Gerne fasse ich das bereitgestellte Urteil des schweizerischen Bundesgerichts (1C_523/2024 vom 11. September 2025) detailliert zusammen.
Detaillierte Zusammenfassung des Urteils des Bundesgerichts 1C_523/2024
1. Parteien und Streitgegenstand
Die Beschwerdeführenden, A._ und B._, sind Eigentümer der Liegenschaft Seminarstrasse 44 in Baden. Sie stören sich an einem ca. 20 m hohen Mammutbaum auf der Nachbarparzelle Nr. 3114, der im Eigentum von C.__ steht. Der Baum unterschreitet den kantonalrechtlich für Bäume über 12 m Höhe vorgeschriebenen Grenzabstand von 6 m um 1.5 m (§ 73 Abs. 1 lit. d des aargauischen Einführungsgesetzes zum Schweizerischen Zivilgesetzbuch [EG ZGB/AG]).
Im Rahmen einer Teilrevision der kommunalen Bau- und Nutzungsordnung (BNO) stellte der Stadtrat Baden den Mammutbaum vorsorglich unter Schutz. Daraufhin ersuchten die Beschwerdeführenden den Stadtrat um Aufhebung dieser Unterschutzstellung oder, falls diese nicht gewährt werde, um Ausrichtung einer monatlichen Entschädigung für den Verlust an Wohnnutzungswert (Fr. 500.--), für Reinigungsarbeiten und für die Übernahme der Kosten eines zivilrechtlichen Beseitigungsverfahrens. Der Stadtrat lehnte das Wiedererwägungsgesuch ab und überwies die Entschädigungsbegehren an das Spezialverwaltungsgericht des Kantons Aargau, Abteilung Kausalabgaben und Enteignungen. Nachdem dieses Gericht das Entschädigungsbegehren abgewiesen hatte, wies auch das Verwaltungsgericht des Kantons Aargau die Beschwerde der Beschwerdeführenden ab. Diese gelangten daraufhin an das Bundesgericht.
2. Die Kernfrage und Vorinstanzliche Beurteilung
Die zentrale Rechtsfrage des vorliegenden Falls ist, ob die Beschwerdeführenden für die durch die vorsorgliche Unterschutzstellung des Mammutbaums erfolgte Unterdrückung ihrer zivilrechtlichen Abwehransprüche (auf Beseitigung des Baumes aufgrund der Nichteinhaltung des gesetzlichen Grenzabstands) eine Entschädigung beanspruchen können. Das Verwaltungsgericht des Kantons Aargau bejahte zwar grundsätzlich eine Prüfungspflicht für eine Enteignungsentschädigung, da die Unterschutzstellung im öffentlichen Interesse erfolge und die Beschwerdeführenden vorläufig die damit verbundenen Immissionen (Schattenwurf, eingeschränkte Aussicht, Nadeln) tragen müssten. Es verneinte jedoch einen entschädigungspflichtigen Eingriff ins Eigentum, weil es die in der bundesgerichtlichen Rechtsprechung für Immissionen aus öffentlichen Werken entwickelten kumulativen Kriterien der Unvorhersehbarkeit, Spezialität und des schweren Schadens analog angewendet und als nicht erfüllt erachtet hatte.
3. Argumentation der Beschwerdeführenden vor Bundesgericht
Die Beschwerdeführenden rügen, das Verwaltungsgericht habe die drei Kriterien zu Unrecht analog angewendet und damit die Eigentumsgarantie gemäss Art. 26 Abs. 2 BV sowie die gleichlautende Wertgarantie gemäss § 21 Abs. 4 der Aargauer Kantonsverfassung verletzt. Sie argumentieren, die Entschädigung trete als Surrogat an die Stelle des enteigneten nachbarrechtlichen Abwehrrechts, weshalb keine zusätzlichen, strengeren Voraussetzungen (wie insbesondere der Nachweis eines schweren Schadens) gelten dürften.
4. Allgemeine rechtliche Erwägungen des Bundesgerichts zur Eigentumsgarantie (Art. 26 BV)
- Inhaltsbestimmung vs. Enteignung: Das Bundesgericht hält fest, dass die Eigentumsgarantie nicht unbeschränkt ist, sondern im öffentlichen Interesse Beschränkungen unterliegt. Gewichtige öffentliche Interessen (Umweltschutz Art. 74 BV, Raumplanung Art. 75 BV, Natur- und Heimatschutz Art. 78 BV) sind der Eigentumsgarantie gleichgestellt. Eigentumsbeschränkungen, die den Inhalt des Eigentums in allgemeingültiger Weise neu definieren (sog. Inhaltsbestimmung), sind grundsätzlich entschädigungslos hinzunehmen.
- Wertgarantie (Art. 26 Abs. 2 BV): Diese garantiert eine volle Entschädigung bei Enteignungen und enteignungsgleichen Eigentumsbeschränkungen. Ihr Anwendungsbereich ist auf besonders schwerwiegende Eingriffe beschränkt und gilt nur, wenn unmittelbar Befugnisse aus dem Eigentum beschränkt werden. Polizeiliche Massnahmen und Inhaltsbestimmungen lösen in der Regel keine Entschädigungspflicht aus.
- Richterrechtliche Natur: Da der Verfassungs- und Gesetzgeber die Begriffe "Enteignung" und "enteignungsgleiche Eigentumsbeschränkung" nicht definiert haben, ist das Enteignungsrecht – insbesondere die Bestimmung der Voraussetzungen für einen Entschädigungsanspruch – in erster Linie Richterrecht.
- Formelle vs. Materielle Enteignung: Das Bundesgericht erläutert, dass das wesentliche Unterscheidungskriterium der Zweck des Eingriffs ist. Bei der formellen Enteignung erwirbt das Gemeinwesen Rechte zur Erfüllung öffentlicher Aufgaben, wobei die Entschädigungspflicht bereits daraus resultiert. Bei der materiellen Enteignung handelt es sich um eine Nebenfolge eines auf andere Ziele gerichteten staatlichen Handelns (meist Regelungen), wobei eine Entschädigung eine besondere Intensität des Eingriffs erfordert.
- Natur- und Heimatschutz: Massnahmen des Natur- und Heimatschutzes bewirken in der Regel keine formelle Enteignung, sondern lediglich eine öffentlich-rechtliche Eigentumsbeschränkung. Die formelle Enteignung eines Denkmals (oder Baumes) ist die ultima ratio.
- Spezialfall Nachbarrechte: Die vorliegende Situation ist speziell, da nicht die Unterschutzstellung auf dem eigenen Grundstück beurteilt wird, sondern die Unterdrückung nachbarlicher Abwehrrechte der Nachbareigentümerschaft.
5. Vertiefung: Enteignung nachbarrechtlicher Abwehransprüche
- Abweichende Praxis bei Nachbarrechten: Während bei der klassischen formellen Enteignung (z.B. Landentzug) jede Schädigung entschädigt wird, verhält es sich bei der Unterdrückung von nachbarrechtlichen Abwehransprüchen (Art. 684 ff. ZGB) anders.
- Kumulative Kriterien bei Immissionsenteignung: Das Bundesgericht verweist auf seine gefestigte Rechtsprechung zu Lärmimmissionen aus öffentlichen Verkehrsanlagen. Einwirkungen aus dem Betrieb eines öffentlichen Werks gelten demnach abweichend vom Nachbarrecht nur dann als übermässig und begründen eine Entschädigungspflicht, wenn sie kumulativ unvorhersehbar waren, die Grundeigentümerin bzw. den Grundeigentümer in spezieller Weise treffen (Spezialität) und einen schweren Schaden verursachen. Diese Kriterien gelten für alle unvermeidbaren Immissionen im Sinne von Art. 684 ZGB, die von einem im öffentlichen Interesse liegenden Werk ausgehen.
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Begründung der analogen Anwendung:
- Qualifizierte Schädigung: Das Bundesgericht stützt die Vorinstanz in der Ansicht, dass eine enteignungsrechtliche Entschädigung zusätzlich zur zivilrechtlich massgebenden Intensität der Einwirkungen eine qualifizierte Schädigung voraussetzt. Eine Entschädigung soll nicht für jeden hoheitlichen Eingriff oder jede Beeinträchtigung geschuldet sein. Das Kriterium der Schwere sichert, dass der Schaden eine gewisse Höhe oder einen bestimmten Prozentsatz des Gesamtwertes der Liegenschaft erreichen muss.
- Öffentliches Interesse: Die Gründe, die zur Einführung der verschärften Kriterien führten (Schutz des öffentlichen Interesses an Verkehrsanlagen), gelten auch für Unterschutzstellungen im Rahmen des Natur- und Heimatschutzes (Art. 78 BV). Die Erfüllung dieser Aufgabe soll nicht beeinträchtigt oder erschwert werden, indem Behörden sich von Entschädigungs- statt von Schutzgesichtspunkten leiten lassen.
- Abgrenzung zum Zivilrecht: Der Einwand der Beschwerdeführenden, die zivilrechtliche Fiktion der Übermässigkeit bei Grenzabstandsverletzungen (Art. 688 ZGB i.V.m. § 73 Abs. 1 lit. d EG ZGB/AG) genüge, greift nicht. Diese Fiktion, die im Zivilverfahren den Nachweis tatsächlicher Immissionen ersetzt, kann nicht ohne Weiteres auf das Enteignungsrecht übertragen werden. Das Bundesgericht betont, dass nicht jede unvermeidbare Immission entschädigt werden soll. Eine tiefere Schwelle für die Entschädigungspflicht bei Grenzabstandsverletzungen wäre nicht einsichtig, wenn eine (qualifizierte) Übermässigkeit nicht nachgewiesen werden muss. Der Staat darf einen privatrechtlichen Beseitigungsanspruch aus wichtigen öffentlichen Interessen unterdrücken, ohne bei jeder geringfügigen Schädigung kompensieren zu müssen.
- Rechtsgleichheit: Ein "Schematismus" ohne Einzelfallprüfung würde zu einer sachlich ungerechtfertigten Ungleichbehandlung führen. Würde der Nachbar (dessen Abwehrrecht unterdrückt wird) bei jeder noch so geringfügigen Schädigung entschädigt, während der Eigentümer des unter Schutz gestellten Baumes auf dem eigenen Grundstück nur nach den strengeren Kriterien der materiellen Enteignung entschädigt würde, wäre dies ungleich. Die analoge Anwendung der restriktiven Entschädigungspraxis schafft hier einen gewissen Ausgleich.
- Art der Einwirkung: Sowohl Immissionen aus öffentlichen Werken als auch solche aus Grenzabstandsverletzungen sind in der Regel mittelbare Einwirkungen auf das Nachbargrundstück (Schatten, Aussicht, Nadeln), nicht direkte physische Eingriffe.
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Zwischenergebnis: Die analoge Anwendung der drei Kriterien (Unvorhersehbarkeit, Spezialität, schwerer Schaden) auf die Unterdrückung nachbarrechtlicher Abwehransprüche durch Unterschutzstellung des Baumes ist mit Art. 26 Abs. 2 BV vereinbar.
6. Anwendung der Kriterien im konkreten Fall (Willkürprüfung)
Das Bundesgericht prüft die Anwendung des kantonalen Rechts sowie die Sachverhaltsfeststellungen der Vorinstanz nur auf Willkür.
- Unvorhersehbarkeit: Das Verwaltungsgericht hatte dieses Kriterium bejaht, da die Einschränkung des zivilrechtlichen Vorgehensrechts der Beschwerdeführenden durch die (provisorische) Unterschutzstellung nicht voraussehbar gewesen sei. Das Bundesgericht geht auf diesen Punkt nicht vertieft ein, da die anderen kumulativen Kriterien nicht erfüllt sind.
- Spezialität und Schwere: Das Verwaltungsgericht verneinte beide Kriterien, da die geltend gemachten Einwirkungen (Schattenwurf, beeinträchtigte Aussicht, Nadeln) gering seien und die Beschwerdeführenden in der Wohnnutzung ihrer Liegenschaft nicht wesentlich eingeschränkt würden. Eine relevante Wertminderung des Grundstücks, die eine Entschädigung rechtfertigen würde, sei nicht ersichtlich, zumal die provisorische Unterschutzstellung auf maximal fünf Jahre befristet sei.
- Beurteilung des Bundesgerichts: Die Beschwerdeführenden konnten nicht darlegen, dass diese vorinstanzlichen Erwägungen willkürlich sind. Insbesondere scheiterten sie daran, einen schweren Schaden bzw. eine Wertminderung ihres Grundstücks nachzuweisen.
7. Schlussfolgerung des Bundesgerichts
Die Beschwerde erweist sich als unbegründet und wird abgewiesen.
Kurze Zusammenfassung der wesentlichen Punkte:
- Rechtlicher Kontext: Die Beschwerdeführenden forderten Entschädigung, da die vorsorgliche Unterschutzstellung eines Nachbarbaumes ihr zivilrechtliches Recht auf dessen Beseitigung (wegen Unterschreitung des Grenzabstands) unterdrückte.
- Analoge Anwendung der Immissionsenteignung: Das Bundesgericht bestätigte die analoge Anwendung der in der Rechtsprechung entwickelten kumulativen Kriterien für Immissionen aus öffentlichen Werken (Unvorhersehbarkeit, Spezialität, schwerer Schaden) auf die Unterdrückung nachbarrechtlicher Abwehransprüche im Kontext des Natur- und Heimatschutzes.
- Abgrenzung Zivilrecht/Enteignungsrecht: Die zivilrechtliche Fiktion der Übermässigkeit bei Grenzabstandsverletzungen führt nicht automatisch zu einem entschädigungspflichtigen Eingriff im Enteignungsrecht. Es bedarf einer "qualifizierten Schädigung".
- Begründung der Analogie: Die Analogie wird mit dem öffentlichen Interesse an der ungestörten Wahrnehmung von Staatsaufgaben (hier: Natur- und Heimatschutz gemäss Art. 78 BV) und zur Vermeidung sachlich ungerechtfertigter Ungleichbehandlung gegenüber direkt betroffenen Eigentümern gerechtfertigt.
- Anwendung im Fall: Im konkreten Fall wurde das Kriterium des "schweren Schadens" vom Verwaltungsgericht zu Recht als nicht erfüllt erachtet. Die Beeinträchtigungen wurden als geringfügig beurteilt, und eine relevante Wertminderung konnte nicht nachgewiesen werden.
- Ergebnis: Die Beschwerde wurde abgewiesen, da die Eigentumsgarantie (Art. 26 Abs. 2 BV) durch die analoge Anwendung der Kriterien und deren Beurteilung im vorliegenden Fall nicht verletzt wurde.