Zusammenfassung von BGer-Urteil 9C_55/2024 vom 11. Oktober 2025

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Detaillierte Zusammenfassung des Bundesgerichtsurteils 9C_55/2024 vom 11. Oktober 2025

Parteien: * Beschwerdeführerin: Caisse de pensions de l'État de Vaud (CPEV) * Beschwerdegegner: A._, Ehemann der verstorbenen B._ (Erbe und Witwer)

Streitgegenstand: Berufliche Vorsorge, insbesondere die Höhe der Invaliden- und Hinterlassenenleistungen. Die zentrale Frage ist, ob die Leistungen auf der Basis des höheren Richtergehalts oder des tieferen Lehrergegehalts der verstorbenen Versicherten zu berechnen sind. Dies hängt davon ab, ob der zeitliche Konnex zwischen einer initialen Arbeitsunfähigkeit im Jahr 2007 und der späteren Invalidität im Jahr 2011 unterbrochen wurde.

Sachverhalt
  1. Beruflicher Werdegang und Gesundheitsentwicklung von B.__:

    • 1992-2008: B.__ war als vollamtliche Richterin für den Kanton Waadt tätig und bei der CPEV berufsvorsorgeversichert.
    • September 2007: Sie wurde aufgrund eines Anpassungsstörung mit Angst- und depressiver Reaktion sowie nicht-organischen Schlafstörungen (diagnostiziert von ihrer Psychiaterin Dr. C.__) arbeitsunfähig.
    • 31. Juli 2008: Sie kündigte ihre Stelle als Richterin.
    • August 2008 - Juli 2011: Sie nahm eine Teilzeitstelle (48-64%) als Lehrerin an einem Berufsbildungszentrum auf und blieb bei derselben Vorsorgeeinrichtung versichert. Parallel dazu begann sie eine pädagogische Ausbildung, die sie nicht abschloss.
    • März 2009: Dr. C.__ diagnostizierte weiterhin eine Anpassungsstörung und eine ängstliche Persönlichkeitsstörung. Sie erwähnte eine berufliche Neuorientierung als notwendig.
    • Ab 16. September 2010: B.__ war dauerhaft zu 100% arbeitsunfähig.
    • 31. Juli 2011: Ihr Arbeitsvertrag als Lehrerin endete.
  2. Leistungsentscheide:

    • 28. September 2011: Die CPEV sprach B.__ eine monatliche Invalidenrente von CHF 4'805.10 ab 1. August 2011 zu, basierend auf dem Lehrergehalt.
    • 13. Oktober 2011: B._ beantragte Leistungen bei der IV-Stelle Waadt. Dr. C._ attestierte verschiedene Arbeitsunfähigkeitsgrade, einschliesslich 100% als Richterin vom 4. September 2007 bis 31. Juli 2008. Eine psychiatrische Expertise von Dr. D.__ vom 10. November 2014 stellte eine Arbeitsunfähigkeit von 0% seit 2007 fest.
    • 24. April 2015: Die IV-Stelle sprach B.__ eine ganze IV-Rente ab 1. April 2012 zu. Die CPEV focht diesen Entscheid nicht an.
    • 2015/2016: Die CPEV bestätigte die Rentenberechnung auf Basis des Lehrergehalts, da sie keine Arbeitsunfähigkeit Ende 2007/Anfang 2008 anerkannte.
  3. Kantonales Verfahren:

    • 3. August 2016: B.__ klagte vor dem Kantonsgericht Waadt auf eine Invalidenrente von CHF 6'741.90 monatlich (basierend auf dem Richtergehalt), da sie seit 2007 dauerhaft arbeitsunfähig gewesen sei und nie eine Arbeitsfähigkeit von 80% in ihrer ursprünglichen Tätigkeit wiedererlangt habe.
    • 3. September 2017: B._ verstarb. Ihr Ehemann, A._, übernahm die Verfahrensführung.
    • 3. November 2020: Eine gerichtlich angeordnete psychiatrische Expertise von Dr. E.__ diagnostizierte generalisierte Angststörung, rezidivierende depressive Störung und gemischte Persönlichkeitsstörung. Er attestierte eine totale Arbeitsunfähigkeit vom 4. September 2007 bis 31. Juli 2008 in der Richtertätigkeit und stellte fest, dass die Arbeitsfähigkeit als Lehrerin nie 50% eines 100%-Pensums überschritten hatte.
    • 21. Juli 2023: Das Kantonsgericht Waadt gab der Klage statt und verurteilte die CPEV zur Zahlung der höheren Invalidenrente und eines temporären Zuschlags. Die Invalidität sei 2007 eingetreten.
Rechtliche Erwägungen des Bundesgerichts

1. und 2. Vorbemerkungen: Das Bundesgericht prüft Rechtsverletzungen (Art. 95, 96 BGG) und wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es stützt sich auf den Sachverhalt der Vorinstanz (Art. 105 Abs. 1 BGG), es sei denn, dieser wurde offensichtlich unrichtig oder rechtswidrig festgestellt (Art. 105 Abs. 2 BGG). Der Streit dreht sich um die Höhe der Leistungen, die auf dem Gehalt als Richterin oder Lehrerin basieren sollen.

3. Massgeblicher Zeitpunkt des Versicherungsfalls und zeitliche Konnexität:

  • 3.1. Art. 23 BVG: Leistungen sind von der Vorsorgeeinrichtung geschuldet, bei der die versicherte Person zum Zeitpunkt des Eintritts des Versicherungsfalls versichert war. Dieser Zeitpunkt ist nicht der Beginn der IV-Rente, sondern der Beginn der Arbeitsunfähigkeit, die der Invalidität zugrunde liegt (ATF 130 V 270 E. 4.1).
  • 3.2. Zeitliche und materielle Konnexität: Damit eine Vorsorgeeinrichtung nach Auflösung des Vorsorgeverhältnisses leistungspflichtig bleibt, muss die Arbeitsunfähigkeit während der Zugehörigkeit begonnen haben, und es muss eine enge Konnexität zwischen dieser Arbeitsunfähigkeit und der Invalidität bestehen.
    • Materielle Konnexität: Die der Invalidität zugrunde liegende gesundheitliche Beeinträchtigung muss dieselbe sein, die sich bereits während des Vorsorgeverhältnisses manifestierte und zur Arbeitsunfähigkeit führte (ATF 138 V 409 E. 6.2).
    • Zeitliche Konnexität: Die versicherte Person darf nach dem Beginn der ursächlichen Arbeitsunfähigkeit nicht wieder über längere Zeit arbeitsfähig gewesen sein. Dies ist unter Würdigung aller Umstände des Einzelfalls zu prüfen (Art der Gesundheitsbeeinträchtigung, medizinische Prognose, Gründe für die Wiederaufnahme einer Erwerbstätigkeit). Als Richtwert kann Art. 88a Abs. 1 IVV herangezogen werden: Eine Besserung der Erwerbsfähigkeit unterbricht die Konnexität, wenn sie drei Monate ohne wesentliche Unterbrechung und ohne zu erwartende Komplikationen anhält. Eine (fast) volle Arbeitsfähigkeit von mindestens drei Monaten bildet ein starkes Indiz für eine Unterbrechung. Anders verhält es sich, wenn die Tätigkeit als Wiedereingliederungsversuch zu werten ist oder massgeblich auf sozialen Überlegungen des Arbeitgebers beruht und eine dauerhafte Reintegration unwahrscheinlich war (ATF 134 V 20 E. 3.2.1).
  • 3.3. Überprüfung der zeitlichen Konnexität durch das Bundesgericht:
    • Die Feststellung der Tatsachen betreffend Arbeitsunfähigkeit ist für das Bundesgericht nur eingeschränkt überprüfbar (Willkürprüfung). Die rechtliche Würdigung dieser Tatsachen hinsichtlich der zeitlichen Konnexität ist als Rechtsfrage hingegen voll überprüfbar (9C_333/2020 E. 5.2).
    • Entscheidend ist, ob sich die Arbeitsunfähigkeit im Rahmen des Arbeitsverhältnisses tatsächlich nachteilig manifestiert hat (erheblicher Leistungsabfall, wiederholte Ermahnungen, häufige Absenzen). Eine rückwirkend festgestellte "medizintheoretische" Arbeitsunfähigkeit, die nicht durch Beobachtungen des Arbeitgebers korreliert ist, genügt nicht. Grundsätzlich ist die vertragliche Realität (erbrachte Leistung, Lohn) massgebend. Nur unter besonderen Umständen kann von der vertraglichen Situation abgewichen werden, dies aber mit äusserster Zurückhaltung, um Spekulationen zu vermeiden (9C_76/2015 E. 2.4).
  • 3.4. Erheblichkeitsschwelle für Unterbrechung: Eine Unterbrechung liegt vor, wenn eine signifikante Arbeitsfähigkeit von mindestens 80% wiedererlangt wird (bezogen auf eine 20%-ige Leistungsminderung in der bisherigen Tätigkeit). Das Erzielen eines rentenausschliessenden Einkommens ist nur dann relevant, wenn die Person in einer zumutbaren anderen Tätigkeit über eine (fast) vollständige Arbeitsfähigkeit verfügt (ATF 144 V 58 E. 4.4).
  • 3.6. Retrospektive Beurteilung ("echtzeitlich"):
    • "Echtzeitliche" medizinische Atteste sind nicht zwingend erforderlich. Spätere spekulative Annahmen genügen jedoch nicht.
    • Die Gesundheitsbeeinträchtigung muss signifikante Auswirkungen auf das Arbeitsverhältnis gehabt haben (Leistungsabfall, Abmahnung, krankheitsbedingte Absenzen) (9C_107/2024 E. 2.2).
    • Bei Reduktion des Beschäftigungsgrads aus gesundheitlichen Gründen kann auf "echtzeitliche" Atteste verzichtet werden, wenn andere objektive Umstände die gesundheitsbedingte Reduktion nahelegen (9C_394/2012 E. 3.1.2).
  • 3.7. Gerichtliche Expertise: Der Richter weicht von einer gerichtlichen Expertise nur bei zwingenden Gründen ab (z.B. Widersprüche, überzeugende Gegengutachten; ATF 135 V 465 E. 4.4). Das kantonale Gericht hat die Instruktion zu ergänzen, insbesondere bei retrospektiven Bewertungen von langjährigen behandelnden Ärzten (9C_433/2012 E. 4).

4. Rügen der Beschwerdeführerin (CPEV): Die CPEV rügte eine offensichtlich unrichtige Sachverhaltsfeststellung und willkürliche Beweiswürdigung der Vorinstanz. Sie machte geltend, das kantonale Gericht habe sich zu Unrecht auf das Gutachten von Dr. E._ gestützt, welches ein wesentliches medizinisches Dokument (Attest von Dr. C._ vom 30. Juni 2008 über 100% Arbeitsfähigkeit in "angepasster Tätigkeit") unberücksichtigt gelassen habe. Die Vorinstanz habe Arbeitsfähigkeit und Beschäftigungsgrad verwechselt. Die Tätigkeit als Lehrerin sei ein Wahlentscheid gewesen, keine medizinische Notwendigkeit. Der zeitliche Kausalzusammenhang sei durch eine zweijährige vollständige Arbeitsfähigkeit unterbrochen worden. Weiter beanstandete die CPEV die Expertise von Dr. E.__ als mangelhaft, insbesondere wegen der Verweigerung ihrer Anwesenheit bei der Befragung des Ehemanns und der daraus resultierenden Verletzung des rechtlichen Gehörs.

5. Beurteilung der Rügen durch das Bundesgericht:

  • 5.1. Rechtliches Gehör: Der Einwand der Verletzung des rechtlichen Gehörs wird zurückgewiesen. Der Experte hatte klargestellt, dass der Ehemann zu persönlichen, privaten Informationen befragt werde, nicht als Partei. Die CPEV hatte das Recht, das vollständige Dossier einzusehen und dazu Stellung zu nehmen.
  • 5.2. und 5.3. Attest vom 30. Juni 2008: Das Bundesgericht stellt fest, dass die Vorinstanz ausdrücklich erklärt hat, dass der Experte dieses Attest kannte, auch wenn er es im Bericht nicht explizit erwähnte. Die Rüge der CPEV, das Dokument sei dem Experten entgangen, ist unsubstantiiert. Das Attest bezog sich zudem nur auf eine "angepasste berufliche Tätigkeit" in einem "angemessenen Umfeld" und machte keine Aussage zur Richtertätigkeit. Der Experte E._ begründete im Übrigen ausführlich, warum er für die Richtertätigkeit ab 2007 eine totale Arbeitsunfähigkeit annahm. Ein späteres Attest von Dr. C._ vom 8. November 2011 bestätigte die totale Arbeitsunfähigkeit als Richterin bis 31. Juli 2008. Somit lagen für diese Periode "echtzeitliche" Atteste vor, und die gesundheitliche Beeinträchtigung hatte sich durch eine lange Arbeitsabwesenheit manifestiert. Die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz zur totalen Arbeitsunfähigkeit als Richterin ist nicht willkürlich.
  • 5.4. Tätigkeit als Lehrerin (ab August 2008):
    • Der Experte E.__ konnte auch retrospektiv zur Arbeitsfähigkeit in dieser Zeit Stellung nehmen, obwohl "echtzeitliche" Atteste zwischen Juni 2008 und August 2010 fehlten.
    • Andere Umstände deuteten darauf hin, dass die Reduktion des Beschäftigungsgrads aus gesundheitlichen Gründen erfolgte: Dr. C.__s Attest vom März 2009 über die Fortsetzung der psychiatrischen Behandlung aufgrund der psychischen Störungen.
    • Der Experte begründete, warum die Arbeitsfähigkeit als Lehrerin nie 50% überschritten hatte: B.__ litt seit der Kindheit an psychischen Problemen, die sich ständig verschlimmerten; es gab nie eine vollständige Remission, auch wenn es Phasen der Besserung gab (die eine "Flucht nach vorne" erklären könnten). Sie blieb symptomatisch und benötigte ständige psychiatrische Betreuung. Sie hatte mehr geleistet, als vernünftigerweise zumutbar war, und dies unter grossen Leiden.
    • Die CPEV setzt ihre eigene Einschätzung der Situation entgegen, ohne darzulegen, inwiefern die Vorinstanz die Rechtsprechung zur retrospektiven Beurteilung fehlerhaft angewandt oder den Sachverhalt willkürlich festgestellt hätte. Ihr Argument, die zur pädagogischen Ausbildung aufgewendete Zeit müsse zur Arbeitsfähigkeit hinzugerechnet werden, ist mit der Expertise unvereinbar, welche die Tätigkeit der Versicherten als überfordernd einstufte. Die behauptete Arbeitsfähigkeit von 83-85% entbehrt jeder Grundlage.
  • 5.5. Mängel der Expertise: Die CPEV konnte keine zwingenden Gründe vorbringen, die eine Abweichung von der gerichtlichen Expertise rechtfertigen würden.
  • 5.6. Zusammenfassende Feststellung: Die Sachverhaltsfeststellungen der Vorinstanz sind nicht willkürlich: B.__ war vom 4. September 2007 bis 31. Juli 2008 als Richterin vollständig arbeitsunfähig und erlangte seither in keiner anderen Tätigkeit eine Arbeitsfähigkeit von mindestens 80% wieder. Die Reduktion des Beschäftigungsgrads als Lehrerin erfolgte aus gesundheitlichen Gründen, basierend auf den von der Expertise erkannten Umständen. Art. 23 BVG wurde korrekt angewendet.

6. und 7. Schlussfolgerung: Die Höhe der Invaliden- und Hinterlassenenleistungen ist als solche unbestritten. Da die Annahme der Beschwerdeführerin, die Leistungen müssten auf dem Lehrergehalt basieren, nicht geteilt wird, und keine Revisionsgründe vorliegen, sind die Haupt- und Eventualanträge der CPEV abzuweisen. Die Gerichtskosten werden der unterliegenden Beschwerdeführerin auferlegt, und sie hat dem Beschwerdegegner eine Parteientschädigung zu zahlen.

Kurze Zusammenfassung der wesentlichen Punkte

Das Bundesgericht bestätigte das Urteil der Vorinstanz, wonach die Invaliden- und Hinterlassenenleistungen für die verstorbene Versicherte B.__ auf der Grundlage ihres höheren Richtergehalts und nicht des späteren Lehrergehalts zu berechnen sind. Es befand, dass die zeitliche Konnexität zwischen der initialen Arbeitsunfähigkeit im Jahr 2007 und der späteren Invalidität nicht unterbrochen wurde.

Die Kernpunkte sind: 1. Massgeblicher Zeitpunkt des Versicherungsfalls: Der Beginn der Arbeitsunfähigkeit, die der Invalidität zugrunde liegt (hier: September 2007), nicht der Beginn der IV-Rente. 2. Zeitliche Konnexität: Diese bleibt bestehen, wenn die versicherte Person nach Beginn der initialen Arbeitsunfähigkeit nicht wieder über längere Zeit signifikant arbeitsfähig war (mindestens 80% in einer zumutbaren Tätigkeit). 3. Bedeutung der Expertise: Das Bundesgericht stützte sich auf die gerichtliche psychiatrische Expertise, die eine totale Arbeitsunfähigkeit als Richterin ab 2007 und eine Arbeitsfähigkeit von nie mehr als 50% als Lehrerin attestierte. 4. Retrospektive Arbeitsunfähigkeit: Auch ohne lückenlose "echtzeitliche" Atteste kann eine retrospektive Einschätzung der Arbeitsunfähigkeit akzeptiert werden, wenn andere objektive Umstände (wie fortgesetzte psychiatrische Behandlung, Schwere der psychischen Störung, Überforderung in der Arbeit) die gesundheitsbedingte Reduktion der Arbeitsfähigkeit belegen. 5. Unterbrechung der Konnexität verneint: Die Tätigkeit als Lehrerin in Teilzeit (48-64%) wurde nicht als Wiedererlangung einer signifikanten Arbeitsfähigkeit von 80% oder mehr gewertet, sondern als eine Tätigkeit, die die Versicherte aufgrund ihres Gesundheitszustandes über ihre Kräfte hinaus ausübte.

Die Beschwerde der CPEV wurde abgewiesen, und die Berechnung der Leistungen auf Basis des Richtergehalts der Versicherten wurde bestätigt.