Zusammenfassung von BGer-Urteil 7B_774/2023 vom 15. Oktober 2025

Es handelt sich um ein experimentelles Feature. Es besteht keine Gewähr für die Richtigkeit der Zusammenfassung.

Gerne fasse ich das vorliegende Urteil des Schweizerischen Bundesgerichts detailliert zusammen:

Bundesgericht, II. Strafrechtliche Abteilung, Urteil 7B_774/2023 vom 15. Oktober 2025

1. Einführung und Sachverhalt

Das Bundesgericht hatte über eine Beschwerde gegen eine Nichteintretensverfügung des Genfer Ministère public zu entscheiden, die von der Chambre pénale de recours des Kantons Genf bestätigt wurde. Der Beschwerdeführer A._, ein Hals-Nasen-Ohren-Spezialist, hatte in den 1990er Jahren eine chirurgische Technik namens "Sialendoskopie" entwickelt. Er schloss ab 2002 Lizenzverträge mit der deutschen Firma B._, die ihm Tantiemen auf den Nettoverkaufspreis von medizinischen Instrumenten im Bereich der Sialendoskopie zustanden. Die Verträge sahen jährliche detaillierte Verkaufsabrechnungen und ein Auditrecht vor.

Im Jahr 2019 machte A._ von seinem Auditrecht Gebrauch. Eine beauftragte Firma stellte fest, dass zwischen 2009 und 2019 Tausende von Endoskopen und anderen Instrumenten aus dem Lager von B._ verschwunden waren, die nicht in den Tantiemenabrechnungen berücksichtigt wurden. B._ erklärte dies mit "Reparaturen" ("services") oder "Leihgaben" ("prêts") und nicht mit "Neuverkäufen". A._ leitete zivil- und schiedsgerichtliche Verfahren ein. Ein in diesem Rahmen beauftragter Auditor konnte nicht klären, ob die als "services" verbuchten Posten vertraglich als Verkäufe galten, und die "Leihgaben" wurden nur bei Nichtrückgabe in Rechnung gestellt. Ein von A.__ beauftragter Professor äusserte den Verdacht auf "getarnte Verkäufe" aufgrund der hohen Anzahl an Instrumenten in den Kanälen "Leihgaben" und "Dienstleistungen".

Daraufhin erstattete A._ Strafanzeige wegen gewerbsmässigen Betrugs (Art. 146 Abs. 2 StGB) gegen Organe oder Mitarbeiter von B._. Das Ministère public trat auf die Anzeige nicht ein, was von der Chambre pénale de recours bestätigt wurde.

2. Rechtliche Erwägungen des Bundesgerichts

2.1. Beschwerdelegitimation des Privatklägers Das Bundesgericht prüfte zunächst die Beschwerdelegitimation des Privatklägers (Art. 81 Abs. 1 Bst. b Ziff. 5 BGG). Ein Privatkläger muss darlegen, inwiefern die angefochtene Entscheidung Auswirkungen auf seine Zivilforderungen hat. * Betrug als Schutznorm: Das Bundesgericht bekräftigte ein früheres obiter dictum (Urteil 7B_111/2024), wonach Betrug gemäss Art. 146 StGB eine Schutznorm für das Vermögen darstellt. Dies sei konsequent, da Betrug gerade den Schutz des Vermögens bezwecke. Damit können zivilrechtliche Schadenersatzansprüche direkt aus einer allfälligen Betrugstat abgeleitet werden. * Rechtshängigkeit (Litispendenz): Der Beschwerdeführer hatte bereits zivilrechtliche Verfahren gegen die Firma B._ eingeleitet. Das Bundesgericht hielt fest, dass diese Zivilklagen nicht die Beschwerdelegitimation des Privatklägers in der Strafsache hindern. Dies, weil die Zivilklagen gegen die juristische Person B._ gerichtet sind, während die Strafanzeige sich gegen deren Organe oder Mitarbeiter, d.h. natürliche Personen, richtet. Die Streitgegenstände seien somit nicht identisch. Die Beschwerdelegitimation wurde bejaht.

2.2. Materielle Prüfung der Nichteintretensverfügung Die Vorinstanz hatte die Nichteintretensverfügung insbesondere mit dem Argument bestätigt, die Elemente einer Straftat seien nicht offensichtlich erfüllt und gewisse Vorwürfe seien verjährt. Das Bundesgericht prüfte diese Punkte unter dem Gesichtspunkt des in dubio pro duriore-Prinzips.

  • Grundsatz des in dubio pro duriore: Gemäss Art. 310 Abs. 1 StPO darf die Staatsanwaltschaft nur dann eine Nichteintretensverfügung erlassen, wenn die Tatbestandselemente einer Straftat oder die Prozessvoraussetzungen offensichtlich nicht erfüllt sind oder Prozesshindernisse bestehen. Das in dubio pro duriore-Prinzip besagt, dass bei Zweifeln an der Sach- oder Rechtslage nicht die Untersuchungs- oder Anklagebehörde, sondern der Sachrichter zu entscheiden hat. Eine Untersuchung muss fortgesetzt werden, wenn eine Verurteilung wahrscheinlicher erscheint als ein Freispruch, oder wenn die Wahrscheinlichkeiten gleichwertig sind, insbesondere bei schwerwiegenden Delikten.
  • Mangelnde Überzeugungskraft der kantonalen Argumentation:

    • Vorwurf der nicht offensichtlich fehlenden Tatbestandselemente: Das Bundesgericht befand, dass die Schlussfolgerung der kantonalen Richter, die Tatbestandselemente seien offensichtlich nicht erfüllt, nicht überzeuge. Das vom Beschwerdeführer denunzierte Verhalten könnte den Tatbestand der Untreuen Geschäftsbesorgung (Art. 158 StGB) oder des Betruges (Art. 146 StGB) erfüllen. Die genaue rechtliche Qualifikation müsse im Nichteintretensstadium nicht abschliessend geklärt werden.
    • Zweifel an der Klassifizierung als "Dienstleistungen" oder "Leihgaben": Die Audits hatten Diskrepanzen aufgedeckt. Insbesondere zeigten zahlreiche schriftliche Erklärungen von Ärzten aus verschiedenen Ländern, dass ihnen kein Leihprogramm für Endoskope von B.__ bekannt war. Die Argumentation der Vorinstanz, diese Beweismittel schlössen die Existenz effektiver Leihgaben nicht aus, verletze das in dubio pro duriore-Prinzip. Dieses verlange, zu prüfen, ob die Hypothese einer Straftat hinreichend wahrscheinlich sei, um eine Untersuchung einzuleiten, und nicht, ob eine Schuld die einzige plausible Hypothese sei.
    • Verjährung der Vorwürfe für 2002-2007: Die Vorinstanz hatte die Vorwürfe für diesen Zeitraum als verjährt erachtet. Das Bundesgericht widersprach und stellte fest, dass eine natürliche Handlungseinheit oder ein Dauerdelikt nicht klar ausgeschlossen werden könne. Es verwies auf eigene Rechtsprechung (Urteil 6B_310/2014), die bei jahrelangen, betrügerischen Belastungen einer Gesellschaft das Vorliegen einer solchen Einheit bejahte. Die Frage eines einheitlichen Täterwillens müsse zumindest im Rahmen einer Untersuchung geklärt werden.
  • Schlussfolgerung zur materiellen Prüfung: Das Bundesgericht kam zum Schluss, dass die Beurteilung der Chambre pénale de recours, wonach die Tatbestandselemente einer Straftat nicht offensichtlich erfüllt seien und eine allfällige Straftat für die Jahre 2002 bis 2007 verjährt sei, Art. 310 Abs. 1 Bst. a StPO verletzt.

2.3. Zuständigkeit der Schweizer Strafbehörden Da die materiellen Gründe für das Nichteintreten nicht haltbar waren, wurde die von der Vorinstanz offengelassene Frage der Zuständigkeit der Schweizer Strafbehörden wieder relevant.

  • Tenuer Bezug zur Schweiz: Der einzige Bezug des Falles zur Schweiz (abgesehen von der Nationalität des Klägers) war die unterlassene Zahlung von Tantiemen auf ein Schweizer Bankkonto.
  • Ubiquitätsprinzip und alte Rechtsprechung: Das Bundesgericht hatte unter der früheren Fassung des Strafgesetzbuches eine solche Verbindung als ausreichend erachtet, um eine Strafzuständigkeit der Schweizer Behörden zu begründen (vgl. BGE 124 IV 241 E. 4d), basierend auf einer extensiven Auslegung des Ubiquitätsprinzips bei Erfolgsdelikten gegen das Vermögen.
  • Neue Rechtslage und offene Fragen: Das Bundesgericht bemerkte jedoch, dass diese Rechtsprechung weder mit der Annahme des neuen Allgemeinen Teils des Strafgesetzbuches im Jahr 2002 noch in den über zwanzig Jahren seither kodifiziert wurde. Da die Zuständigkeit der Schweizer Strafbehörden im vorliegenden Fall nicht offensichtlich sei und einer sorgfältigen Prüfung bedürfe, sei es nicht angebracht, dass das Bundesgericht diese Frage in eigener Instanz und ohne weitere Debatte entscheide.

3. Entscheid und Rückweisung

Das Bundesgericht hiess die Beschwerde gut, hob den angefochtenen Entscheid auf und wies die Sache an die Chambre pénale de recours zurück. Diese hat eine neue Entscheidung zu treffen und dabei insbesondere die Frage der Zuständigkeit der Schweizer Strafbehörden im vorliegenden Fall zu prüfen.

Es wurden keine Gerichtskosten erhoben, und dem Beschwerdeführer wurde eine Parteientschädigung von 2'000 Franken zu Lasten des Kantons Genf zugesprochen.

Kurze Zusammenfassung der wesentlichen Punkte:

  • Beschwerde gutgeheissen: Das Bundesgericht hob die Nichteintretensverfügung auf und wies den Fall an die Vorinstanz zurück.
  • Betrug als Schutznorm: Bestätigung, dass Betrug (Art. 146 StGB) eine Schutznorm für das Vermögen ist und somit die Beschwerdelegitimation des Privatklägers für Zivilforderungen begründet.
  • Verletzung des in dubio pro duriore-Prinzips: Die Vorinstanz hatte zu Unrecht ein Nichteintreten verfügt, da sie das Vorliegen von Straftatbeständen nicht als offensichtlich ausgeschlossen erachtete. Zeugenaussagen und Auditberichte deuteten auf Ungereimtheiten hin, die eine Untersuchung erforderten.
  • Verjährungsfrage offen: Die Frage der Verjährung für frühe Tatzeiträume kann nicht offensichtlich bejaht werden, da eine natürliche Handlungseinheit oder ein Dauerdelikt nicht ausgeschlossen werden kann und eines einheitlichen Täterwillens bedarf, der zu untersuchen ist.
  • Zuständigkeitsfrage zu prüfen: Die offene Frage der Zuständigkeit der Schweizer Strafbehörden ist von der Vorinstanz neu und sorgfältig zu prüfen, da der alleinige Anknüpfungspunkt einer unterlassenen Zahlung auf ein Schweizer Bankkonto nicht offensichtlich eine solche begründet, insbesondere im Lichte der nicht kodifizierten extensiven Auslegung des Ubiquitätsprinzips.