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Das Urteil des Schweizerischen Bundesgerichts (8C_229/2024 vom 24. September 2025) befasst sich detailliert mit der Frage des Anspruchs auf eine Hilflosenentschädigung nach Erreichen der Volljährigkeit bei einer Person mit Autismus-Spektrum-Störung (ASS) unter besonderer Berücksichtigung der Abgrenzung zwischen psychischen und mentalen Gesundheitsschädigungen gemäss Art. 42 Abs. 3 des Bundesgesetzes über die Invalidenversicherung (IVG).
I. Sachverhalt und Streitgegenstand
A._ (geb. 20. Dezember 2005) wurde 2011 wegen einer Autismus-Spektrum-Störung (ASS; ICD-10 F84) bei der Invalidenversicherung (IV) angemeldet. Die IV-Stelle anerkannte die ASS als angeborene Gebrechen (Ziff. 405 Anhang KLV-EDI) und gewährte medizinische Massnahmen sowie eine Hilflosenentschädigung (zunächst leichten, dann mittleren Grades). Nach Erreichen der Volljährigkeit stellte A._, vertreten durch seine Eltern, weitere IV-Leistungsanträge. Die IV-Stelle stellte die Hilflosenentschädigung per 1. Januar 2024 ein. Sie begründete dies damit, dass A._ zwar Begleitung zur Bewältigung der Lebensnotwendigkeiten benötige (2h50 pro Woche), der Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung bei einer ausschliesslich psychischen Gesundheitsschädigung jedoch eine Rentenberechtigung voraussetze, die bei A._ nicht gegeben sei. Die IV-Stelle qualifizierte die ASS als psychische Gesundheitsschädigung.
Das kantonale Versicherungsgericht hiess die Beschwerde von A.__ gut. Es qualifizierte die ASS als mentale und nicht als psychische Gesundheitsschädigung und sprach ihm daher eine Hilflosenentschädigung leichten Grades ab 1. Januar 2024 zu. Gegen diesen Entscheid erhob das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) Beschwerde an das Bundesgericht.
Streitig ist somit, ob die ASS von A.__ als ausschliesslich psychische oder als mentale Gesundheitsschädigung einzustufen ist, da dies massgeblich über das Erfordernis einer Rentenberechtigung für den Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung leichten Grades entscheidet.
II. Rechtlicher Rahmen und vorinstanzliche Beurteilung
Gemäss Art. 42 Abs. 3 IVG gilt eine Person, die aufgrund einer Gesundheitsschädigung dauernd Begleitung zur Bewältigung der Lebensnotwendigkeiten benötigt, als hilflos. Der entscheidende Passus lautet: "Ist die Gesundheitsschädigung ausschliesslich psychischer Natur, so gilt eine Person nur als hilflos, wenn sie Anspruch auf eine Rente hat." Das kantonale Gericht hatte die ASS als mentale Beeinträchtigung eingestuft und damit die Anwendbarkeit der restriktiven Rentenberechtigungsbedingung verneint. Es verwies auf die Anführung von ASS (Ziff. 405) unter Kapitel XVI ("Angeborene mentale Krankheiten und tiefgreifende Entwicklungsstörungen") der KLV-EDI und auf die Entstehungsgeschichte der 4. IV-Revision, die explizit zwischen "körperlichen", "mentalen" und "psychischen" Gesundheitsschädigungen unterscheide. Die strengere Regelung für psychische Beeinträchtigungen sei eingeführt worden, um Übertreibungen entgegenzuwirken und der Fluktuation psychischer Zustände Rechnung zu tragen – Aspekte, die bei angeborenen, nicht heilbaren mentalen Beeinträchtigungen nicht im Vordergrund stünden.
III. Argumentation des Beschwerdeführers (BSV)
Das BSV rügte eine Verletzung von Art. 42 Abs. 3 IVG. Es argumentierte, die Unterscheidung zwischen "mental" und "psychisch" bei ASS hänge massgeblich davon ab, ob eine Intelligenzminderung vorliege. Unter Verweis auf die Botschaft zur 4. IV-Revision, welche mentale Gesundheitsschädigungen mit unzureichender intellektueller Entwicklung gleichsetzt und psychische Beeinträchtigungen als emotionale oder kognitive Störungen definiert, stellte das BSV fest, dass A.__ keine Intelligenzminderung aufweise und seine ASS daher als ausschliesslich psychische Beeinträchtigung zu werten sei. Weiter führte das BSV an, dass die deutsche Fassung des Kapitels XVI der KLV-EDI von "Angeborene psychische Erkrankungen..." spreche und auch die CIM-11 ASS unter "Psychische Störungen, Verhaltensstörungen oder neuronale Entwicklungsstörungen" gruppiere. Die typischen ASS-Symptome (Anpassungsprobleme, sensorische Besonderheiten, emotionale Störungen) seien psychischer Natur. Das BSV berief sich zudem auf einen früheren Entscheid (9C_566/2019 vom 19. Mai 2020), in dem das Bundesgericht ein Asperger-Syndrom als ausschliesslich psychisch qualifizierte und den Anspruch auf Hilflosenentschädigung ohne Rentenberechtigung verneinte.
IV. Argumentation des Beschwerdegegners (A.__)
A.__ widersprach der Behauptung des BSV, er weise keine Intelligenzminderung auf, und verwies auf entsprechende Hinweise in seiner IV-Akte (Sonderschulbesuch, Schwierigkeiten in der beruflichen Ausbildung, Beistandschaft, intellektuelle Entwicklung auf Primarschulniveau). Er argumentierte, falls eine Intelligenzminderung das Kriterium sei, so sei diese bei ihm gegeben. Er bestritt die Relevanz der vom BSV vorgeschlagenen Differenzierung zwischen ASS mit oder ohne Intelligenzminderung und wies darauf hin, dass die CIM-10 ASS als Entwicklungsstörung mit einem konstanten Verlauf ohne Remissionen oder Rückfälle beschreibe, was nicht den fluktuierenden Zuständen typischer psychischer Erkrankungen entspreche.
V. Begründung des Bundesgerichts
Auslegung von Art. 42 Abs. 3 IVG: Das Bundesgericht bestätigte zunächst die Auslegung des kantonalen Gerichts, wonach die rentenberechtigende Einschränkung von Art. 42 Abs. 3 Satz 2 IVG ausschliesslich für rein psychische Gesundheitsschädigungen gilt. Diese Auslegung sei durch eine wörtliche, systematische und teleologische Betrachtung sowie durch die parlamentarischen Debatten gedeckt, die eine unkontrollierte Ausweitung der Leistungen für psychische Beeinträchtigungen verhindern sollten.
Abgrenzung "mental" vs. "psychisch": Das Bundesgericht stellte fest, dass die Eidgenössische Gesetzgebung (ATSG/IVG) keine Definition der Begriffe "mental" und "psychisch" enthält. Auch die CIM-10 unterscheidet nicht explizit zwischen "mentaler" und "psychischer" Funktion, sondern fasst "psychische Störungen" im Allgemeinen unter "Störungen der mentalen Gesundheit" zusammen. Versuche in der medizinischen Literatur, CIM-10-Kategorien spezifisch den Begriffen zuzuordnen (z.B. Traub, Perrenoud), seien nicht immer eindeutig. Das Urteil ATF 150 V 273, das eine ASS mit kognitiven Defiziten als "psychische Gesundheitsschädigung" qualifizierte, sei nicht präjudiziell, da die konkrete Abgrenzungsfrage zwischen mental und psychisch dort nicht vertieft behandelt wurde.
Herausforderung bei Autismus-Spektrum-Störungen (ASS): Das Bundesgericht hob die Heterogenität der ASS-Symptomatik hervor, die von früher Kindheit an vorhanden ist, aber in Intensität und Ausprägung variieren kann und mit oder ohne Intelligenzminderung auftreten kann. ASS sei eine nicht heilbare, lebenslang persistierende Neuroentwicklungsstörung. Angesichts dieser Komplexität und der nicht eindeutigen Terminologie in den deutschen und französischen Fassungen der KLV-EDI und CIM-11 erachtete das Bundesgericht eine generelle und eindeutige Zuordnung aller Formen von ASS als "mental" oder "psychisch" als schwierig.
Einführung eines neuen Abgrenzungskriteriums: Angesichts der dargelegten Schwierigkeiten bei der Abgrenzung schuf das Bundesgericht ein klares, adäquates und objektives Kriterium für die Qualifizierung einer Gesundheitsschädigung als mental im Sinne des Gesetzes: Eine begleitende Intelligenzminderung (oder intellektuelle Entwicklungsstörung gemäss CIM-11, Code 6A00) soll fortan als massgebliches Merkmal für eine mentale Beeinträchtigung dienen. Eine Intelligenzminderung ist diagnostisch präzise erfassbar mittels normierter Tests und ist historisch mit dem Begriff der "mentalen Retardierung" (F70-F79 CIM-10) verbunden. Sie zeugt von einem dauerhaft und signifikant beeinträchtigten intellektuellen und adaptiven Verhalten und ist damit versicherungsrechtlich relevant. Dieses Kriterium gewährleiste Klarheit, Objektivität und die Gleichbehandlung der Versicherten.
Rückweisung des Falls: Da die Frage, ob bei A.__ eine Intelligenzminderung vorliegt, vom kantonalen Gericht nicht abschliessend festgestellt wurde und zwischen den Parteien streitig ist, konnte das Bundesgericht den Fall nicht endgültig beurteilen. Es wies die Sache an die IV-Stelle zur Durchführung einer medizinischen Expertise zurück, um das Vorliegen einer Intelligenzminderung in Verbindung mit der ASS zu klären. Sollte eine solche festgestellt werden, wäre die Rentenberechtigung als Voraussetzung für die Hilflosenentschädigung nicht anwendbar.
VI. Entscheid
Das Bundesgericht hiess die Beschwerde des BSV teilweise gut. Das Urteil des kantonalen Versicherungsgerichts sowie die Verfügung der IV-Stelle wurden aufgehoben. Die Sache wurde zur ergänzenden Abklärung (Einholung einer medizinischen Expertise) und neuen Entscheidung über den Anspruch auf Hilflosenentschädigung an die IV-Stelle zurückgewiesen.
VII. Kurze Zusammenfassung der wesentlichen Punkte
Das Bundesgericht hat in diesem Urteil klargestellt, dass die restriktive Bedingung einer Rentenberechtigung für den Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung gemäss Art. 42 Abs. 3 IVG nur für ausschliesslich psychische Gesundheitsschädigungen gilt. Zur Abgrenzung zwischen "mentalen" und "psychischen" Gesundheitsschädigungen, insbesondere bei Autismus-Spektrum-Störungen (ASS), die eine differenzierte Klassifizierung erfordern, hat das Gericht ein neues, präzises Kriterium eingeführt: Eine begleitende Intelligenzminderung (oder intellektuelle Entwicklungsstörung) ist fortan massgeblich für die Qualifizierung einer Beeinträchtigung als mental. Da im vorliegenden Fall das Vorliegen einer solchen Intelligenzminderung nicht abschliessend geklärt war, wurde die Sache an die IV-Stelle zur Einholung einer medizinischen Expertise und Neubeurteilung zurückgewiesen. Das Urteil ist bedeutend, da es eine wichtige Abgrenzungsfrage im Sozialversicherungsrecht klärt und ein konkretes, objektivierbares Kriterium für die Praxis liefert.