Zusammenfassung von BGer-Urteil 5A_644/2024 vom 16. Oktober 2025

Es handelt sich um ein experimentelles Feature. Es besteht keine Gewähr für die Richtigkeit der Zusammenfassung.

Gerne fasse ich das bereitgestellte Urteil des schweizerischen Bundesgerichts detailliert zusammen:

Bundesgericht, Urteil vom 16. Oktober 2025 (5A_644/2024)

Parteien: * Beschwerdeführer (Recourant): A._ (Ehemann) * Beschwerdegegnerin (Intimée): B._ (Ehefrau) * Weitere Beteiligte: C.__ (Kind)

Gegenstand: Provisorische Massnahmen (Unterhaltsbeiträge)

I. Sachverhalt und Vorinstanzen

Die Parteien, 2003 verheiratet, haben drei Kinder, wovon C._ (geb. 2005) und E._ (geb. 2008) im Zeitpunkt der Verfahren relevant waren. Eine Tochter verstarb 2006. Die Familie lebte in der Schweiz. Im Februar 2020 zog die Ehefrau mit den Kindern nach Australien, kehrte aber im April 2023 mit E._ an den ehemaligen ehelichen Wohnsitz in der Schweiz zurück. C._ war bereits im Januar 2022 in die Schweiz zurückgekehrt.

Im Juli 2022 stellte das Sozialversicherungsgericht des Kantons Waadt (Casso) fest, dass die Ehefrau seit dem 1. Februar 2016 Anspruch auf eine volle Invalidenrente hat.

Der Ehemann reichte im Februar 2022 eine Scheidungsklage ein. Die Ehefrau beantragte im April 2023 provisorische Massnahmen, insbesondere Unterhaltsbeiträge für sich und die Kinder. C.__, der während des Verfahrens volljährig wurde, trat seine Ansprüche an seine Mutter ab.

Das erstinstanzliche Zivilgericht setzte im September 2023 die monatlichen Unterhaltsbeiträge wie folgt fest: CHF 1'700.- für C._ (direkt), CHF 5'400.- für E._ (zuzüglich Familienzulagen) und CHF 3'100.- für die Ehefrau.

Gegen diesen Entscheid erhoben beide Parteien Berufung beim Kantonsgericht Waadt (Cour d'appel civile). Der Ehemann beantragte u.a. die Aufhebung der Unterhaltsbeiträge für die Ehefrau. Das Kantonsgericht vereinigte die Verfahren und gab den Berufungen im August 2024 teilweise statt. Es passte die Unterhaltsbeiträge gestaffelt über verschiedene Zeiträume an, setzte sie für C._, E._ und die Ehefrau jeweils in unterschiedlichen monatlichen Beträgen fest, die teils über und teils unter den erstinstanzlichen Festsetzungen lagen, wobei die meisten Beiträge erhöht wurden.

II. Verfahren vor Bundesgericht und Rügen des Beschwerdeführers

Der Ehemann erhob Beschwerde in Zivilsachen vor dem Bundesgericht. Er beantragte die Aufhebung der kantonalen Entscheidung bezüglich der Unterhaltsbeiträge und die Festsetzung von geringeren Beiträgen, insbesondere kein nachehelicher Unterhalt für die Ehefrau. Er machte geltend, dass die Vorinstanz die Sachverhaltsfeststellungen willkürlich getroffen, das rechtliche Gehör verletzt und verschiedene Bestimmungen des Zivilgesetzbuches (ZGB) und der Zivilprozessordnung (ZPO) willkürlich angewendet habe. Da es sich um provisorische Massnahmen handelt, ist die Prüfungsbefugnis des Bundesgerichts gemäss Art. 98 BGG auf die Verletzung verfassungsmässiger Rechte beschränkt (Willkür).

III. Rechtliche Erwägungen des Bundesgerichts

Das Bundesgericht prüfte die einzelnen Rügen des Beschwerdeführers:

  1. Willkürliche Sachverhaltsfeststellung (Art. 9 BV):

    • Rüge des Beschwerdeführers: Das Kantonsgericht habe zwei wesentliche Punkte aus einem Protokoll einer Scheidungsanhörung vom 7. Dezember 2023 ignoriert: (a) die angebliche Einigung der Parteien über die direkte Zahlung der Schul- und Transportkosten für E.__ durch den Ehemann und (b) die Erklärung der Ehefrau, sie sei bereits geschieden und lehne die Scheidung ab.
    • Erwägung des Bundesgerichts:
      • (a) Einigung über E.__'s Kosten: Das Bundesgericht stellte fest, dass die Unterhaltsbeiträge für minderjährige Kinder gemäss Art. 296 Abs. 3 ZPO der Offizialmaxime unterliegen. Eine Vereinbarung der Parteien bindet das Gericht nicht, sondern stellt lediglich einen gemeinsamen Antrag dar (Art. 285 lit. d ZPO und Art. 133 Abs. 2 ZGB). Daher durfte der Einzelrichter des Kantonsgerichts im Verfahren betreffend provisorische Massnahmen diese "Einigung" aus dem Scheidungsverfahren willkürfrei unberücksichtigt lassen.
      • (b) Ehefrau bereits geschieden: Die diesbezüglichen Erklärungen der Ehefrau waren laut Bundesgericht ohne weitere Erläuterung und konnten die gegenständlichen provisorischen Massnahmen nicht ohne weiteres gegenstandslos machen. Diese Rüge wurde als unbehelflich abgewiesen.
  2. Verletzung der Waffengleichheit (Art. 29 Abs. 1 BV):

    • Rüge des Beschwerdeführers: Das Berufungsverfahren sei verzerrt gewesen, da die Ehefrau die erstinstanzliche Entscheidung später als er erhalten und somit eine andere Appellationsfrist gehabt habe. Zudem habe sie Kenntnis von seiner Berufung erhalten, bevor ihre eigene Frist abgelaufen sei, was ihre Berufung zu einer unzulässigen Anschlussberufung mache. Weiter habe sie eine längere Frist zur Antwort auf seine Berufung gehabt.
    • Erwägung des Bundesgerichts: Das Bundesgericht stellte gestützt auf die Akten fest (Art. 105 Abs. 2 BGG), dass die erstinstanzliche Verfügung am selben Tag (21. September 2023) an beide Parteien zugestellt wurde. Die Ehefrau habe die Sendung lediglich später abgeholt (25. September 2023), was die spätere Fälligkeit ihrer Berufungsfrist erklärte. Obwohl die Kenntnis der Ehefrau von der Berufung des Ehemanns durch dessen Gesuch um aufschiebende Wirkung möglicherweise vorteilhaft war, sei ihre Berufung fristgerecht eingereicht worden und keine Anschlussberufung. Die Fristen für die Beantwortung der Berufungsschriften seien für beide Parteien identisch gewesen (10 Tage ab dem 15. November 2023). Eine Verletzung der Waffengleichheit lag somit nicht vor.
  3. Verweigerung der Anrechnung eines hypothetischen Einkommens an die Ehefrau (Art. 8 ZGB, Art. 9 BV):

    • Rüge des Beschwerdeführers: Das Kantonsgericht habe willkürlich die Anrechnung eines hypothetischen Einkommens an die Ehefrau verweigert, obwohl die Casso eine Restarbeitsfähigkeit von 40% in einer angepassten Tätigkeit festgestellt habe und die Ehefrau keine aktuellen ärztlichen Zeugnisse vorgelegt habe.
    • Erwägung des Bundesgerichts: Das Bundesgericht erinnerte an die Zweistufenmethode zur Beurteilung eines hypothetischen Einkommens (ATF 147 III 308, E. 5.6): Zunächst ist zu prüfen, welche Tätigkeit als zumutbar erachtet werden kann (Rechtsfrage). Anschliessend ist zu prüfen, ob die Ausübung dieser zumutbaren Tätigkeit tatsächlich möglich ist und ein entsprechendes Einkommen erzielt werden kann (Sachfrage). Die Beweislast für die Unmöglichkeit, ein hypothetisches Einkommen zu erzielen, liegt beim Unterhaltsgläubiger (Art. 8 ZGB).
    • Das Bundesgericht bestätigte die kantonale Einschätzung, dass die zahlreichen gesundheitlichen Beeinträchtigungen der Ehefrau (u.a. somatoforme Störung, Depression, Nachwirkungen einer Krebstherapie, chronische Schmerzen, Konzentrationsprobleme) die Ausübung ihrer früheren Tätigkeit als Anwältin, Juristin oder Rechtsberaterin unmöglich machten. Es befand auch, dass die vom Kantonsgericht vorgenommene Erweiterung dieser Unfähigkeit auf eine administrative Tätigkeit nicht willkürlich sei, da solche Tätigkeiten ebenfalls erhebliche Konzentrations- und Organisationsfähigkeiten erforderten, die mit den dokumentierten funktionellen Einschränkungen der Ehefrau unvereinbar seien.
    • Der Beschwerdeführer habe keine andere, zumutbare Tätigkeit benannt, die von der Ehefrau verlangt werden könnte. Ohne die Feststellung einer konkret zumutbaren Tätigkeit sei es nicht Aufgabe des Gerichts, von sich aus mögliche Tätigkeiten zu eruieren. Erst wenn eine zumutbare Tätigkeit feststehe, müsste mit der Zusammenarbeit der Ehefrau (Art. 272, 276 Abs. 1 ZPO) deren konkrete Ausübbarkeit geprüft werden. Das Bundesgericht befand, dass die Weigerung, ein hypothetisches Einkommen anzurechnen, weder in der Begründung noch im Ergebnis willkürlich sei.
  4. Verletzung des rechtlichen Gehörs bezüglich der Steuerlast (Art. 29 Abs. 2 BV):

    • Rüge des Beschwerdeführers: Das Kantonsgericht habe die Berechnung der Steuerlast nicht ausreichend erklärt, wodurch er die Beträge nicht überprüfen konnte.
    • Erwägung des Bundesgerichts: Das Bundesgericht hielt fest, dass die Vorinstanz angegeben hatte, die Steuerlast der Parteien und des Sohnes E.__ basiere auf dem kantonalen Steuerrechner. Die daraus resultierenden Zahlen seien in detaillierte Tabellen für vier Berechnungsperioden eingefügt worden. Dem Beschwerdeführer, anwaltlich vertreten, sei es somit möglich gewesen, die Berechnungen mittels des referenzierten Steuerrechners zu überprüfen. Seine Kritik, die sich auf allgemeine Einwände und neue, auf eigene Schlussfolgerungen basierende Zahlen beschränkte, genüge den Anforderungen an eine Willkürrüge nicht.
  5. Willkürliche Verteilung des Überschusses (Art. 2 Abs. 2, 4, 163, 276, 285 ZGB, Art. 9 BV):

    • Rüge des Beschwerdeführers: Das Kantonsgericht habe den nach Deckung des erweiterten familienrechtlichen Existenzminimums verbleibenden Überschuss willkürlich verteilt. Insbesondere sei es unzulässig, den Überschuss des volljährigen Kindes (das keinen Anspruch darauf hat) auf das minderjährige Kind und die Ehefrau umzulegen.
    • Erwägung des Bundesgerichts:
      • Das Bundesgericht bestätigte die Praxis, wonach ein allfälliger Überschuss nach Deckung des erweiterten familienrechtlichen Existenzminimums nach richterlichem Ermessen (Art. 4 ZGB) und Billigkeit unter den Berechtigten aufzuteilen ist (ATF 147 III 265 E. 7.2-7.3). Für volljährige Kinder ist der Unterhalt auf die Deckung ihres erweiterten Existenzminimums beschränkt; sie haben keinen Anspruch auf eine Beteiligung am Überschuss (ATF 147 III 265 E. 7.2 in fine). Der Überschuss beider Ehegatten ist kumuliert zu betrachten (ATF 147 III 265 E. 8.3).
      • Die Verteilung erfolgt typischerweise nach der Methode der "grossen und kleinen Köpfe" (2 Teile für Eltern, 1 Teil für minderjährige Kinder), wobei diese Regel nicht absolut ist und an die Umstände angepasst werden kann (ATF 149 III 441 E. 2.6).
      • Das Kantonsgericht hatte C._ (volljährig) korrekt vom Überschuss ausgeschlossen. Die anschliessende Verteilung des gesamten Überschusses im Verhältnis 2/5 für jeden Elternteil und 1/5 für das minderjährige Kind E._ sei eine korrekte Anwendung der Grundsätze der Überschussverteilung und nicht willkürlich.
      • Die weiteren Einwände des Beschwerdeführers bezüglich der Höhe des E.__ zugesprochenen Überschussanteils (angeblich keine Hobbys, zu hoher Anteil am Existenzminimum) und des Anteils der Ehefrau (angeblich überhöhter Lebensstandard) wurden als appellatorisch und nicht willkürbegründend abgewiesen. Der Einwand, die Ehefrau solle aufgrund ihres angeblich schlechten Prozessverhaltens keinen Anteil am Überschuss erhalten, war rein appellatorisch und ohne verfassungsrechtliche Begründung.
  6. Kostenverteilung (Art. 106 Abs. 1 und 2, Art. 107 lit. c ZPO):

    • Rüge des Beschwerdeführers: Die Vorinstanz habe die Kostenverteilung willkürlich allein nach dem Verfahrensausgang vorgenommen, ohne das schlechte Prozessverhalten der Ehefrau zu berücksichtigen.
    • Erwägung des Bundesgerichts: Die pauschale Behauptung, die Ehefrau habe die Vorinstanz "mit verspäteten Eingaben bombardiert", liess sich dem angefochtenen Entscheid nicht entnehmen. Auch die Frage der Einreichung der Berufung durch die Ehefrau nach Kenntnisnahme der eigenen Berufung wurde bereits unter Pkt. 4 geklärt. Der Einwand, die Ehefrau habe ihre Zustimmung zur Scheidung zurückgezogen, war ebenfalls nicht ausreichend präzisiert, um ein willkürliches Prozessverhalten abzuleiten. Diese Rüge wurde daher abgewiesen.

IV. Fazit des Bundesgerichts

Das Bundesgericht wies die Beschwerde, soweit sie zulässig war, ab. Die Gerichtskosten wurden dem unterliegenden Beschwerdeführer auferlegt. Der Ehefrau wurde keine Parteientschädigung zugesprochen, da sie sich ohne Anwalt zum Gesuch um aufschiebende Wirkung äusserte und in der Sache keine Stellungnahme fristgerecht eingereicht hatte.

V. Zusammenfassung der wesentlichen Punkte:

  1. Willkürprüfung: Das Bundesgericht wies die Beschwerde ab, da die Rügen des Beschwerdeführers keine Verletzung verfassungsmässiger Rechte (Willkür) darlegten, wie sie für Beschwerden gegen provisorische Massnahmen gemäss Art. 98 BGG erforderlich ist.
  2. Hypothetisches Einkommen der Ehefrau: Die Weigerung der Vorinstanz, der invaliden Ehefrau ein hypothetisches Einkommen anzurechnen, wurde bestätigt. Die vom Bundesgericht angewandte Zweistufenmethode für hypothetisches Einkommen führte zur Erkenntnis, dass nach Ausschluss der ursprünglichen und sogar administrativer Tätigkeiten (aufgrund der umfassenden gesundheitlichen Einschränkungen) keine andere zumutbare Tätigkeit vom Beschwerdeführer aufgezeigt wurde.
  3. Überschussverteilung: Die Verteilung des nach Deckung des erweiterten familienrechtlichen Existenzminimums verbleibenden Überschusses nach der Methode der "grossen und kleinen Köpfe" (2 Teile für Eltern, 1 Teil für minderjährige Kinder) war rechtmässig. Volljährige Kinder haben keinen Anspruch auf eine Beteiligung am Überschuss, und deren Anteil darf nicht willkürlich auf andere umgelegt werden; vielmehr wird der gesamte Überschuss unter den verbleibenden Berechtigten (Eltern und minderjährige Kinder) nach Billigkeit aufgeteilt.
  4. Verfahrensfehler: Rügen bezüglich willkürlicher Sachverhaltsfeststellung, Verletzung der Waffengleichheit und des rechtlichen Gehörs wurden zurückgewiesen, da die Vorinstanz korrekt handelte oder die Rügen des Beschwerdeführers appellatorischer Natur waren bzw. auf fehlerhaften Annahmen beruhten.
  5. Kosten: Die Gerichtskosten wurden dem Beschwerdeführer auferlegt.