Zusammenfassung von BGer-Urteil 8C_623/2024 vom 16. Oktober 2025

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Detaillierte Zusammenfassung des Bundesgerichtsurteils 8C_623/2024 vom 16. Oktober 2025

Parteien: * Beschwerdeführerin: IV-Stelle des Kantons St. Gallen * Beschwerdegegner: A.__ (Versicherter)

Gegenstand: Invalidenversicherung (Invalidenrente)

Vorinstanz: Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen (Entscheid vom 25. September 2024, IV 2024/29)

I. Sachverhalt

A.__, geboren 1963, zuletzt als Schichtarbeiter tätig, meldete sich am 3. Februar 2021 unter Hinweis auf psychische Beschwerden bei der Eidgenössischen Invalidenversicherung (IV) zum Leistungsbezug an. Bei ihm wurde eine depressive Störung unterschiedlichen Schweregrades diagnostiziert.

Im Rahmen der Abklärungen holte die IV-Stelle des Kantons St. Gallen ein psychiatrisches Gutachten bei Dr. med. B.__ vom 7. November 2023 ein. Dieses Gutachten attestierte dem Versicherten rückwirkend bis Ende 2022 eine 100%ige Arbeitsunfähigkeit und bis Ende Mai 2023 eine Arbeitsunfähigkeit von 50%. Ab Juni 2023 wurde in der angestammten Tätigkeit eine Arbeitsfähigkeit von 80% und in einer leidensangepassten Tätigkeit eine solche von 100% festgestellt (u.a. keine Nachtschicht, wechselbelastende Tätigkeiten, klare Handlungsanleitung, kein anhaltender Zeitdruck, kein Multitasking, keine Reizüberflutung).

Mit Verfügung vom 15. Januar 2024 wies die IV-Stelle das Rentenbegehren ab, da sie einen nicht rentenbegründenden Invaliditätsgrad von 20% ermittelte.

Gegen diesen Entscheid erhob der Versicherte Beschwerde. Das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen hiess die Beschwerde mit Entscheid vom 25. September 2024 gut und bejahte den Anspruch auf eine ganze Rente der Invalidenversicherung für die Zeit vom 1. August 2021 bis zum 31. März 2023 sowie auf eine halbe Rente für die Zeit vom 1. April 2023 bis zum 31. August 2023. Das Begehren um berufliche Massnahmen wurde nicht behandelt.

Die IV-Stelle des Kantons St. Gallen legte daraufhin Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beim Bundesgericht ein, mit dem Antrag, den kantonalen Entscheid aufzuheben und ihre ursprüngliche Verfügung zu bestätigen.

II. Massgebende Rechtsgrundlagen und Prüfungsrahmen des Bundesgerichts
  1. Eintretensvoraussetzungen (Art. 90 BGG): Obwohl das kantonale Gericht den Fall zur Rentenberechnung an die IV-Stelle zurückwies (formell ein Rückweisungsentscheid), erachtete das Bundesgericht die Beschwerde als zulässig. Es stellte fest, dass die Rückweisung lediglich der rechnerischen Umsetzung der oberinstanzlich angeordneten Leistung dient und der Verwaltung keinerlei Entscheidungsspielraum mehr verbleibt. Somit liegt materiell ein Endentscheid im Sinne von Art. 90 BGG vor (BGE 140 V 282 E. 4.2).

  2. Intertemporales Recht (Erw. 4.1): Das Bundesgericht stellte fest, dass die Bestimmungen zur Weiterentwicklung der IV (WEIV), die am 1. Januar 2022 in Kraft traten, im vorliegenden Fall nicht vollumfänglich zur Anwendung gelangen. Gemäss den allgemeinen Grundsätzen des materiellen intertemporalen Rechts sind bei einem dauerhaften Sachverhalt, der teilweise vor und teilweise nach einer Rechtsänderung eintritt, die jeweiligen Rechtssätze für die betreffenden Perioden massgebend. Da der Rentenanspruch des Beschwerdegegners im Februar 2021, also vor dem 1. Januar 2022, geltend gemacht wurde, gilt für die Periode bis zum 31. Dezember 2021 das bisherige Recht. Entscheidend ist darüber hinaus, dass der Beschwerdegegner zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der WEIV (1. Januar 2022) das 55. Altersjahr bereits vollendet hatte. Gemäss lit. c der Übergangsbestimmungen des IVG zur Änderung vom 19. Juni 2020 kommt daher auch für die Zeit nach dem 1. Januar 2022 das bisherige Recht zur Anwendung (vgl. Urteile 8C_499/2024 vom 30. Mai 2025 E. 2.2; 8C_621/2023 vom 7. August 2024 E. 3).

  3. Kognition des Bundesgerichts (Erw. 2.1, 2.2): Das Bundesgericht prüft Rechtsverletzungen frei (Art. 95 f. BGG). Es legt den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Eine Sachverhaltsfeststellung kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig (willkürlich) ist oder auf einer Rechtsverletzung beruht und die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 bzw. Art. 105 Abs. 2 BGG; BGE 145 V 57 E. 4). Die Beurteilung der Beweiswürdigung und der Sachverhaltsfeststellung ist nicht schon bei Zweifeln willkürlich, sondern erst bei eindeutiger und augenfälliger Unzutreffendheit (BGE 144 V 50 E. 4.2).

  4. Beweiswürdigung bei psychischen Erkrankungen (Erw. 4.2.2, 4.2.3):

    • Für die Beurteilung der Arbeitsfähigkeit bei psychischen Erkrankungen sind systematisierte Indikatoren (Beweisthemen und Indizien) nach BGE 141 V 281 massgebend, die das tatsächlich erreichbare Leistungsvermögen unter Berücksichtigung von leistungshindernden Belastungsfaktoren und Kompensationspotenzialen einschätzen lassen (BGE 145 V 361 E. 3.1).
    • Die ärztliche Einschätzung der Arbeitsunfähigkeit ist für die rechtsanwendende Stelle nicht verbindlich, jedoch ist ihr grundsätzlich zu folgen, wenn sie ihre Aufgabe unter Berücksichtigung der Beweisthemen nach BGE 141 V 281 überzeugend erfüllt. Ein Abweichen ist nur bei triftigem Grund zulässig (BGE 148 V 49 E. 6.2.1; 145 V 361 E. 4.1.1 und E. 4.3).
    • Psychosoziale Faktoren: Es spielt keine Rolle, wenn psychosoziale oder soziokulturelle Umstände bei der Entstehung einer Gesundheitsschädigung eine Rolle spielten, sofern sich inzwischen ein eigenständiger invalidisierender Gesundheitsschaden entwickelt hat (BGE 141 V 281 E. 3.4.2.1). Soziale Belastungen sind im Rahmen der Indikatorenprüfung und im Gesamtkontext zu würdigen, nicht vorab und losgelöst davon auszuklammern, da sie den Wirkungsgrad der Folgen einer Gesundheitsschädigung beeinflussen können (BGE 143 V 409 E. 4.5.2; 141 V 281 E. 4.3.3).
III. Streitpunkt und Argumentation der Parteien

Streitpunkt: Zentral war die Frage, ob die Vorinstanz Bundesrecht verletzte, indem sie die rentenabweisende Verfügung der IV-Stelle aufhob und dem Beschwerdegegner einen Rentenanspruch zusprach. Im Kern ging es darum, ob die gutachterliche Einschätzung des Dr. med. B.__, die eine Arbeitsunfähigkeit attestierte, rechtlich massgeblich war oder ob die attestierte Arbeitsunfähigkeit hauptsächlich auf psychosoziale Belastungsfaktoren und nicht auf einen eigenständigen, invalidisierenden Gesundheitsschaden zurückzuführen war.

Argumentation der IV-Stelle (Beschwerdeführerin): Die IV-Stelle rügte eine offensichtlich unrichtige Beweiswürdigung des kantonalen Gerichts. Sie führte an, dass die von Dr. med. B.__ für die Zeit von August 2021 bis Mai 2023 angenommene (teilweise) Arbeitsunfähigkeit hauptsächlich auf psychosozialen Belastungsfaktoren (familiäre Konflikte, geänderte Belastung am Arbeitsplatz, verlängerter Arbeitsweg, sekundäre Emotionen) beruhe. Insbesondere habe der Sachverständige betont, dass der Wegfall dieser Faktoren (mit therapeutischer Begleitung) zur vollständigen Remission der depressiven Störung geführt habe, womit er implizit das Vorliegen eines verselbstständigten psychischen Leidens verneint habe. Demnach habe kein invalidisierender Gesundheitsschaden vorgelegen.

Argumentation der Vorinstanz (Kantonales Gericht): Die Vorinstanz stützte sich massgeblich auf das Gutachten von Dr. med. B._, dem sie Beweiskraft zumass. Sie erwog, dass der Gutachter anschaulich dargelegt habe, dass der Verlauf der depressiven Störung zwar von psychosozialen Belastungen (Arbeitssituation, innerfamiliäre Konflikte) mitverursacht worden sei. Dr. med. B._ habe aber gleichzeitig festgehalten, dass das "mitunter schwere Ausmass [...] trotz der Dominanz externer Belastungsfaktoren das Stellen der Diagnose einer Anpassungsstörung" verbiete. Dies bedeute, dass der Beschwerdegegner nicht ausschliesslich durch psychosoziale Belastungsfaktoren, sondern durch eine depressive Störung an der Erwerbstätigkeit gehindert gewesen sei. Die Annahme, der Gesundheitszustand habe sich ab Januar 2023 schrittweise verbessert, sei überwiegend wahrscheinlich richtig. Hätte die Arbeitsunfähigkeit nur auf psychosozialen Faktoren beruht, hätte sich der Zustand ab Januar 2023 nicht verbessern können, da die Belastungen damals noch bestanden hätten. Die Verbesserung sei vielmehr durch eine Besserung des psychischen Gesundheitszustandes und eine damit einhergehende "Selbstwirksamkeit" und "Autonomie" des Beschwerdegegners zu erklären.

IV. Erwägungen des Bundesgerichts

Das Bundesgericht wies die Beschwerde der IV-Stelle ab und bestätigte den Entscheid der Vorinstanz.

  1. Zur Behauptung der IV-Stelle, es habe kein verselbstständigtes Leiden vorgelegen (Erw. 5.3.1): Das Bundesgericht hielt fest, dass die Behauptung der IV-Stelle, die Remission der psychischen Erkrankung sei einzig auf den Wegfall der psychosozialen Belastungsfaktoren zurückzuführen und es habe kein verselbstständigtes Leiden vorgelegen, zu kurz greife. Dr. med. B.__ habe zwar anerkannt, dass psychosoziale Belastungsfaktoren einen namhaften Einfluss auf die Entstehung und den Verlauf der Krankheit hatten. Gleichwohl habe er betont, dass der Beschwerdegegner jeweils hinreichend die Kriterien für eine Major Depression erfüllte und die geschilderten Symptome als konsistent und plausibel erachtete. Er empfahl zudem trotz deutlicher Besserung eine Weiterführung der ambulanten psychotherapeutischen Konsultation aufgrund der Rezidivneigung depressiver Störungen.

    Zusätzlich bestätigte der Psychiater des Regionalen Ärztlichen Dienstes (RAD), med. pract. C._, die Beurteilung des Gutachters, wonach bis Ende 2022 eine "zwar durch psychosoziale Belastungsfaktoren ausgelöste, aber im Verlauf verselbstständigte psychische Störung" vorgelegen habe. Auch der RAD-Arzt Dr. med. D._ hatte bereits vor der Begutachtung das Fortbestehen der depressiven Störung nicht nur auf psychosoziale Faktoren, sondern auch auf ressourcenhemmende Persönlichkeitsfaktoren und depressions-typische kognitive negative Schemata zurückgeführt und das Leiden als chronifiziert bezeichnet. Die Tatsache, dass behandelnde Ärzte das biopsychosoziale Krankheitsmodell anwandten, sei im vorliegenden Fall nicht entscheidend, da Gutachter und RAD den Einfluss der psychosozialen Belastungsfaktoren würdigten und dennoch eine eigenständige, krankheitswertige Erkrankung annahmen.

  2. Zur Interpretation gutachterlicher Aussagen (Erw. 5.3.2): Das Bundesgericht kritisierte, dass die IV-Stelle gutachterliche Aussagen aus dem Zusammenhang riss. Die Feststellung von Dr. med. B.__, es liege "kein anhaltender bzw. teil- oder ganz invalidisierender Gesundheitsschaden" vor, bezog sich explizit auf den Zeitpunkt des Gutachtens, als die depressiven Beschwerden remittiert waren. Dies bedeute nicht, dass zuvor kein zeitlich befristeter Gesundheitsschaden vorgelegen hätte. Ebenso die Aussage, es lägen "keine relevanten handicapierenden Fähigkeitsstörungen vorhanden", wurde vom Gutachter präzisiert mit "keine Fähigkeitsstörungen mehr vorliegen", was im Umkehrschluss das Vorliegen solcher Störungen in der früheren Periode impliziert.

  3. Fazit der Beweiswürdigung (Erw. 5.3.3): Das Bundesgericht befand, dass die IV-Stelle nicht aufzeigen konnte, inwiefern die vorinstanzliche Beweiswürdigung offensichtlich unrichtig sei. Die Verwendung des Wortes "wahrscheinlich" anstelle von "überwiegend wahrscheinlich" durch den Gutachter sei im Kontext seiner überzeugenden Argumentation nicht entscheidend. Verweise der IV-Stelle auf frühere Beschwerdeantworten waren unzulässig.

Das Bundesgericht bestätigte somit die vorinstanzliche Annahme eines Rentenanspruchs für die vom kantonalen Gericht bestimmten Perioden.

V. Kurz-Zusammenfassung der wesentlichen Punkte
  • Massgebendes Recht: Aufgrund der Vollendung des 55. Altersjahres des Versicherten vor dem 1. Januar 2022 finden die alten Bestimmungen des IVG auch nach Inkrafttreten der WEIV Anwendung.
  • Beweiswert des Gutachtens: Das kantonale Gericht durfte sich auf das psychiatrische Gutachten von Dr. med. B.__ stützen. Dessen Einschätzung der Arbeitsunfähigkeit basierte auf einer überzeugenden Würdigung der medizinischen Befunde.
  • Psychosoziale Faktoren vs. Krankheitswertigkeit: Psychosoziale Belastungsfaktoren können eine depressive Störung mitverursachen. Entscheidend ist jedoch, ob sich ein eigenständiger, krankheitswertiger und invalidisierender Gesundheitsschaden entwickelt hat, der die Arbeitsfähigkeit beeinträchtigt.
  • Feststellung des Bundesgerichts: Das Bundesgericht bestätigte, dass die depressive Störung des Beschwerdegegners trotz der Einflüsse psychosozialer Faktoren als eigenständiges Leiden zu qualifizieren war und zu einer relevanten Arbeitsunfähigkeit führte, die sich erst ab Januar 2023 zu verbessern begann.
  • Beweiswürdigung: Die vorinstanzliche Beweiswürdigung wurde vom Bundesgericht als nicht offensichtlich unrichtig befunden. Die IV-Stelle konnte keine Gründe aufzeigen, die ein Abweichen von der ärztlichen Einschätzung rechtfertigen würden.
  • Ergebnis: Die Beschwerde der IV-Stelle wurde abgewiesen, und der vom kantonalen Versicherungsgericht zugesprochene Rentenanspruch für die entsprechenden Perioden wurde bestätigt.