Detaillierte Zusammenfassung des Urteils des Schweizerischen Bundesgerichts 7B_993/2024, 7B_994/2024 vom 7. Oktober 2025
Parteien:
* Beschwerdeführer: A._ (Verwaltungsrat von B._ SA) und B._ SA (Unternehmen).
* Beschwerdegegnerin (Intimée): C._ S.p.A.
* Weitere Beteiligte: Ministère public de la République et canton de Genève (Staatsanwaltschaft).
Streitgegenstand: Qualität der Parteistellung als Privatklägerschaft (Parte plaignante).
I. Sachverhalt und Verfahrensgang
Die vorliegenden Beschwerden betreffen die Frage der Parteistellung der C._ S.p.A. in einer gegen A._ und B.__ SA geführten Strafuntersuchung des Genfer Ministère public.
- Eröffnung der Untersuchung: Am 15. Mai 2023 eröffnete die Staatsanwaltschaft Genf, gestützt auf eine Strafanzeige der C._ S.p.A., eine Untersuchung gegen B._ SA (vertreten durch A._ und D._) wegen des Verdachts des Missbrauchs von Vertrauen (Art. 138 StGB), Betrugs (Art. 146 StGB), ungetreuer Geschäftsbesorgung (Art. 158 StGB) und Urkundenfälschung (Art. 251 StGB). Die Vorwürfe stehen im Zusammenhang mit einer umfassenden Verbriefung von Forderungen, die B.__ SA zwischen 2018 und 2023 in Genf durchgeführt haben soll.
- Ermittlungsmassnahmen und Aktenzugang: Am 11. Mai 2023 wurde bei B._ SA eine Hausdurchsuchung durchgeführt, bei der 34 physische Dossiers und der firmeneigene Server beschlagnahmt wurden. Am 21. Juni 2023 erhielt C._ S.p.A. eine digitalisierte Kopie der beschlagnahmten "Papier"-Unterlagen.
- Entscheide des Ministère public:
- Am 26. Juni 2023 lehnte die Staatsanwaltschaft ein Gesuch von B._ SA ab, den Aktenzugang von C._ S.p.A. einzuschränken und dieser die Geheimhaltung aufzuerlegen. Ein Rekurs von B.__ SA gegen diese Anordnung wurde am 13. November 2023 von der Chambre pénale de recours abgewiesen und nicht weitergezogen.
- Am 16. Januar 2024 verweigerte die Staatsanwaltschaft der C.__ S.p.A. die Parteistellung als Privatklägerschaft (Ziff. 1 des Dispositivs) und ordnete ihr unter Hinweis auf Art. 292 StGB an, die in ihrem Besitz befindlichen Aktenkopien zurückzugeben bzw. diese nicht zu externen Zwecken zu verwenden (Ziff. 2 des Dispositivs).
- Entscheid der kantonalen Beschwerdeinstanz: Mit Urteil vom 24. Juli 2024 hiess die Chambre pénale de recours der Cour de justice de Genève die Beschwerde der C._ S.p.A. gegen die staatsanwaltschaftliche Verfügung vom 16. Januar 2024 teilweise gut. Sie hob Ziff. 1 des Dispositivs auf, soweit damit der C._ S.p.A. die Parteistellung im Zusammenhang mit den Vorwürfen des Betrugs (Art. 146 StGB) und der Urkundenfälschung (Art. 251 StGB) verweigert worden war. Zudem hob sie Ziff. 2 des Dispositivs (Rückgabe und Nichtverwendung der Akten) auf.
- Anrufung des Bundesgerichts: A._ und B._ SA erhoben gegen das Urteil der Chambre pénale de recours vom 24. Juli 2024 je eine Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht. Sie beantragten im Wesentlichen, die Verfügung der Staatsanwaltschaft vom 16. Januar 2024 vollumfänglich zu bestätigen, d.h. der C.__ S.p.A. die Parteistellung vollständig zu verweigern.
II. Rechtliche Würdigung durch das Bundesgericht
Das Bundesgericht hat die beiden Beschwerden vereinigt und ausschliesslich die Frage der Zulässigkeit geprüft, da es sich bei der angefochtenen kantonalen Entscheidung um einen Zwischenentscheid handelt.
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Charakter des angefochtenen Entscheids als Zwischenentscheid: Das Bundesgericht stellte fest, dass die Anfechtung eines Entscheids über die teilweise Anerkennung der Parteistellung als Privatklägerschaft einen Zwischenentscheid darstellt, für den Art. 92 BGG (betreffend Zuständigkeit und Ausstandsbegehren) nicht anwendbar ist. Gemäss Art. 93 Abs. 1 BGG ist eine Beschwerde gegen solche Zwischenentscheide nur unter spezifischen Voraussetzungen zulässig.
- Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG: wenn der Entscheid einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil bewirken kann.
- Art. 93 Abs. 1 lit. b BGG: wenn die Gutheissung der Beschwerde sofort einen Endentscheid herbeiführen und so ein aufwändiges Beweisverfahren erspart werden kann.
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Unzureichende Begründung (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG): Das Bundesgericht rügte einleitend, dass die Beschwerdeführer in ihren Eingaben teilweise auf frühere kantonale Eingaben verwiesen haben, ohne den relevanten Inhalt dieser früheren Schriftstücke in der vorliegenden Bundesgerichtsbeschwerde darzulegen. Solche pauschalen Verweise genügen den Begründungsanforderungen von Art. 42 BGG nicht.
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Irreparabler Nachteil (Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG):
- Grundsatz: Das Bundesgericht hob hervor, dass ein Entscheid, der einem Dritten die Parteistellung als Privatklägerschaft in einem Strafverfahren zubilligt, dem Beschuldigten in der Regel keinen irreparablen Nachteil im Sinne von Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG zufügt. Der Umstand, dass man sich im Verfahren mit einer weiteren Partei auseinandersetzen muss, stellt keinen solchen Nachteil dar. Auch der blosse Zugang zu den Akten stellt eine inhärente potenzielle Unannehmlichkeit eines Strafverfahrens dar, die für die Annahme eines irreparablen Nachteils nicht ausreicht (Verweis auf BGE 147 IV 188 E. 1.3.2; 144 IV 127 E. 1.3.1; und weitere aktuelle BGE).
- Doktrinäre Ausnahme (Garbarski): Eine Ausnahme vom Grundsatz wird in der Doktrin diskutiert (unter Verweis auf GARBARSKI, Le lésé et la partie plaignante en procédure pénale, SJ 2013 II S. 139 f.; SJ 2017 II S. 140 ff.). Ein irreparabler Nachteil könnte vorliegen, wenn der Beschuldigte konkret darlegen kann, dass die angebliche Privatklägerschaft Informationen aus den Strafakten missbräuchlich zu ihrem Vorteil nutzen könnte, z.B. in einem parallelen Zivilverfahren, für eine Medienkampagne oder zur unzulässigen Ausbeutung von Geschäftsgeheimnissen.
- Argumente der Beschwerdeführer: Die Beschwerdeführer beriefen sich auf diese doktrinäre Ausnahme. Sie machten geltend, es bestehe ein irreparabler Nachteil, weil die Beschwerdegegnerin Informationen aus den Strafakten missbräuchlich verwenden würde, insbesondere Geschäftsgeheimnisse über die Beziehungen der B._ SA zu den Akteuren der zugrunde liegenden Verbriefungstransaktionen. Die Beschwerdegegnerin versuche, sich in parallel geführten Zivilverfahren im Ausland und laufenden Verhandlungen Vorteile zu verschaffen, und sei bereits in einem italienischen Strafverfahren ausgeschlossen worden. Zudem befürchtete A._ persönlichen und reputativen Schaden durch eine Medienkampagne oder Rufschädigung gegenüber Dritten.
- Entgegnung des Bundesgerichts: Das Bundesgericht wies die Argumentation zurück. Es hielt fest, dass die Beschwerdegegnerin bereits eine Kopie der am 11. Mai 2023 beschlagnahmten "Papier"-Unterlagen erhalten hatte (vgl. Sachverhalt lit. A). Die Beschwerdeführer legten nicht dar, inwiefern der angefochtene Entscheid sie einem neuen irreparablen Nachteil aussetze, der nicht bereits unabhängig vom Ausgang der vorliegenden Auseinandersetzung bestanden hätte. Bezüglich der digitalen Daten auf dem Server, die ebenfalls beschlagnahmt wurden, sei es unbestritten, dass diese noch einem Sortierverfahren durch die Staatsanwaltschaft unterlägen, bevor sie den Akten beigefügt würden. Die Beschwerdeführer hätten nicht konkret dargelegt, welche Informationen aus diesen digitalen Daten von der Beschwerdegegnerin missbräuchlich genutzt werden könnten, und unterschieden in ihrer Argumentation nicht zwischen den bereits zugänglichen Papierakten und den noch zu sichtenden digitalen Daten. Die Staatsanwaltschaft führe das Sortierverfahren gerade auch zum Schutz berechtigter Geheimhaltungsinteressen und zur Verhinderung von Missbräuchen (Art. 102 Abs. 1 StPO) durch.
- Schlussfolgerung: Die Beschwerdeführer konnten das Bestehen eines irreparablen Nachteils im Sinne von Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG nicht glaubhaft machen. Solche Nachteile könnten bei Bedarf auch durch spätere Schutzmassnahmen (Art. 73 Abs. 2, 102 Abs. 1 und 108 StPO) behoben werden.
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Unmittelbarer Endentscheid zur Vermeidung eines aufwändigen Beweisverfahrens (Art. 93 Abs. 1 lit. b BGG):
- Grundsatz: Gemäss Art. 93 Abs. 1 lit. b BGG ist ein Zwischenentscheid anfechtbar, wenn die Gutheissung der Beschwerde sofort einen End- oder Teildentscheid herbeiführen und so ein aufwändiges Beweisverfahren erspart werden kann. Diese Bestimmung wird restriktiv ausgelegt, insbesondere in Strafsachen (Verweis auf BGE 134 III 426 E. 1.3.2; 133 IV 288 E. 3.2).
- Argumente der Beschwerdeführer: Die Beschwerdeführer führten an, die Gutheissung ihrer Beschwerden würde zu einem sofortigen Teildentscheid führen, der die Beteiligung der Beschwerdegegnerin am Strafverfahren beenden und ein langwieriges und kostspieliges Beweisverfahren ersparen würde. Dies würde der Staatsanwaltschaft ersparen, italienische Bestimmungen zum Mandatsvertrag (Art. 1703 ff. CC it.) ermitteln zu müssen. Zudem würden Schutzmassnahmen (Art. 73 Abs. 2, 102 Abs. 1, 108 StPO) und das Sortierverfahren der digitalen Daten mit den damit verbundenen möglichen Rechtsmitteln überflüssig. Die Ausschliessung der Beschwerdegegnerin in einem komplexen internationalen Finanzfall würde die Zusammenarbeit der Beschwerdeführerin fördern und die Untersuchung erheblich vereinfachen.
- Entgegnung des Bundesgerichts: Das Bundesgericht bezweifelte, ob die Beendigung der Parteistellung der Beschwerdegegnerin als "final" im Sinne von Art. 93 Abs. 1 lit. b BGG angesehen werden könne, da das Strafverfahren selbst nicht beendet würde. Dies liess es jedoch offen. Es stellte fest, dass die vorgebrachten Elemente nicht ausreichen, um die zweite Bedingung des Art. 93 Abs. 1 lit. b BGG zu erfüllen. Die Beschwerdeführer konnten insbesondere nicht darlegen, dass sich die Untersuchung "erheblich" von einem gewöhnlichen Beweisverfahren in anderen Wirtschaftsstraffällen unterscheiden würde. Die Erwähnung einer Rechtshilfeanfrage an Luxemburg genügte nicht, um von "fernen Ländern" im Sinne der Rechtsprechung zu sprechen. Die Ermittlung italienischen Mandatsrechts, welches für den Schweizer Richter leicht zugänglich sei, reiche ebenfalls nicht aus (Verweis auf BGE 4A_288/2021 E. 2.3.2). Schliesslich sei nicht dargelegt, dass allfällige Schutzmassnahmen ein solches Ausmass erreichen würden, dass sie den sofortigen Weiterzug an das Bundesgericht rechtfertigten.
- Schlussfolgerung: Die Voraussetzungen von Art. 93 Abs. 1 lit. b BGG sind nicht erfüllt.
III. Urteil
Mangels Nachweises der Voraussetzungen von Art. 93 Abs. 1 lit. a und b BGG erklärte das Bundesgericht die Beschwerden von A._ und B._ SA als unzulässig. Die Gerichtskosten wurden den Beschwerdeführern auferlegt.
Kurze Zusammenfassung der wesentlichen Punkte:
Das Bundesgericht hat die Beschwerden gegen einen kantonalen Zwischenentscheid betreffend die Parteistellung einer Privatklägerschaft als unzulässig erklärt. Die Beschwerdeführer konnten weder einen irreparablen Nachteil (Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG) nachweisen, da die Beschwerdegegnerin bereits Zugang zu Teilen der Akten hatte und neue Nachteile nicht konkret dargelegt wurden, noch konnten sie glaubhaft machen, dass die Gutheissung der Beschwerde sofort einen Endentscheid herbeiführen und ein aufwändiges Beweisverfahren ersparen (Art. 93 Abs. 1 lit. b BGG) würde. Die blosse Notwendigkeit der Ermittlung ausländischen Rechts oder die Durchführung von Schutzmassnahmen wurde nicht als ausreichend erachtet, um die strengen Anforderungen an die Zulässigkeit von Beschwerden gegen Zwischenentscheide im Strafrecht zu erfüllen.