Zusammenfassung von BGer-Urteil 8C_663/2024 vom 29. Oktober 2025

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Detaillierte Zusammenfassung des Urteils des Schweizerischen Bundesgerichts 8C_663/2024 vom 29. Oktober 2025

1. Parteien und Gegenstand

In diesem Verfahren standen sich A.__ (Beschwerdeführer), vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Kaspar Gehring, und die IV-Stelle des Kantons Zürich (Beschwerdegegnerin) gegenüber. Gegenstand der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten war die Dauer des Anspruchs auf eine Invalidenrente im Rahmen der Invalidenversicherung (IV). Konkret wurde die Befristung der dem Beschwerdeführer zugesprochenen ganzen Rente auf den Zeitraum vom 1. Mai 2016 bis 31. März 2021 angefochten.

2. Sachverhalt und Verfahrensgeschichte

Der 1970 geborene A.__, ein ehemaliger Manager mit einem MBA-Abschluss, meldete sich 2012 erstmals bei der IV an, was damals aufgrund fehlender dauerhafter Arbeitsunfähigkeit abgelehnt wurde. Eine erneute Anmeldung erfolgte im November 2015 aufgrund wiederholter depressiver Episoden. Die IV-Stelle führte medizinische und erwerbliche Abklärungen durch, inklusive Arbeitstraining und Arbeitsvermittlung. Nachdem die Arbeitsvermittlung 2018 vorübergehend eingestellt worden war, entschied das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich im Januar 2019, dass der Beschwerdeführer weiterhin Anspruch darauf habe. Trotz erneuter Bemühungen konnte keine Arbeitsstelle gefunden werden, woraufhin die IV-Stelle die Abweisung des Leistungsbegehrens in Aussicht stellte.

Nach einem Einwand des Beschwerdeführers wurde ein Gutachten von Prof. Dr. med. C.__, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, vom 24. März 2023 eingeholt. Gestützt darauf sprach die IV-Stelle dem Beschwerdeführer mit Verfügung vom 13. Dezember 2023 eine ganze Rente zu, befristete diese jedoch auf den 31. März 2021. Das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich bestätigte diese Befristung mit Urteil vom 20. September 2024. Der Beschwerdeführer begehrte mit seiner Beschwerde an das Bundesgericht die Aufhebung dieser Befristung und die Zusprechung einer Rente auch für die Zeit ab April 2021.

3. Massgebende Rechtsgrundlagen und Rechtsprechung

Das Bundesgericht verwies eingangs auf die unbestrittenen massgeblichen Bestimmungen zur Erwerbsunfähigkeit (Art. 7 ATSG) und Invalidität (Art. 8 Abs. 1 ATSG i.V.m. Art. 4 Abs. 1 IVG) sowie auf die ständige Rechtsprechung zum Beweiswert und der Beweiswürdigung medizinischer Berichte und Gutachten (BGE 143 V 124 E. 2.2.2; 134 V 231 E. 5.1; 125 V 351 E. 3a).

Hervorgehoben wurde die Bedeutung des strukturierten Beweisverfahrens gemäss BGE 141 V 281 für psychische Leiden (BGE 143 V 409; 143 V 418). Dieses Verfahren erfordert die Einschätzung des tatsächlich erreichbaren Leistungsvermögens anhand von Indikatoren in den Kategorien "funktioneller Schweregrad" (Gesundheitsschädigung, Persönlichkeit, sozialer Kontext) und "Konsistenz" (Aktivitätenniveau, Leidensdruck), unter Berücksichtigung von Belastungsfaktoren und Kompensationspotenzialen (Ressourcen).

Besondere Aufmerksamkeit widmete das Bundesgericht der in BGE 148 V 49 E. 6.2.2 definierten Anforderung, wonach eine leicht- bis mittelgradige depressive Störung ohne nennenswerte psychiatrische Komorbiditäten im Allgemeinen nicht als schwere psychische Krankheit gilt. In solchen Fällen müssten gewichtige Gründe vorliegen, um dennoch auf eine invalidisierende Erkrankung zu schliessen, und medizinische Sachverständige müssen nachvollziehbar darlegen, warum trotz an sich guter Therapierbarkeit funktionelle Leistungseinschränkungen resultieren. Würden solche Erklärungen fehlen, könnten die medizinisch-psychiatrischen Folgenabschätzungen rechtlich als nicht massgeblich erachtet werden.

Betreffend das Verhältnis von Recht und Medizin wurde betont, dass die Zusammenarbeit im Rahmen des strukturierten Beweisverfahrens der Feststellung einer rechtserheblichen Arbeitsunfähigkeit dient (BGE 141 V 281 E. 5.2.1 und E. 5.2.3). Eine eigentliche juristische Parallelprüfung sei unzulässig, jedoch könnten rechtsanwendende Behörden aus triftigen Gründen von ärztlichen Feststellungen abweichen, insbesondere wenn die Annahme einer Arbeitsunfähigkeit unter dem Gesichtspunkt von Konsistenz und materieller Beweislast nicht ausreichend gesichert ist (BGE 145 V 361 E. 4.3). Die Beachtung des Untersuchungsgrundsatzes und der Beweiswürdigungsregeln (Art. 61 lit. c ATSG) ist eine Rechtsfrage, während die konkreten Feststellungen zum Gesundheitszustand und zur Arbeitsfähigkeit Sachverhaltsfragen darstellen. Ob und in welchem Umfang ärztliche Feststellungen anhand der rechtserheblichen Indikatoren auf Arbeitsunfähigkeit schliessen lassen, ist hingegen eine vom Bundesgericht frei überprüfbare Rechtsfrage (BGE 148 V 281 E. 7).

4. Erwägungen der Vorinstanz und Rügen des Beschwerdeführers

Das kantonale Sozialversicherungsgericht stützte sich in seiner Beurteilung auf das Gutachten von Prof. C.__, kam jedoch zum Schluss, dass den dort benannten psychischen Gesundheitsbeeinträchtigungen ab Januar 2021 aus rechtlicher Sicht keine Einschränkung der Arbeitsfähigkeit mehr zugeschrieben werden könne. Die Vorinstanz argumentierte unter Verweis auf BGE 148 V 49 E. 6.2.2, dass bei leicht- bis mittelgradigen depressiven Störungen gewichtige Gründe für eine invalidisierende Erkrankung vorliegen müssten, die hier jedoch weder vom Gutachter aufgezeigt wurden noch aus den Akten ersichtlich seien. Sie ging von "schwach ausgeprägten diagnoserelevanten Befunden" aus, verneinte psychiatrische oder körperliche Komorbiditäten und interpretierte die Pflege sozialer Kontakte und Aktivitäten als Hinweis auf vorhandene Ressourcen und Zumutbarkeit einer Erwerbstätigkeit. Folglich wich sie von der gutachterlichen Einschätzung ab und ging ab Januar 2021 von einer erhaltenen Arbeitsfähigkeit aus.

Der Beschwerdeführer rügte daraufhin eine unzulässige juristische Parallelprüfung durch die Vorinstanz und eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör, da die Rentenverfügung mit einer anderen Begründung geschützt worden sei, ohne ihm Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben zu haben.

5. Beurteilung durch das Bundesgericht

Das Bundesgericht gab dem Beschwerdeführer Recht.

5.1. Analyse des Gutachtens von Prof. Dr. med. C.__: Das Gericht stellte fest, dass Prof. C._ in seinem Gutachten vom 24. März 2023 eine rezidivierende depressive Störung (aktuell remittiert, aber anamnestisch wiederholt schwere Episoden) diagnostizierte, mit Verdacht auf hypomane Episoden und eine bipolare affektive Störung (Typ II) sowie eine akzentuierte Persönlichkeit als Differenzialdiagnose. Der Gutachter attestierte ab 2015 eine vollständige Arbeitsunfähigkeit in der angestammten Tätigkeit. Seit 2022 sei in einer angepassten Beschäftigung von einer 64%igen Arbeitsfähigkeit auszugehen. Er betonte, dass eine Remission nicht bedeute, dass aktuell keine psychische Störung vorliege, und verwies auf immer wieder aufgetretene schwere depressive Episoden im Längsschnitt. Die seit 2022 beim IT-Dienstleister F._ AG ausgeübte, speziell für den Beschwerdeführer geschaffene und angepasste Stelle sowie die Lithium-Behandlung hätten zu einer deutlichen Stabilisierung geführt. Trotzdem ergab das durchgeführte Mini-ICF-APP leichte bis erhebliche Beeinträchtigungen im Alltag, insbesondere bei der Planung, Strukturierung, Flexibilität und Umstellungsfähigkeit.

5.2. Kritik an der Vorinstanz: Das Bundesgericht bestätigte, dass Prof. C._ seine Arbeitsfähigkeitsschätzung unter Beachtung der massgebenden Indikatoren gemäss BGE 141 V 281 hinreichend und nachvollziehbar begründet hat. Der Gutachter habe den Zusammenhang zwischen den Befunden (gedrückte Stimmung, Interessensverlust, Antriebsverminderung, Konzentrationsschwierigkeiten, vermindertes Selbstwertgefühl, etc.), den krankheitsbedingten Fähigkeitsbeeinträchtigungen (erheblich eingeschränkte Planungs- und Strukturierungsfähigkeit, Flexibilität, Umstellungsfähigkeit, mässige Widerstands- und Durchhaltefähigkeit) und den funktionellen Einschränkungen (verminderte Belastbarkeit, starker sozialer Rückzug) schlüssig dargelegt. Die Konsistenzprüfung ergab keine Inkonsistenzen, und die Drittauskünfte des Vorgesetzten bestätigten die Befunde. Auch die vorhandenen Ressourcen (Ausbildung, Fachwissen, Arbeitsmotivation) seien vom Experten berücksichtigt worden. Das Bundesgericht kam zum Schluss, dass Prof. C._ seiner Aufgabe als psychiatrischer Experte überzeugend nachgekommen sei und kein Anlass bestand, seiner medizinisch-psychiatrischen Folgenabschätzung die rechtliche Massgeblichkeit zu versagen.

Das kantonale Gericht habe übersehen, dass Prof. C.__ durchwegs von einer erheblichen krankheitsbedingten Beeinträchtigung ausgegangen sei und explizit betont habe, dass die Remission nicht als Fehlen einer psychischen Störung zu interpretieren sei. Der Gutachter habe trotz diagnostischer Unsicherheiten (rezidivierende depressive Störung vs. bipolare Störung Typ II, akzentuierte Persönlichkeit) nachvollziehbar aufgezeigt, dass funktionelle Leistungseinschränkungen persistieren, die sich auch nach der Stabilisierung des Gesundheitszustandes in relevantem Ausmass auf die Arbeitsfähigkeit auswirken – und dies im Unterschied zu den in BGE 148 V 49 erwähnten Beschwerdebildern. Die Annahme "schwach ausgeprägter Befunde" durch die Vorinstanz sei daher unzutreffend.

5.3. Fazit zur Arbeitsfähigkeit und Invaliditätsbemessung: Gestützt auf das Gutachten ist davon auszugehen, dass dem Beschwerdeführer die angestammte Tätigkeit als Quality Manager und Financial Analyst bei einer Bank nicht mehr zumutbar ist. Es bestand eine 100%ige Arbeitsunfähigkeit in jeglicher Beschäftigung ab 2015. Eine 64%ige Arbeitsfähigkeit in einer leidensangepassten Beschäftigung ist erst ab dem Stellenantritt bei der F.__ AG im Januar 2022 (und der damit sowie mit der Lithium-Behandlung einhergegangenen Stabilisierung) gegeben. Eine Einstellung der Rente per Ende März 2021 fällt daher ausser Betracht.

Das Bundesgericht rügte den Verzicht des kantonalen Gerichts auf einen Einkommensvergleich als Bundesrechtsverletzung, da eine der ehemaligen Tätigkeit entsprechende Arbeit nicht mehr zumutbar ist. Auch die von der IV-Stelle für den Einkommensvergleich herangezogenen Vergleichswerte wurden als unzutreffend kritisiert, da das Valideneinkommen nicht seinem ursprünglichen Ressourcenprofil entsprach und unklar sei, ob der Beschwerdeführer seine Leistungsfähigkeit in der aktuellen Tätigkeit voll ausschöpfe.

6. Entscheid und Rückweisung

Das Bundesgericht hiess die Beschwerde teilweise gut, hob das vorinstanzliche Urteil und die Verfügung der IV-Stelle auf und wies die Sache zur Neufestsetzung des Rentenanspruchs und zur Invaliditätsbemessung an die IV-Stelle zurück. Die Verwaltung muss bei der Eruierung des Valideneinkommens prüfen, welche Beschäftigung der Beschwerdeführer im Gesundheitsfall überwiegend wahrscheinlich ausüben würde, unter Berücksichtigung seiner Ausbildung und Berufserfahrung. Die Frage der zulässigen Noven (MBA-Diplom) und der geltend gemachten Gehörsverletzung wurde aufgrund der Rückweisung als gegenstandslos erachtet.

7. Kosten und Entschädigung

Die Rückweisung der Sache an die Verwaltung zur weiteren Abklärung und Neuverfügung gilt als vollständiges Obsiegen des Beschwerdeführers. Die Gerichtskosten von Fr. 800.- wurden der Beschwerdegegnerin auferlegt. Diese muss den anwaltlich vertretenen Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 3'000.- entschädigen. Die Sache wurde zudem zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des kantonalen Gerichtsverfahrens an die Vorinstanz zurückgewiesen.

Kurze Zusammenfassung der wesentlichen Punkte:
  1. Falsche Befristung der Rente: Die Befristung der Invalidenrente bis Ende März 2021 durch die IV-Stelle und das kantonale Gericht war unrechtmässig. Eine Stabilisierung des Gesundheitszustandes und damit eine Reduktion der Arbeitsunfähigkeit trat gemäss Gutachten erst im Januar 2022 ein.
  2. Fehlerhafte Abweichung vom Gutachten: Das kantonale Gericht wich von der medizinisch-psychiatrischen Expertise ab, ohne triftige Gründe darzulegen. Es übersah, dass das Gutachten die Persistenz erheblicher funktioneller Leistungseinschränkungen überzeugend darlegte, die sich auf die Arbeitsfähigkeit auswirken, und erfüllte damit die Anforderungen der Bundesgerichtspraxis (insbesondere BGE 141 V 281 und BGE 148 V 49).
  3. Unzulässiger Verzicht auf Einkommensvergleich: Der Verzicht des kantonalen Gerichts auf einen Einkommensvergleich zur Bestimmung des Invaliditätsgrades war bundesrechtswidrig, da die angestammte Tätigkeit des Beschwerdeführers nicht mehr zumutbar ist.
  4. Arbeitsfähigkeit: Der Beschwerdeführer war ab 2015 zu 100% arbeitsunfähig. Erst ab Januar 2022 besteht in einer leidensangepassten Tätigkeit eine 64%ige Arbeitsfähigkeit.
  5. Rückweisung: Die Angelegenheit wurde zur Neuberechnung des Invaliditätsgrades und des Rentenanspruchs an die IV-Stelle zurückgewiesen.