den Duschschlauch in den Mund und zwang sie, Wasser zu trinken, was einmal zum Erbrechen führte; die Stiefmutter intervenierte nicht. * Mehrmaliges Fesseln der Tochter mit Klebeband an Bett oder Bürostuhl über mehrere Stunden. * Würgattacken durch beide Beschwerdeführende, bei denen die Tochter die Luft verlor. * Stiefmutter drohte der Tochter zweimal mit einem Küchenmesser und dem Tod, sollte sie von den Misshandlungen erzählen. Die Tochter erlitt infolge dieses "unmenschlichen, grausam-sadistischen und erniedrigenden Erziehungs- und Strafsystems" schwere psychische Schäden, namentlich mindestens mittelgradige depressive Episoden und eine komplexe posttraumatische Belastungsstörung.

Das Bezirksgericht Zürich verurteilte beide Beschwerdeführenden am 19. September 2022 wegen schwerer Körperverletzung (aArt. 122 Abs. 3 StGB) zu je fünf Jahren Freiheitsstrafe. Gegenüber dem Vater ordnete es zusätzlich eine ambulante Behandlung und eine Landesverweisung von zehn Jahren an. Das Obergericht des Kantons Zürich bestätigte am 18. April 2024 die Freiheitsstrafe von fünf Jahren und die Landesverweisung von zehn Jahren für den Vater. Die Strafe der Stiefmutter wurde auf vier Jahre Freiheitsstrafe reduziert.

II. Anträge und Hauptstreitpunkte vor Bundesgericht

Beide Beschwerdeführenden erhoben Beschwerde in Strafsachen vor Bundesgericht. * A.A.__ (Stiefmutter): Beantragte die Aufhebung des vorinstanzlichen Urteils bezüglich des Strafpunkts und des Vollzugs sowie die Rückweisung zur Neubeurteilung. Sie begehrte im Grunde eine tiefere, teilbedingt auszusprechende Freiheitsstrafe von 30 Monaten. Ihre Berufung war explizit auf die Strafzumessung beschränkt. * B.A.__ (Vater): Beantragte die Aufhebung des Urteils und eine Verurteilung zu 18 Monaten Freiheitsstrafe ohne Landesverweisung, eventualiter die Rückweisung. Seine Berufung war ebenfalls auf die Strafzumessung und die Landesverweisung beschränkt.

Die Hauptstreitpunkte vor Bundesgericht konzentrierten sich auf die Rechtmässigkeit der Strafzumessung und die angeordnete Landesverweisung des Vaters, insbesondere im Lichte der vom Obergericht vorgenommenen Beschränkung der Kognition aufgrund der teilweisen Rechtskraft des erstinstanzlichen Urteils.

III. Erwägungen des Bundesgerichts

1. Vereinigung der Verfahren: Das Bundesgericht vereinigte die beiden Verfahren 6B_687/2024 und 6B_698/2024, da sie in engem sachlichen Zusammenhang standen, sich gegen denselben Entscheid richteten und ähnliche Rechtsfragen betrafen (Art. 71 BGG i.V.m. Art. 24 Abs. 2 lit. b BZP).

2. Zulässigkeit der Beschwerden (Reformatorische Anträge): Die Beschwerde der Stiefmutter wurde trotz rein kassatorischen Antrags als zulässig erachtet, da ihr Begehren aus der Begründung zweifelsfrei hervorging (tiefere Strafe) und das Bundesgericht in Strafzumessungsfragen ohnehin nicht reformatorisch entscheiden könnte (vgl. BGE 137 II 313 E. 1.3).

3. Beschränkung der Berufung auf die Strafzumessung (Art. 399 Abs. 4 StPO)

3.1. Rügen der Beschwerdeführenden: Die Beschwerdeführenden machten geltend, die Vorinstanz habe ihre eigene Kognition in unzulässiger Weise beschränkt, indem sie sich unter Verweis auf die Rechtskraft des Schuldspruchs an den erstinstanzlich festgestellten Sachverhalt gebunden gefühlt habe. Dadurch habe sie sich zu Unrecht nicht mit ihren Vorbringen auseinandergesetzt, wonach die körperlichen Übergriffe eher "Kurzschlussreaktionen" gewesen seien, der Deliktszeitraum kürzer gewesen sei und die Übergriffe weniger schwerwiegend ausgefallen seien. Dies führe zu einer Verletzung des rechtlichen Gehörs und einer unrichtigen Sachverhaltsfeststellung.

3.2. Begründung der Vorinstanz: Das Obergericht stellte fest, dass die Schuldpunkte des Bezirksgerichts mangels Anfechtung in Rechtskraft erwachsen waren. Es vertrat die Ansicht, die Beschwerdeführenden hätten mit dem Schuldspruch auch den zugrundeliegenden Sachverhalt anerkannt. Im Rahmen der Strafzumessung sei keine neue umfassende Beweiswürdigung vorzunehmen, sondern lediglich auf die "Umstände und Hintergründe der erstellten Vorfälle" einzugehen. Eine andere Haltung wäre unter dem Gesichtspunkt von Treu und Glauben (Art. 3 Abs. 2 StPO) "fragwürdig", da die beschuldigte Person die Anklagebehörde und Privatklägerschaft nicht durch das Anerkennen des Schuldspruchs von einer Anschlussberufung abhalten dürfe, um später den Schuldpunkt doch wieder umfassend zu thematisieren.

3.3. Präzisierung der Rechtsprechung durch das Bundesgericht: Das Bundesgericht präzisierte die Reichweite der Prüfungsbefugnis des Berufungsgerichts bei einer auf die Strafzumessung beschränkten Berufung. * Grundsatz: Das Berufungsgericht verfügt grundsätzlich über volle Kognition (Art. 398 Abs. 2 StPO). * Einschränkung durch Berufungsbeschränkung: Eine auf die Strafzumessung beschränkte Berufung schränkt die Prüfungsbefugnis des Berufungsgerichts jedoch auch in sachverhaltlicher Hinsicht ein. * Wirkung des rechtskräftigen Schuldspruchs: Der nicht angefochtene und damit rechtskräftige erstinstanzliche Schuldspruch fixiert einen bestimmten "Lebenssachverhalt" (vgl. BGE 149 IV 50 E. 1.1.3) und beurteilt diesen als strafbar. Dies legt die äusseren Grenzen des im Rahmen einer auf die Strafzumessung beschränkten Berufung noch zur Disposition stehenden Sachverhalts fest. * Unzulässige Sachverhaltsrügen: Folglich kann sich eine auf die Strafzumessung beschränkte Berufung nicht gegen die den Schuldspruch tragenden Sachverhaltselemente wenden. Es kann auch nicht festgestellt werden, einzelne von der ersten Instanz als strafbar beurteilte Lebenssachverhalte hätten sich nicht ereignet, da dies im Widerspruch zum unangefochtenen Schuldpunkt stünde. * Zulässige Sachverhaltsrügen: Das Berufungsgericht kann nur von anderen Tatumständen ausgehen, sofern es sich weiterhin um denselben Lebenssachverhalt handelt und kein neuer begründet wird. Es bleibt zuständig für die Überprüfung von straferhöhenden oder strafmindernden Umständen, die in engem Zusammenhang mit der angefochtenen Strafhöhe stehen (vgl. Urteile 6B_166/2025 E. 1.3.3; 6B_853/2016 E. 3.1.1).

3.4. Anwendung auf den Vater (B.A.__): Das Bundesgericht bestätigte, dass der Vater seine Berufung eindeutig auf die Strafzumessung und die Landesverweisung beschränkt hatte, wodurch der Schuldspruch wegen schwerer Körperverletzung rechtskräftig wurde. Seine Vorbringen, die angeklagten Misshandlungen hätten sich nicht "in dieser Dichte, in diesem Umfang wie auch im zeitlichen Umfang" ereignet, liefen darauf hinaus, Teile der rechtskräftig als strafbar beurteilten Lebenssachverhalte zu bestreiten. Dies sei unzulässig. Die Vorinstanz habe daher zu Recht Beweisanträge, die sich auf solche Aspekte bezogen, abgewiesen.

3.5. Anwendung auf die Stiefmutter (A.A.__): Auch die Stiefmutter hatte ihre Berufung auf die Strafzumessung beschränkt. Ihre Behauptungen, die schwersten Vorwürfe im Zeitraum Mai bis Oktober 2019 sowie alle Vorwürfe vor dem zugestandenen Zeitraum hätten sich nicht ereignet, bewegten sich ebenfalls ausserhalb der rechtskräftig als strafbar beurteilten Lebenssachverhalte und wurden zu Recht nicht berücksichtigt. Hinsichtlich ihrer Rüge, es habe sich um "Kurzschlussreaktionen" und nicht um systematische Misshandlungen gehandelt, stellte das Bundesgericht fest, dass die Vorinstanz sich ausreichend mit dieser Frage auseinandergesetzt hatte. Das Obergericht habe argumentiert, es sei ein systematisches, erniedrigendes Vorgehen gewesen, und habe dabei auch mildernde Umstände wie ihre anfänglichen Schutzversuche und Deeskalationsbeiträge berücksichtigt, gleichzeitig aber auch ihre sadistischen Handlungen und die Ablehnung von Hilfe (trotz gutachterlicher Hinweise auf keine vollständige Überforderung) hervorgehoben. Eine Gehörsverletzung lag somit nicht vor.

4. Landesverweisung (B.A.__)

4.1. Rügen des Beschwerdeführers: Der Vater rügte sinngemäss, die Vorinstanz habe seine Ehe, seine enge Beziehung zur jüngeren gemeinsamen Tochter E.A.__ und seine berufliche Integration sowie seine Therapie-Bemühungen unzureichend berücksichtigt.

4.2. Rechtliche Grundlagen: * Art. 66a Abs. 1 lit. b StGB: Sieht für Ausländer, die wegen schwerer Körperverletzung (aArt. 122 Abs. 3 StGB) verurteilt wurden, eine obligatorische Landesverweisung von 5 bis 15 Jahren vor. Der Beschwerdeführer (deutscher Staatsangehöriger, verurteilt wegen schwerer Körperverletzung) erfüllte diese Voraussetzungen. * Härtefallklausel (Art. 66a Abs. 2 StGB): Ermöglicht ein Absehen von der Landesverweisung, wenn kumulativ (1.) ein schwerer persönlicher Härtefall vorliegt und (2.) die öffentlichen Interessen an der Landesverweisung die privaten Interessen des Ausländers am Verbleib in der Schweiz nicht überwiegen. Diese Klausel ist restriktiv anzuwenden und dient der Umsetzung des Verhältnismässigkeitsprinzips (Art. 5 Abs. 2 BV; BGE 146 IV 105 E. 3.4.2). Kriterien zur Beurteilung des Härtefalls umfassen Integration, familiäre Bindungen, Aufenthaltsdauer, Gesundheitszustand und Resozialisierungschancen (vgl. BGE 144 IV 332 E. 3.3.2). * Recht auf Familienleben (Art. 8 EMRK / Art. 13 BV): Schutz der Kernfamilie. Das Kindeswohl ist ein wesentliches Element bei der Interessenabwägung. Eine Landesverweisung, die zu einer Trennung einer intakten Familiengemeinschaft führt, stellt einen Eingriff in Art. 8 EMRK dar, der nur nach eingehender Abwägung und aus ausreichend soliden Gründen erfolgen darf. Eine gelebte Ehe oder familiäre Beziehungen sind jedoch kein absolutes Hindernis (BGE 139 I 145 E. 2.3). * "Zweijahresregel": Bei einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren oder mehr bedarf es ausserordentlicher Umstände, damit das private Interesse des Betroffenen an einem Verbleib in der Schweiz das öffentliche Interesse an einer Landesverweisung überwiegt (vgl. Urteile 6B_625/2024 E. 3.1.4).

4.3. Anwendung auf den Vater (B.A.__): Das Bundesgericht befand die vorinstanzliche Verneinung eines schweren persönlichen Härtefalls als nachvollziehbar: * Der Vater verbrachte seine prägenden Jahre in Deutschland und hat dort weiterhin familiäre Bindungen (Eltern). Seine persönliche Verankerung in der Schweiz sei trotz beruflicher Integration gering. * Die ältere Tochter (Opfer) kann nicht für die Härtefallbeurteilung herangezogen werden. Die Stiefmutter (Mittäterin) hat ebenfalls eine Haftstrafe zu verbüssen. * Bezüglich der jüngeren Tochter E.A.__ wurde eine Fremdplatzierung erwartet, was den Kontakt erschweren würde. Es wurde jedoch angenommen, dass die Tochter aufgrund ihres Alters den Kontakt mittels moderner Kommunikationsmittel aufrechterhalten könne und die Familie die Möglichkeit hätte, in Deutschland oder grenznah eine neue Existenz aufzubauen, da alle Deutsch sprechen. Es wurden keine Gründe dargelegt, weshalb es der Stiefmutter und der Tochter unzumutbar sein sollte, dem Vater nach Deutschland zu folgen. * Die vom Vater angeführten Therapie-Bemühungen seit seiner Haftentlassung waren im vorinstanzlichen Sachverhalt nicht festgestellt und konnten vor Bundesgericht nicht als neue Tatsachen geltend gemacht werden, da keine Willkür bei der Sachverhaltsfeststellung gerügt wurde. * Angesichts der schwerwiegenden Rechtsgüterverletzung der eigenen Tochter und der hohen Freiheitsstrafe von fünf Jahren (deutlich über der "Zweijahresregel") wären ausserordentliche Umstände erforderlich gewesen, die hier nicht vorlagen. Das Bundesgericht bestätigte, dass die Landesverweisung bundesrechtskonform ist und die Anordnungsdauer von zehn Jahren nicht beanstandet wurde.

5. Kosten: Die Beschwerden wurden abgewiesen, soweit darauf eingetreten wurde. Die Gesuche der Beschwerdeführenden um unentgeltliche Rechtspflege wurden gutgeheissen, da ihre Bedürftigkeit ausgewiesen war und die Beschwerden nicht als aussichtslos galten. Entsprechend wurden keine Gerichtskosten erhoben, und die Rechtsvertreter wurden aus der Bundesgerichtskasse entschädigt.

Zusammenfassung der wesentlichen Punkte:

  1. Beschränkung der Berufung: Das Bundesgericht präzisierte, dass eine auf die Strafzumessung beschränkte Berufung die Kognition des Berufungsgerichts auch in sachverhaltlicher Hinsicht limitiert. Der rechtskräftige Schuldspruch fixiert den strafbaren Lebenssachverhalt. Es ist unzulässig, im Rahmen der Strafzumessung Sachverhaltselemente zu bestreiten, die den Schuldspruch tragen oder behaupten, Teile der rechtskräftig festgestellten strafbaren Handlungen hätten sich nicht ereignet. Rügen zu solchen Punkten wurden abgewiesen.
  2. Strafzumessung der Stiefmutter: Die Vorinstanz hat die Argumentation der "Kurzschlussreaktionen" ausreichend gewürdigt und widerlegt, indem sie ein systematisches Vorgehen feststellte und weitere entlastende Umstände (z.B. Schutzversuche) mit belastenden (z.B. Anstiftung, eigene sadistische Handlungen) abwog.
  3. Landesverweisung des Vaters: Die obligatorische Landesverweisung für schwere Körperverletzung wurde bestätigt. Ein schwerer persönlicher Härtefall wurde verneint, da die prägenden Jahre des Vaters in Deutschland verbracht wurden, seine persönliche Verankerung in der Schweiz gering war und die Kernfamilie die Möglichkeit hat, das Familienleben im Heimatland fortzusetzen oder den Kontakt aus der Ferne aufrechtzuerhalten. Angesichts der hohen Freiheitsstrafe von fünf Jahren und des schwerwiegenden Verschuldens (Verletzung der eigenen Tochter) waren keine ausserordentlichen Umstände ersichtlich, die ein Absehen von der Landesverweisung gerechtfertigt hätten.
  4. Ergebnis: Die Beschwerden beider Beschwerdeführenden wurden abgewiesen.