Zusammenfassung von BGer-Urteil 9C_321/2025 vom 23. Oktober 2025

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Detaillierte Zusammenfassung des Urteils 9C_321/2025 vom 23. Oktober 2025 Parteien und Gegenstand

Beschwerdeführerin: A._ AG, eine Holdinggesellschaft mit statutarischem Sitz in U._ (Kanton Zug). Beschwerdegegner: Kantonales Steueramt Zürich. Weitere Verfahrensbeteiligte: Steuerverwaltung des Kantons Zug. Gegenstand: Steuerhoheitsentscheid betreffend Staats- und Gemeindesteuern des Kantons Zürich für die Steuerperioden 2016 bis 2020. Es geht um die Frage der interkantonalen Doppelbesteuerung infolge der umstrittenen Festlegung des Steuerdomizils bzw. des Ortes der tatsächlichen Verwaltung der A.__ AG.

Sachverhalt

Die A._ AG wurde 2007 gegründet und bezweckt als Holdinggesellschaft den Erwerb, die Verwaltung und die Veräusserung von Beteiligungen. Ihr statutarischer Sitz befindet sich in der Stadt U._ (Kanton Zug). Sie ist Muttergesellschaft mehrerer Unternehmen, darunter die E._ AG, die als operativ tätiges Beratungsunternehmen Geschäftsräume und Mitarbeitende in V._ (Gemeinde W._, Kanton Zürich) unterhält. F._ amtet als Verwaltungsratspräsident der A._ AG und ihrer Tochtergesellschaften, einschliesslich der E._ AG, bei der er in einem Vollzeitpensum angestellt ist. F._ wohnt in X._ (Kanton Zürich), ebenso wie ein weiteres Verwaltungsratsmitglied der A._ AG, G._.

Im Juni 2021 leitete das Kantonale Steueramt Zürich (KStA ZH) Abklärungen bezüglich einer möglichen unbeschränkten Steuerpflicht der A._ AG im Kanton Zürich ein und forderte Geschäftsunterlagen für die Jahre 2016 bis 2020 an. Gleichzeitig wurde die Steuerverwaltung des Kantons Zug über die Prüfung informiert und um Zuwarten mit den Einschätzungen gebeten. Die A._ AG verweigerte weitgehend die Mitwirkung, da sie sich aufgrund ihres statutarischen Sitzes in Zug nicht der zürcherischen Steuerhoheit unterstellt sah.

Das KStA ZH bejahte mit Steuerhoheitsentscheid vom 1. November 2021 (und nach einer Einspracheverhandlung im Oktober 2023 erneut) eine Steuerpflicht der A._ AG in der zürcherischen Gemeinde W._ ab der Steuerperiode 2016. Rekurse und Beschwerden der A._ AG an das Steuerrekursgericht und das Verwaltungsgericht des Kantons Zürich blieben erfolglos. Gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Zürich vom 2. April 2025 reichte die A._ AG Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beim Bundesgericht ein. Sie beantragte die Aufhebung des vorinstanzlichen Urteils oder alternativ die Aufhebung der definitiven Veranlagungen des Kantons Zug für die Jahre 2016 bis 2019.

Rechtliche Grundlagen und Beweismass
  1. Persönliche Zugehörigkeit und Steuerpflicht juristischer Personen (Art. 20 Abs. 1 StHG): Juristische Personen sind einem Kanton gegenüber persönlich zugehörig und unbeschränkt steuerpflichtig, wenn sich ihr Sitz oder ihre tatsächliche Verwaltung auf dem Gebiet dieses Kantons befindet. Dies ist harmonisiertes kantonales Steuerrecht.

  2. Definition der "tatsächlichen Verwaltung": Die tatsächliche Verwaltung liegt am Ort, wo die Fäden der Geschäftsführung zusammenlaufen, die wesentlichen Unternehmensentscheide fallen, die laufenden Geschäfte im Rahmen des Gesellschaftszwecks besorgt werden und die Gesellschaft den wirklichen, tatsächlichen Mittelpunkt ihrer ökonomischen Existenz hat. Diese ist abzugrenzen von blosser administrativer Verwaltung oder der Kontrolltätigkeit der obersten Organe. Bei Holdinggesellschaften ist die betriebliche Tätigkeit oft auf die Vermögensverwaltung beschränkt, weshalb der Ort der Ausübung dieser vermögensverwaltenden oder administrativen Verrichtungen massgeblich ist. Findet die Geschäftsführung an mehreren Orten statt, ist der Schwerpunkt massgebend (BGE 150 II 321 E. 3.2; Urteile 9C_223/2025 E. 3.2.1; 9C_73/2024 E. 4.1).

  3. Beweismass und Beweislastverteilung:

    • Der statutarische Sitz einer Gesellschaft im Handelsregister begründet eine Vermutung, dass sich dort auch der Schwerpunkt der Geschäftsführung befindet. Der Sitzkanton kann in erster Linie die Steuerhoheit beanspruchen.
    • Macht ein anderer Kanton oder die juristische Person geltend, die tatsächliche Verwaltung befinde sich an einem anderen Ort, müssen die entsprechenden Umstände mit dem Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit dargelegt werden (BGE 150 II 321 E. 3.6.4; Urteil 9C_73/2024 E. 4.2). Gelingt dieser Beweis nicht, trägt die beweisbelastete Partei die Konsequenzen.
    • Die Steuerbehörden tragen grundsätzlich die Beweisführungslast (subjektive Beweislast) für alle relevanten Tatsachen. Dem stehen jedoch Mitwirkungspflichten der steuerpflichtigen Person gegenüber, auch bei Steuerdomizilentscheiden. Eine Verletzung dieser Mitwirkungspflichten kann als Indiz gewertet werden (BGE 148 II 285 E. 3.1.2).
    • Das Bundesgericht ist bei der Feststellung des Sachverhalts grundsätzlich an die vorinstanzlichen Feststellungen gebunden (Art. 105 Abs. 1 BGG), es sei denn, diese sind offensichtlich unrichtig (willkürlich) oder beruhen auf einer Rechtsverletzung (Art. 97 Abs. 1 BGG). Im Bereich der interkantonalen Doppelbesteuerung wird das Novenverbot (Art. 99 Abs. 1 BGG) relativiert, wenn es um Tatsachen oder Beweismittel des Kantons geht, dessen Veranlagung bereits rechtskräftig ist (BGE 139 II 373 E. 1.7; Urteil 9C_73/2024 E. 2.2).
Begründung des Bundesgerichts 1. Zur Zürcher Steuerhoheit (Abweisung der Beschwerde gegen den Kanton Zürich)

Das Bundesgericht bestätigte die vorinstanzliche Feststellung, dass die tatsächliche Verwaltung der A._ AG in den Steuerperioden 2016 bis 2020 im Kanton Zürich, genauer in der Gemeinde W._, stattgefunden hat. Die Vorinstanz hatte folgende Indizien gewürdigt:

  • Verwaltungsratsmitglieder: Zwei der drei zeichnungsberechtigten Verwaltungsräte, darunter der einzelzeichnungsberechtigte Präsident F._ und G._, wohnten im Kanton Zürich.
  • F.__s Rolle und Arbeitsort: F._, Verwaltungsratspräsident der A._ AG und ihrer Tochtergesellschaften, war in einem Vollzeitpensum bei der operativ tätigen Tochtergesellschaft E._ AG angestellt, die ihren Geschäftsräumen und Mitarbeitenden in W._ (Kanton Zürich) hatte. Die Vorinstanz ging davon aus, dass die Geschäfte der A._ AG überwiegend von diesem Ort aus geleitet wurden, an dem F._ quantitativ schwerpunktmässig tätig war.
  • Substanz am statutarischen Sitz: Die A._ AG wies am statutarischen Sitz in U._ kaum Infrastrukturkosten aus, was auf ein reines Briefkastendomizil hindeutete.
  • Fehlende Mitwirkung der Beschwerdeführerin: Die A._ AG hatte im Verfahren keine überprüfbaren Nachweise für eine Geschäftstätigkeit oder Substanz in U._ beigebracht (z.B. Mietvertrag, Spesenabrechnungen, Präsenznachweise der Organe). Die behaupteten geschäftlichen Kontakte blieben vage und unsubstanziiert. Die blosse Verbuchung eines Verwaltungsratshonorars reiche nicht aus, um Personalaufwand oder Geschäftstätigkeit zu belegen.

Das Bundesgericht befand, dass das KStA ZH aufgrund dieser Indizien einen begründeten Anfangsverdacht hatte, der zur Einleitung des Steuerhoheitsverfahrens berechtigte. Die fehlende Mitwirkung der Beschwerdeführerin wurde ihr angelastet. Die vorinstanzliche Würdigung, dass die tatsächliche Verwaltung der Beschwerdeführerin mit überwiegender Wahrscheinlichkeit von W._/ZH aus erfolgte, wurde als willkürfrei erachtet und ist für das Bundesgericht verbindlich (BGE 150 II 321 E. 3.7; Urteil 9C_73/2024 E. 4.5.3). Eine steuerrechtliche Anknüpfung an den Kanton Zug, ausser dem formellen Sitz, war nicht erkennbar. Folglich unterliegt die A._ AG der unbeschränkten Steuerpflicht im Kanton Zürich.

Die Beschwerde gegen den Kanton Zürich wurde daher abgewiesen.

2. Zur interkantonalen Doppelbesteuerung und der "Verwirkungseinrede" des Kantons Zug (Gutheissung der Beschwerde gegen den Kanton Zug)

Da die tatsächliche Verwaltung der A._ AG im Kanton Zürich liegt und nicht im Sitzkanton Zug, wird der Besteuerungsanspruch des Kantons Zug nach den Grundsätzen des Bundesrechts über das Verbot der interkantonalen Doppelbesteuerung (Art. 127 Abs. 3 BV) durch den Besteuerungsanspruch des Kantons Zürich verdrängt. Der Sitzkanton Zug könnte die A._ AG nur noch besteuern, wenn diese dort ein Nebensteuerdomizil (z.B. Betriebsstätte oder Grundstück) unterhalten würde, was hier nicht der Fall ist (BGE 150 II 321 E. 3.1; Urteil 9C_73/2024 E. 5.2).

  • Aufhebung der zugerischen Veranlagungen: Aus diesem Grund sind die rechtskräftigen definitiven Veranlagungsverfügungen der Steuerverwaltung des Kantons Zug für die Jahre 2016, 2017, 2018 und 2019 aufzuheben und die bereits entrichteten Steuern zurückzuerstatten. Die provisorische Veranlagung 2020 wird mangels Rechtskraft nicht aufgehoben.

  • Zur Verwirkungseinrede des Kantons Zug: Die Steuerverwaltung des Kantons Zug berief sich auf eine "Verwirkungseinrede", wonach die A._ AG ihr Beschwerderecht gegenüber dem Kanton Zug wegen treuwidrigen Verhaltens verwirkt habe. Als Gründe wurden die bewusste Sitzwahl in U._, zwei innerkantonale Sitzwechsel innerhalb U.__ nach Beginn der zürcherischen Abklärungen sowie die mangelnde Mitwirkung im Steuerhoheitsverfahren genannt. Das Bundesgericht wies diese Einrede zurück. Gemäss seiner Rechtsprechung (BGE 149 II 354 E. 4.4.2) kann der Anspruch auf Beseitigung interkantonaler Doppelbesteuerung nur bei qualifiziert missbräuchlichem Verhalten verloren gehen und nur, wenn der betroffene Kanton zugleich ein legitimes Interesse daran hat, Steuern einzubehalten, obschon er keinen Steueranspruch hat. Das Bundesgericht sah die Hürde des "qualifizierten Missbrauchs" hier nicht als erfüllt an. Das Verhalten der Beschwerdeführerin sei zwar "befremdlich", aber die Interessen des Kantons Zug würden durch die Rückerstattung der ohnehin nicht beträchtlichen Steuern nicht "in spezieller Art beeinträchtigt". Eine Verwirkung des materiellen Steueranspruchs ist daher abzulehnen.

3. Kosten- und Entschädigungsfolgen

Obwohl die Beschwerdeführerin teilweise obsiegte (gegen den Kanton Zug) und teilweise unterlag (gegen den Kanton Zürich), legte das Bundesgericht ihr aufgrund ihres Verhaltens die gesamten Gerichtskosten auf und sprach keine Parteientschädigungen aus. Dies erfolgte als Reaktion auf die "befremdliche" Vorgehensweise der Beschwerdeführerin, insbesondere die zweimalige Sitzverlegung innerhalb U.__ nach Bekanntwerden der zürcherischen Abklärungen und die mangelnde Mitwirkung. Da dem Kanton Zug dadurch kein beträchtlicher Mehraufwand entstanden ist, wurde er nicht zur Zahlung einer Entschädigung verpflichtet.

Querverweise auf ähnliche Entscheidungen

Das Urteil stützt sich massgeblich auf neuere Rechtsprechung des Bundesgerichts zur tatsächlichen Verwaltung und interkantonalen Doppelbesteuerung, insbesondere:

  • BGE 150 II 321 (Urteil 2C_419/2023 vom 10. Juli 2024): Dieses Urteil klärt das Beweismass der "überwiegenden Wahrscheinlichkeit" für die Feststellung der tatsächlichen Verwaltung und die Beweislastverteilung. Es wird mehrfach zitiert und ist grundlegend für die vorliegende Entscheidung.
  • Urteil 9C_73/2024 vom 26. Februar 2025 (zur Publikation vorgesehen): Dieses Urteil präzisiert, dass der Wohnsitz des Geschäftsführers kein subsidiäres Steuerdomizil begründet und dass die Existenz kantonsfremder Substanz den Steueranspruch des Kantons, in dem die tatsächliche Verwaltung schwergewichtig stattfindet, nicht schadet. Zudem wird die Zulässigkeit der Anfechtung rechtskräftiger Veranlagungen des anderen Kantons bekräftigt.
  • BGE 149 II 354 (Urteil 2C_64/2023 vom 3. November 2023): Dieser Entscheid setzt hohe Hürden für die Annahme einer materiell-rechtlichen "Verwirkung des Schutzes des Doppelbesteuerungsverbots" aufgrund widersprüchlichen oder missbräuchlichen Verhaltens der steuerpflichtigen Person. Die vorliegende Abweisung der Verwirkungseinrede des Kantons Zug beruht direkt auf dieser Rechtsprechung.
  • Urteile 9C_558/2024 und 9C_424/2024 (beide vom 29. April 2025): Diese Urteile liefern spezifische Ausführungen zur tatsächlichen Verwaltung bei Holdinggesellschaften, welche auch im vorliegenden Fall relevant waren.

Diese Querverweise verdeutlichen, dass das vorliegende Urteil die bestehende Rechtsprechung konsolidiert und in einem komplexen Fall der interkantonalen Doppelbesteuerung konsequent anwendet. Es präzisiert die Anforderungen an den Nachweis der tatsächlichen Verwaltung, die eingeschränkten Möglichkeiten zur Berufung auf die Verwirkungseinrede und die Auswirkungen von Mitwirkungspflichtverletzungen auf die Kostenverteilung.

Kurze Zusammenfassung der wesentlichen Punkte

Das Bundesgericht hat im Fall der A._ AG entschieden, dass die tatsächliche Verwaltung der Holdinggesellschaft für die Steuerperioden 2016-2020 im Kanton Zürich (Gemeinde W._) und nicht am statutarischen Sitz in U._ (Kanton Zug) lag. Dies wurde aufgrund des Wohnorts des Verwaltungsratspräsidenten und seiner Anstellung bei einer operativen Tochtergesellschaft in Zürich, sowie der fehlenden Substanz und Mitwirkung der Holding in Zug, mit überwiegender Wahrscheinlichkeit festgestellt. Infolge dieser Feststellung wurde die Beschwerde der A._ AG gegen den Kanton Zürich abgewiesen, womit die zürcherische Steuerpflicht bestätigt wurde. Gleichzeitig wurden die definitiven Steuerveranlagungen des Kantons Zug für die fraglichen Jahre aufgehoben und eine Rückerstattung der Steuern angeordnet, da der Besteuerungsanspruch des Sitzkantons Zug durch denjenigen des Kantons der tatsächlichen Verwaltung (Zürich) im Sinne der interkantonalen Doppelbesteuerung verdrängt wird. Eine vom Kanton Zug geltend gemachte "Verwirkungseinrede" aufgrund treuwidrigen Verhaltens der A.__ AG wurde mangels "qualifiziert missbräuchlichen Verhaltens" zurückgewiesen. Die gesamten Gerichtskosten wurden der Beschwerdeführerin auferlegt, wobei jedoch keine Parteientschädigungen gesprochen wurden.