Zusammenfassung von BGer-Urteil 8C_397/2025 vom 6. Oktober 2025

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Gerne fasse ich das bereitgestellte Urteil des Schweizerischen Bundesgerichts detailliert zusammen:

Detaillierte Zusammenfassung des Urteils des Bundesgerichts 8C_397/2025 vom 6. Oktober 2025

1. Einleitung und Parteien

Das vorliegende Urteil betrifft eine Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Art. 82 ff. BGG) im Bereich der Invalidenversicherung (IV). Der Beschwerdeführer A.__, vertreten durch Me Thomas Büchli, richtet sich gegen den Entscheid der Chambre des assurances sociales der Cour de justice de la République et canton de Genève vom 27. Mai 2025 (Vorinstanz). Die Vorinstanz hatte dem Beschwerdeführer eine ganze Invalidenrente lediglich für den Zeitraum vom 1. Januar bis 31. Oktober 2019 zugesprochen. Der Beschwerdeführer begehrt eine Invalidenrente basierend auf einem Invaliditätsgrad von 100% über diesen Zeitraum hinaus oder die Rückweisung der Sache an die Vorinstanz zur weiteren Abklärung.

2. Sachverhalt und Vorverfahren

Der 1971 geborene Beschwerdeführer erlitt am 17. Januar 2018 einen Unfall. Die Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA) stellte ihre Leistungen per 31. Juli 2019 ein. In diesem Verfahren wurde eine gerichtliche Expertise durch Dr. B.__ (Orthopädie und Traumatologie) eingeholt, deren Schlussfolgerungen die kantonalen Instanzen und schliesslich das Bundesgericht (Urteil 8C_612/2023 vom 13. März 2024) bestätigten.

Parallel dazu stellte der Beschwerdeführer am 16. Juli 2018 ein Leistungsgesuch bei der IV-Stelle des Kantons Genf (OAI) wegen einer persistierenden Lumbosciatalgie L5-S1 mit kleiner Diskushernie. Die OAI veranlasste eine eigene Expertise (Dr. C._, Orthopädie; Dr. D._, Psychiatrie), welche am 5. März 2024 erstellt wurde. Gestützt auf diese Expertise und die Stellungnahme des Regionalen Ärztlichen Dienstes (RAD) verneinte die OAI mit Entscheid vom 15. April 2024 den Anspruch auf eine Invalidenrente und berufliche Massnahmen.

Die Chambre des assurances sociales hiess die Beschwerde des Versicherten teilweise gut und sprach ihm eine volle Invalidenrente für den Zeitraum vom 1. Januar bis 31. Oktober 2019 zu, da in diesem Zeitraum eine volle Arbeitsunfähigkeit vorgelegen habe, die danach jedoch abgenommen habe.

3. Rechtliche Würdigung durch das Bundesgericht

3.1. Grundsätze der Beweismittelwürdigung und der Sachverhaltsfeststellung

Das Bundesgericht prüft die Sachverhaltsfeststellungen der Vorinstanz nur unter dem Gesichtspunkt der Willkür (Art. 9 BV) oder einer Rechtsverletzung (Art. 105 Abs. 1 und 2 BGG). Die Feststellungen der kantonalen Rekursinstanz zur Gesundheitsbeeinträchtigung, Arbeitsfähigkeit und Zumutbarkeit sind Tatsachenfeststellungen, die nur im Rahmen der Willkür überprüft werden können (vgl. BGE 142 V 178 E. 2.4; 137 V 210 E. 3.4.2.3). Willkür liegt vor, wenn die Beweiswürdigung offensichtlich unhaltbar ist, im Widerspruch zu den Akten steht, oder wenn die Behörde ohne ernsthaften Grund ein entscheidwesentliches Element nicht berücksichtigt (BGE 147 V 35 E. 4.2).

3.2. Somatische Aspekte der Arbeitsfähigkeit

  • Argumentation der Vorinstanz: Die Vorinstanz stützte sich auf die gerichtliche Expertise von Dr. B._ aus dem Unfallversicherungsverfahren (vom 24. Februar 2022), da keine neuen Elemente eine andere Beurteilung der somatischen Beschwerden rechtfertigten. Eine weitere orthopädische Expertise durch die IV-Stelle sei eine unzulässige "second opinion". Der Umstand, dass die Expertise im Rahmen der Unfallversicherung erstellt wurde, sei irrelevant, da ihr Inhalt für die Beurteilung des Invaliditätsanspruchs hinreichend sei. Die Expertise von Dr. E._ wurde als ungenügend verworfen. Basierend auf Dr. B.__ wurde eine Arbeitsfähigkeit von 80% und eine Leistungseinschränkung von 10% in einer angepassten Tätigkeit ab dem 12. Juli 2019 festgestellt. Eine volle Arbeitsunfähigkeit von Januar 2018 bis Juli 2019 führte zu einer vollen Rente ab Januar 2019, welche drei Monate nach teilweiser Wiedererlangung der Arbeitsfähigkeit (d.h. per 31. Oktober 2019) endete (vgl. Art. 88a IVV), da das Invalideneinkommen keinen Rentenanspruch mehr begründete.

  • Einwände des Beschwerdeführers: Der Beschwerdeführer rügte, die Vorinstanz hätte eine ergänzende medizinische Abklärung der orthopädischen Restarbeitsfähigkeit durchführen müssen. Dr. B._ habe nur degenerative Aspekte berücksichtigt und nicht den globalen Zustand. Hinweise auf "Chronifizierung" und "Somatisierung" der Schmerzen sowie die Empfehlung eines Reha-Aufenthalts zur Abklärung der Restkompetenzen seien für die IV relevant. Die funktionellen Einschränkungen (nicht länger als 1,5 Stunden sitzen, nicht länger als 1 Stunde stehen, Rumpfdrehungen vermeiden) machten eine 72%-ige Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt unmöglich. Die Vorinstanz habe zudem willkürlich festgestellt, Dr. B._ habe Radikulopathien nicht ignoriert, indem sie sich auf einen Bericht von 2019 stützte, der das Verschwinden der Radikulalgien S1 links konstatiere, was im Widerspruch zu einem Bericht des Hôpital H.__ vom Juni 2024 und einer Elektromyographie von 2019 stehe, die chronische bzw. irritative Radikulopathien belegten.

  • Beurteilung durch das Bundesgericht: Das Bundesgericht wies die Einwände zurück.

    • Umfang der Expertise: Dr. B.__ musste keine Sachverhalte beurteilen, die ausserhalb seines Spezialgebiets liegen (z.B. depressive Störungen).
    • "Chronifizierung" und "Somatisierung": Die Erwähnung einer "Chronifizierung" und "Somatisierung" diente der Bewertung von Verbesserungsmöglichkeiten durch medizinische Massnahmen, stellte aber die Hauptschlussfolgerungen der Expertise zur Arbeitsfähigkeit nicht in Frage.
    • Funktionelle Einschränkungen: Die genannten Einschränkungen (alternierendes Sitzen/Stehen, Vermeidung von Torsionen) bedeuten nicht Immobilität, sondern eine Notwendigkeit zur Positionsänderung, was mit einer Vielzahl von angepassten Tätigkeiten auf dem ausgeglichenen Arbeitsmarkt vereinbar ist (vgl. Urteile 9C_291/2023 vom 30. Januar 2024 E. 6.2.2 und 9C_617/2023 vom 20. Januar 2025 E. 6). Der ausgeglichene Arbeitsmarkt ist ein theoretischer und abstrakter Begriff, der eine Vielfalt an Tätigkeiten, auch für eingeschränkte Personen, unterstellt.
    • Radikulopathien: Das Bundesgericht stellte fest, dass die Vorinstanz zu Recht angenommen hatte, Dr. B._ habe die ENMG von 2019 und die Radikulopathiediagnose gekannt und in seine Beurteilung einbezogen. Entgegen der Behauptung des Beschwerdeführers spreche der Expertenbericht nicht vom Verschwinden der Beschwerden. Der Beschwerdeführer konnte keine willkürliche Feststellung von objektiv überprüfbaren und relevanten Elementen durch Dr. B._ belegen.

3.3. Psychische Aspekte der Arbeitsfähigkeit

  • Argumentation der Vorinstanz: Die Vorinstanz verwarf die psychiatrische Teildiagnose der von der OAI beauftragten Expertise (Dr. D._) wegen der gleichen Mängel wie den orthopädischen Teil, sah aber dennoch keine Notwendigkeit für eine ergänzende Abklärung. Die Überlegung der IV-Stelle, eine psychiatrische Expertise wegen einer möglichen Somatisierung (von Dr. B._ erwähnt) einzuholen, sei zwar nachvollziehbar, aber die behandelnde Psychiaterin, Dr. F.__, habe in ihren Berichten (Januar 2023, Dezember 2024) keine psychische Arbeitsunfähigkeit attestiert oder ein psychiatrisches Krankheitsbild mit Einfluss auf die Arbeitsfähigkeit festgestellt. Ihre Zweifel an der Arbeitsfähigkeit seien vielmehr auf die Schwierigkeiten zurückzuführen, eine den funktionellen Einschränkungen angepasste Tätigkeit zu finden. Eine autonome Prüfung der jurisprudenziel relevanten Indikatoren für psychische Erkrankungen habe im Übrigen ebenfalls keine invalidisierende psychische Störung ergeben, da der Beschwerdeführer über beachtliche Ressourcen verfüge (Strukturierung des Tages, soziale Kontakte, Freizeitaktivitäten).

  • Einwände des Beschwerdeführers: Der Beschwerdeführer rügte eine ungenügende medizinische Abklärung der psychischen Komponente. Ohne die OAI-Expertise fehle eine klinische Beurteilung durch einen Psychiater, um die invalidisierende Wirkung der Diagnose (F43.22 Anpassungsstörung, gemischte Angst- und depressive Reaktion) gemäss den bundesgerichtlichen Indikatoren zu prüfen. Die Vorinstanz habe sich lediglich auf Laienaussagen zur Tagesstrukturierung gestützt, welche nicht entscheidend seien. Ferner habe die Vorinstanz den Bericht von Dr. F.__ vom Januar 2023 ignoriert, der ein fehlendes soziales Netzwerk und die Beeinträchtigung aller Lebensbereiche festhalte.

  • Beurteilung durch das Bundesgericht: Das Bundesgericht wies auch diese Einwände zurück.

    • Fehlen einer attestierten Arbeitsunfähigkeit: Obwohl die OAI-Expertise verworfen wurde, hatte Dr. D._ keine psychisch bedingte Arbeitsunfähigkeit festgestellt. Entscheidend ist, dass auch Dr. F._, die den Beschwerdeführer seit Juli 2022 begleitete, keine psychische oder psychosomatische Beeinträchtigung mit Einfluss auf die Arbeitsfähigkeit attestierte.
    • Strukturierte Beweisabklärung: Da keine medizinisch attestierte Arbeitsunfähigkeit aufgrund einer psychischen Störung vorlag und der Beschwerdeführer psychiatrisch behandelt wurde, war die Vorinstanz nicht verpflichtet, eine strukturierte Beweisabklärung gemäss der Rechtsprechung zu somatoformen Störungen und psychischen oder psychosomatischen Leiden durchzuführen (vgl. BGE 143 V 418 E. 7.1; Urteil 9C_551/2024 vom 20. Dezember 2024 E. 4.3). Eine solche Abklärung ist nur dann erforderlich, wenn eine objektivierbare, arbeitsunfähigkeitsrelevante psychische Störung medizinisch nachgewiesen ist.
    • Ressourcen und soziales Umfeld: Die Prüfung der Indikatoren durch das kantonale Gericht (Strukturierung des Tages, soziale Unterstützung, Freizeitaktivitäten) war unter diesen Umständen nicht mehr entscheidend.

3.4. Fazit der bundesgerichtlichen Prüfung

Das Bundesgericht gelangte zur Schlussfolgerung, dass der Beschwerdeführer weder eine willkürliche Sachverhaltsfeststellung noch eine unrichtige Beweiswürdigung durch die Vorinstanz hinsichtlich der Beeinflussung der Arbeitsfähigkeit durch somatische oder psychische Leiden belegen konnte. Die Beurteilung der Arbeitsfähigkeit gemäss der Expertise aus dem Unfallversicherungsverfahren war nicht zu beanstanden.

4. Schlussfolgerung des Bundesgerichts

Die Beschwerde erweist sich als unbegründet und wird abgewiesen. Die Gerichtskosten werden dem Beschwerdeführer auferlegt, dem jedoch die beantragte unentgeltliche Rechtspflege gewährt wird (Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG).

Kurze Zusammenfassung der wesentlichen Punkte:
  • Beweiswürdigung: Das Bundesgericht stützte sich auf eine bereits im Unfallversicherungsverfahren erstellte medizinische Expertise (Dr. B.__), deren Schlussfolgerungen als voll beweiskräftig und für die IV relevant erachtet wurden. Eine von der IV-Stelle neu veranlasste Expertise wurde als unzulässige "second opinion" verworfen.
  • Somatische Arbeitsfähigkeit: Die festgestellte Restarbeitsfähigkeit von 80% (mit 10% Leistungseinschränkung) ab Juli 2019, basierend auf alternierenden Positionen und Vermeidung von Torsionen, wurde als mit dem ausgeglichenen Arbeitsmarkt vereinbar bestätigt. Einwände bezüglich unzureichender Berücksichtigung des "globalen Zustands" oder von Radikulopathien wurden als unbegründet abgewiesen.
  • Psychische Arbeitsfähigkeit: Es wurde keine medizinisch attestierte, invalidisierende psychische Arbeitsunfähigkeit festgestellt, auch nicht durch die behandelnde Psychiaterin. Das Bundesgericht bekräftigte, dass in einem solchen Fall keine aufwändige "strukturierte Beweisabklärung" für psychische oder somatoforme Störungen erforderlich ist (im Sinne von BGE 143 V 418).
  • Rentenanspruch: Der Rentenanspruch beschränkte sich auf den Zeitraum der vollen Arbeitsunfähigkeit von Januar 2019 bis Oktober 2019, da danach aufgrund der wiedererlangten teilweisen Arbeitsfähigkeit kein Rentenanspruch mehr bestand.
  • Ergebnis: Die Beschwerde des Versicherten wurde vollumfänglich abgewiesen.