Zusammenfassung von BGer-Urteil 9C_214/2025 vom 15. Oktober 2025

Es handelt sich um ein experimentelles Feature. Es besteht keine Gewähr für die Richtigkeit der Zusammenfassung.

Das vorliegende Urteil des Schweizerischen Bundesgerichts (9C_214/2025 vom 15. Oktober 2025) befasst sich mit der Frage des Anspruchs auf einen Intensivpflegezuschlag der Invalidenversicherung (IV) für eine minderjährige Person mit Geburtsgebrechen.

A. Sachverhalt und Verfahrensgeschichte

Die Beschwerdegegnerin, A.__, geboren am 13. September 2017, leidet an Trisomie 21 und angeborener Epilepsie (Geburtsgebrechen Ziff. 489 und 387), weshalb sie verschiedene IV-Leistungen bezog. Nach einer Anmeldung zum Bezug einer Hilflosenentschädigung im September 2019 sprach ihr die IV-Stelle des Kantons St. Gallen (Beschwerdeführerin) mit Verfügung vom 21. April 2020 eine Hilflosenentschädigung leichten Grades zu, verneinte jedoch den Anspruch auf einen Intensivpflegezuschlag.

In einem Revisionsverfahren erhöhte die IV-Stelle die Hilflosenentschädigung mit Verfügung vom 22. März 2021 auf mittleren Grad, lehnte den Intensivpflegezuschlag aber erneut ab. Im Rahmen eines weiteren, von Amtes wegen im September 2023 eröffneten Revisionsverfahrens erfolgte am 28. März 2024 eine erneute Abklärung der Hilflosigkeit. Gestützt auf den Abklärungsbericht und nach Einholung weiterer Berichte (heilpädagogische Schule, Universitäts-Kinderspital) bestätigte die IV-Stelle mit Verfügung vom 31. Juli 2024 die Hilflosenentschädigung mittleren Grades und verneinte den Intensivpflegezuschlag ein drittes Mal.

Die Beschwerdegegnerin reichte Beschwerde beim Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen (Vorinstanz) ein, welches mit Entscheid vom 12. März 2025 feststellte, dass ab 1. September 2023 Anspruch auf einen Intensivpflegezuschlag bei einem behinderungsbedingten Mehraufwand von mehr als vier, aber weniger als sechs Stunden pro Tag bestehe. Die Sache wurde zur betraglichen Festsetzung an die IV-Stelle zurückgewiesen.

Gegen diesen Entscheid der Vorinstanz erhob die IV-Stelle Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten an das Bundesgericht, mit dem Begehren, der vorinstanzliche Entscheid sei aufzuheben und ihre Verfügung vom 31. Juli 2024 zu bestätigen.

B. Rechtliche Grundlagen und Streitfrage

Die zentrale Streitfrage im Verfahren vor dem Bundesgericht war, ob die Vorinstanz Bundesrecht verletzte, indem sie der Beschwerdegegnerin einen Intensivpflegezuschlag zusprach.

Massgebend sind folgende Bestimmungen: * Art. 42ter Abs. 3 IVG: Die Hilflosenentschädigung für Minderjährige wird um einen Intensivpflegezuschlag erhöht, wenn diese zusätzlich eine intensive Betreuung benötigen. Der Zuschlag bemisst sich nach dem invaliditätsbedingten Betreuungsaufwand pro Tag: * 100 % des Höchstbetrages der Altersrente für mindestens acht Stunden. * 70 % für mindestens sechs Stunden. * 40 % für mindestens vier Stunden. * Art. 39 IVV: Konkretisiert die "intensive Betreuung": * Abs. 1: Zusätzliche Betreuung von mindestens vier Stunden im Tagesdurchschnitt infolge Beeinträchtigung der Gesundheit. * Abs. 2: Anrechenbar ist der Mehrbedarf an Behandlungs- und Grundpflege im Vergleich zu nichtbehinderten Minderjährigen gleichen Alters. Nicht anrechenbar sind ärztlich verordnete medizinische Massnahmen durch medizinisches Hilfspersonal sowie pädagogisch-therapeutische Massnahmen. * Abs. 3: Dauernde Überwachung kann als Betreuung von zwei Stunden, eine besonders intensive behinderungsbedingte Überwachung von vier Stunden angerechnet werden.

C. Massgebliche bundesgerichtliche Rechtsprechung zur Beweiswürdigung

Das Bundesgericht legte dar, dass ein Abklärungsbericht zur Hilflosigkeit oder zum Pflegebedarf bestimmten Anforderungen genügen muss (E. 6.1): * Er muss von einer qualifizierten Person erstellt werden, die Kenntnis der örtlichen Verhältnisse sowie der medizinisch bedingten Beeinträchtigungen hat. * Angaben der Hilfe leistenden Personen sind zu berücksichtigen, divergierende Meinungen aufzuzeigen. * Der Bericht muss plausibel, begründet und detailliert sein bezüglich alltäglicher Lebensverrichtungen, dauernder Pflege und Überwachung. * Er muss mit den an Ort und Stelle erhobenen Angaben übereinstimmen.

Ein solcher Bericht stellt eine zuverlässige Entscheidungsgrundlage dar, und das Gericht greift in das Ermessen der abklärenden Person nur ein, wenn klar feststellbare Fehleinschätzungen vorliegen. Der Grundsatz dafür ist, dass die fachlich kompetente Abklärungsperson näher am konkreten Sachverhalt ist. Weicht ein Gericht ohne solche Fehleinschätzungen von der Beurteilung der Abklärungsperson ab, verletzt es die Beweiswürdigungsregeln und den Untersuchungsgrundsatz (Verweis auf BGE 140 V 543 E. 3.2.1 und Urteil 8C_308/2016 E. 5.1). Das Bundesgericht prüft, ob dies der Fall ist, als Rechtsfrage mit uneingeschränkter Kognition (BGE 146 V 240 E. 8.2).

D. Detaillierte Prüfung der strittigen Punkte durch das Bundesgericht

Die Vorinstanz hatte zwar die hohe Qualität des Abklärungsberichts der IV-Stelle anerkannt, diesen aber als "zu streng" befunden und auf teilweise unrealistisch tiefe Minimalwerte abgestellt. Sie korrigierte den behinderungsbedingten Mehraufwand für An- und Auskleiden, Essen, Körperpflege und Verrichten der Notdurft nach oben, was zu einem Gesamtaufwand von 281 Minuten (statt 203 Minuten der IV-Stelle) und damit zum Anspruch auf den Intensivpflegezuschlag führte.

Das Bundesgericht nahm zu den einzelnen Punkten Stellung:

  1. Kritik der Vorinstanz an Abklärungsberichten (E. 7.1): Das Bundesgericht wies die grundsätzliche Kritik der Vorinstanz an Abklärungsberichten in ihrer Stellungnahme im letztinstanzlichen Verfahren zurück, da diese von der ständigen Rechtsprechung abweicht und die Voraussetzungen für eine Praxisänderung nicht erfüllt sind.

  2. An- und Auskleiden (E. 7.2):

    • Abklärungsperson: Ermittelte einen Gesamtaufwand von 20 Minuten (morgens 5-10 Min., tagsüber 5 Min., abends 5-10 Min.). Sie begründete dies mit einem Durchschnittswert, der den je nach Umständen (Aktivität, Wetter, Jahreszeit) unterschiedlichen Aufwand berücksichtigte.
    • Vorinstanz: Kritisierte den Beizug eines Durchschnittswertes als unzulässig und stellte auf 30 Minuten ab, gestützt auf die Angaben der Eltern.
    • Bundesgericht: Verneinte eine offensichtliche Fehleinschätzung im Bericht. Die Verwendung des Begriffs "Durchschnittswert" bezog sich nicht auf einen "durchschnittlichen" Versicherten, sondern auf einen die konkreten, variablen Verhältnisse berücksichtigenden Mittelwert für die Beschwerdegegnerin. Die Abklärungsperson habe ihre Einschätzung überzeugend begründet. Ein Eingreifen der Vorinstanz war nicht gerechtfertigt.
  3. Essen (E. 7.3):

    • Abklärungsperson: Ermittelte einen anrechenbaren Mehraufwand von 35 Minuten (10 Min. Frühstück, je 10-15 Min. Mittag- und Abendessen). Begründete dies mit punktuellen Hilfestellungen (Anleitung, Führung, Zerkleinern, portionenweises Reichen der Nahrung, Überwachung wegen Tendenz zum Überfüllen des Mundes), wobei die Mutter gleichzeitig essen könne.
    • Vorinstanz: Erachtete 75 Minuten als angemessen, da eine "Pikettsituation" (Bereitschaftsdienst) vorliege, welche wie bei medizinischen Massnahmen zu berücksichtigen sei (unter Verweis auf Urteil 9C_46/2017).
    • Bundesgericht: Die Argumentation der Abklärungsperson, dass nur punktuelle Hilfestellungen und nicht die gesamte Dauer der Mahlzeiten als behinderungsbedingter Mehraufwand gelten, sei nachvollziehbar und überzeugend. Der Vergleich mit dem Urteil 9C_46/2017 betreffend medizinische Massnahmen sei nicht stichhaltig, da die dortige ständige Bereitschaft einer Pflegefachperson bei nächtlichen medizinischen Massnahmen nicht mit der hier zu beurteilenden Situation vergleichbar sei. Zudem sei der allgemeine Überwachungsbedarf der Beschwerdegegnerin bereits durch die gewährte Überwachungspauschale von 120 Minuten abgegolten. Auch hier fehlten die Voraussetzungen für ein korrigierendes Eingreifen in das Ermessen der Abklärungsperson.
  4. Konsequenz der Korrekturen (E. 7.4): Durch die Wiedereinsetzung der von der IV-Stelle ermittelten Werte für An- und Auskleiden (20 Min.) und Essen (35 Min.) sinkt der Gesamtaufwand deutlich. Die ursprüngliche Gesamtzeit der IV-Stelle betrug 203 Minuten. Die von der Vorinstanz vorgenommenen Erhöhungen für diese beiden Punkte beliefen sich auf 10 Minuten (An- und Auskleiden) und 40 Minuten (Essen). Zieht man diese vom vorinstanzlich ermittelten Gesamtaufwand von 281 Minuten ab, resultieren 231 Minuten. Dieser Wert liegt unter der Schwelle von 240 Minuten (vier Stunden) pro Tag, die für einen Intensivpflegezuschlag mindestens erreicht werden muss. Eine weitere Prüfung der Punkte Körperpflege und Verrichten der Notdurft erübrigte sich somit, da die Schwelle in jedem Fall unterschritten würde.

  5. Novenrecht (E. 7.5): Die der Vernehmlassung der Beschwerdegegnerin beiliegende Stellungnahme der Eltern vom 10. August 2025 wurde vom Bundesgericht nicht berücksichtigt, da sie keine zulässigen Noven enthielt, sondern lediglich zusätzliche Sachverhaltsdarstellungen und pauschale Kritik.

E. Schlussfolgerung des Bundesgerichts

Das Bundesgericht kam zum Schluss, dass die Vorinstanz die Beweiswürdigungsregeln und den Untersuchungsgrundsatz verletzt hat, indem sie vom beweiskräftigen Abklärungsbericht der IV-Stelle abwich, ohne dass klar feststellbare Fehleinschätzungen vorlagen. Die Beschwerde der IV-Stelle wurde gutgeheissen, der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 12. März 2025 aufgehoben und die Verfügung der IV-Stelle vom 31. Juli 2024, die den Anspruch auf einen Intensivpflegezuschlag verneint, bestätigt. Die Gerichtskosten wurden der Beschwerdegegnerin auferlegt, und die Sache wurde zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des kantonalen Verfahrens an die Vorinstanz zurückgewiesen.

Zusammenfassung der wesentlichen Punkte:

Das Bundesgericht hat im Urteil 9C_214/2025 entschieden, dass das kantonale Versicherungsgericht Bundesrecht verletzt hat, indem es vom detaillierten Abklärungsbericht der IV-Stelle zum behinderungsbedingten Mehraufwand abwich, ohne dass klar feststellbare Fehleinschätzungen im Bericht vorlagen. Das Gericht betonte, dass Abklärungsberichte, die den rechtlichen Anforderungen genügen, eine zuverlässige Entscheidungsgrundlage darstellen und eine richterliche Korrektur nur bei offensichtlichen Mängeln zulässig ist. Insbesondere wurde die Argumentation der Vorinstanz bezüglich der Anrechnung von "Durchschnittswerten" beim An- und Auskleiden sowie die Annahme einer "Pikettsituation" beim Essen, die eine vollständige Anrechnung der Essenszeit rechtfertigen würde, zurückgewiesen. Da nach Korrektur dieser Punkte der behinderungsbedingte Mehraufwand von 240 Minuten (vier Stunden) pro Tag nicht mehr erreicht wurde, verneinte das Bundesgericht den Anspruch auf einen Intensivpflegezuschlag und bestätigte die ursprüngliche Verfügung der IV-Stelle.