Detaillierte Zusammenfassung des Urteils des Schweizerischen Bundesgerichts (4A_222/2025, 4A_234/2025 vom 11. September 2025)
I. Einleitung und Sachverhalt
Das vorliegende Urteil des Bundesgerichts, I. zivilrechtliche Abteilung, befasst sich mit zwei Beschwerden (4A_222/2025 und 4A_234/2025), die sich gegen ein Teilurteil des Handelsgerichts des Kantons Zürich vom 24. März 2025 richten. Gegenstand der Streitigkeit ist ein Agenturvertrag zwischen der A._ AG (Klägerin im Verfahren 4A_222/2025, Beschwerdegegnerin im Verfahren 4A_234/2025) und der B._ AG (Beklagte im Verfahren 4A_222/2025, Beschwerdeführerin im Verfahren 4A_234/2025).
Die A._ AG (im Folgenden: Klägerin) erbringt Dienstleistungen im Bereich Unternehmensberatung und Marketing. Die B._ AG (im Folgenden: Beklagte) entwickelte und vertrieb PCR-Tests zur Erkennung von Covid-19. Die Parteien schlossen am 30. September 2020 einen Agenturvertrag, wonach die Klägerin der Beklagten Kundschaft gegen eine erfolgsabhängige Umsatzprovision vermittelte. Nach Kündigung des Vertrages durch die Beklagte anfangs März 2021 machte die Klägerin restliche Provisionsansprüche geltend.
Die Klägerin reichte beim Handelsgericht Zürich eine Stufenklage ein. Zunächst begehrte sie eine umfassende Rechenschaftsablage über alle Vergütungen und geldwerten Leistungen, die die Beklagte von durch die Klägerin vermittelten Kunden erhalten hatte. Anschliessend sollte ein zu beziffernder Provisionsbetrag sowie eine Entschädigung für die Kundschaft gefordert werden. Das Handelsgericht schränkte den Kreis der provisionsrelevanten Kunden ein (zulässig nur für C._ AG, Flughafen Zürich, D._ AG und E._). Es verpflichtete die Beklagte, der Klägerin für den Zeitraum vom 5. Juni 2020 bis 19. Mai 2023 diverse Dokumente (Provisionsabrechnungen, Debitoren- und Kreditorenrechnungen, weitere relevante Unterlagen) bezüglich der C._ AG zuzustellen und Einsicht in die Bücher zu gewähren. Weitere Informationsbegehren wurden abgewiesen.
Gegen dieses Teilurteil legten beide Parteien Beschwerde beim Bundesgericht ein. Die Klägerin beanstandete die Abweisung ihres Informationsbegehrens bezüglich der D._ AG. Die Beklagte beantragte die vollumfängliche Abweisung des Informationsbegehrens, insbesondere wehrte sie sich gegen die angeordnete Rechenschaftsablage für C._ AG.
II. Massgebende Rechtsgrundlagen
Das Bundesgericht prüfte die Beschwerden unter Berücksichtigung der folgenden zentralen Bestimmungen:
* Art. 418k Abs. 2 OR: Der Agent hat Anspruch auf eine Abrechnung über die vermittelten oder abgeschlossenen Geschäfte und auf Einsicht in die Bücher und Belege des Prinzipalen, soweit dies für die Kontrolle der Abrechnung notwendig ist.
* Art. 85 ZPO: Eine unbezifferte Forderungsklage kann mit einem Begehren um vorgängige Rechnungslegung verbunden werden (Stufenklage).
* Art. 189 ZPO: Regelung zum Schiedsgutachten, dessen Bindungswirkung an das Gericht und die Voraussetzungen dafür.
* Art. 18 OR: Auslegung von Verträgen nach dem Vertrauensprinzip.
III. Zentrale Streitpunkte und Beurteilung durch das Bundesgericht
Das Bundesgericht vereinigte die beiden Verfahren und trat, unter Vorbehalt hinreichender Begründung, auf die Beschwerden ein. Die üblichen Ausführungen zu den Rügeprinzipien und der Sachverhaltsfeststellung (Art. 105, 106 BGG) sind hier nicht im Detail wiedergegeben.
A. Beschwerde der A.
_ AG (Klägerin): Informationsbegehren betreffend D.
_ AG
Die Klägerin beanstandete die Abweisung ihres Informationsbegehrens in Bezug auf die D._ AG. Das Handelsgericht hatte entschieden, dass die Klägerin die D._ AG weder direkt noch indirekt im Sinne des Agenturvertrags (Ziff. 7.2 lit. d und e) vermittelt habe.
- Auslegung des Begriffs "ZRH-Zürich" in den Leadlisten: Die Klägerin argumentierte, die Bezeichnung "ZRH-Zürich" in den Leadlisten meine nach Treu und Glauben die D.__ AG als direkt vermittelte Kundin. Das Bundesgericht verwarf diese Rüge. Es bestätigte die Auffassung des Handelsgerichts, dass "ZRH-Zürich" einzig die Flughafen Zürich AG meine. Eine Ausdehnung auf sämtliche am Flughafen tätigen Firmen wäre zu unbestimmt. Die Klägerin konnte keine substanziierte Sachverhaltsrüge (Art. 105 Abs. 2 i.V.m. Art. 106 Abs. 2 BGG) darlegen und präsentierte lediglich ihre eigene, neue Lesart, die sie teilweise mit unzulässigen Ergänzungen des Sachverhalts untermauerte.
- Nachweis der indirekten Vermittlung der D.__ AG: Da die Argumentation bezüglich der direkten Vermittlung der D._ AG nicht erfolgreich war, scheiterte auch die sekundäre Argumentation der Klägerin, sie habe die D._ AG indirekt vermittelt. Das Bundesgericht hielt fest, die Klägerin habe keine hinreichende Willkürrüge (Art. 106 Abs. 2 BGG) vorgebracht, um den fehlenden Nachweis der für eine indirekte Vermittlung (gemäss Ziff. 7.2 lit. e des Agenturvertrags) erforderlichen Indizienkette als willkürlich auszuweisen.
Ergebnis: Die Beschwerde der Klägerin wurde abgewiesen. Der Informationsanspruch bleibt auf die C.__ AG beschränkt.
B. Beschwerde der B.
_ AG (Beklagte): Informationsbegehren betreffend C.
_ AG
Die Beklagte wehrte sich gegen die vom Handelsgericht angeordnete Rechenschaftsablage in Bezug auf die C.__ AG.
- Fehlendes Rechtsschutzinteresse und mangelnde Substantiierung: Die Beklagte rügte pauschal, das Handelsgericht hätte mangels Rechtsschutzinteresses der Klägerin und weil der Hauptanspruch "offensichtlich haltlos" sei, nicht auf das Informationsbegehren eintreten dürfen. Des Weiteren bestünden keine hinreichenden Zweifel an den bisherigen Provisionsabrechnungen. Das Bundesgericht erachtete diese Rügen als unbegründet und appellatorisch. Das Handelsgericht habe in einlässlichen Erwägungen das Rechtsschutzinteresse bejaht und festgestellt, dass der Klägerin sowohl ein vertraglicher als auch ein gesetzlicher Auskunftsanspruch zustehe.
- Verletzung des Dispositionsgrundsatzes (Art. 58 ZPO): Die Beklagte machte geltend, das Handelsgericht habe den Dispositionsgrundsatz verletzt, indem es der Klägerin mehr zugesprochen habe, als diese verlangt habe, namentlich bezüglich der Heranziehung des Nettoumsatzes, der Herausgabe von Anlagen zu Rechnungen und der Einsicht in die Bücher. Das Bundesgericht verwarf diese Rüge. Es stellte fest, dass die Klägerin in ihrem Rechtsbegehren eine "umfassende Rechenschaftsablage" verlangt hatte, welche die genannten Punkte ohne Weiteres deckt und zur Erfüllung des Kontrollzwecks notwendig ist.
- Schiedsgutachtenvereinbarung als Hinderungsgrund für die Stufenklage: Dies bildete den Kernpunkt der Beschwerde der Beklagten. Sie machte geltend, die Parteien hätten in Ziffer 7.5 lit. b des Agenturvertrags eine Schiedsgutachtenvereinbarung getroffen, die dem gerichtlichen Vorgehen der Klägerin entgegenstehe.
- Qualifikation der Vereinbarung: Das Bundesgericht bestätigte die zutreffende Qualifikation des Handelsgerichts, wonach es sich um eine Schiedsgutachtenvereinbarung im Sinne von Art. 189 ZPO handle und nicht um eine Schiedsvereinbarung gemäss Art. 357 ZPO. Ein Schiedsgutachten dient lediglich der Tatsachenfeststellung (hier: die Provisionshöhe), während ein Schiedsgericht eine Streitigkeit umfassend entscheidet und ein gerichtliches Urteil ersetzt.
- Tragweite der Schiedsgutachtenvereinbarung: Das Bundesgericht folgte dem Handelsgericht, dass der Schiedsgutachter lediglich die Provisionshöhe festzustellen hat, die Vereinbarung aber nicht die Informationsansprüche der Klägerin umfasst.
- Verhältnis zur Stufenklage: Das Bundesgericht bejahte, dass die Schiedsgutachtenvereinbarung der Durchsetzung des Informationsanspruchs im Rahmen einer Stufenklage nicht entgegensteht, und begründete dies wie folgt:
- Fehlende Mitwirkungspflichten im Vertrag: Die Parteien haben in der Schiedsgutachtenvereinbarung keine detaillierten Regeln über die Mitwirkungspflichten der Parteien (z.B. Bereitstellung von Unterlagen) aufgenommen. Der Schiedsgutachter verfügt über keine Zwangsmittel, um die Parteien zur Erteilung der benötigten Auskünfte und Unterlagen anzuhalten. In dieser Situation sei es zulässig und notwendig, das zuständige Gericht mittels Stufenklage anzurufen, um die Rechenschaftspflicht vollstreckbar zu entscheiden.
- Prozessökonomische Gründe: Ein solches Vorgehen kann prozessökonomisch sein und im Interesse beider Parteien liegen. Indem das Gericht vorab klärt, für welche Kunden überhaupt ein Provisionsanspruch und damit eine Rechenschaftspflicht besteht (hier nur C.__ AG), wird ein unnötiger Leeraufwand des Schiedsgutachters vermieden. Gleiches gilt für die Klärung der Berechnungsgrundlage (Netto- oder Bruttoumsatz). Zwar kann ein Schiedsgutachter Rechtsfragen von untergeordneter Bedeutung beantworten, jedoch ist das Gutachten gerichtlich auf offensichtliche Unrichtigkeit überprüfbar (Art. 189 Abs. 3 lit. c ZPO), und die Richtigkeit der rechtlichen Prämissen muss feststehen (vgl. BGE 149 III 465, E. 4.2 zu Urteil 4A_428/2022). Eine vorgängige gerichtliche Klärung fördert daher die Effizienz.
- Fazit: Das Bundesgericht kam zum Schluss, dass die Schiedsgutachtenvereinbarung die Klägerin nicht daran hindert, ihren Rechenschaftsanspruch im Rahmen einer Stufenklage durchzusetzen. Nach erfolgter Rechenschaftsablage wird jedoch zur Bezifferung des Hauptanspruchs ein Schiedsgutachten vorzulegen sein, an das das Gericht in Bezug auf die konkrete Provisionsberechnung gebunden ist.
- Berechnungsgrundlage der Provision (Netto- vs. Bruttoumsatz): Die Beklagte rügte, das Handelsgericht habe zur Bestimmung des Provisionssatzes zu Unrecht auf den Nettoumsatz anstatt auf den Bruttoumsatz abgestellt und dabei Art. 18 OR verletzt.
- Das Bundesgericht bestätigte die Auslegung des Handelsgerichts. Dieses hatte den Wortlaut ("cumulative PRODUCT sales") als nicht klar erachtet und deshalb die vorvertragliche Korrespondenz der Parteien herangezogen. Gestützt darauf kam es zum Ergebnis, dass die Klägerin nach Treu und Glauben davon ausgehen durfte, dass zur Bestimmung des Provisionssatzes auf den Nettoumsatz abgestellt wird.
- Die Beklagte konnte keine Bundesrechtsverletzung darlegen. Ihre Behauptung, der Wortlaut sei eindeutig und bedeute Bruttoumsatz, blieb unbegründet. Ein Zitat aus einem Rechtsöffnungsurteil des Obergerichts Bern konnte diese Behauptung nicht stützen. Das Bundesgericht hielt fest, dass es nicht zu beanstanden ist, wenn das Handelsgericht bei einem unklaren Wortlaut weitere Auslegungsmittel nach dem Vertrauensprinzip heranzieht. Die Auslegung des Handelsgerichts wurde nicht als bundesrechtswidrig befunden.
Ergebnis: Die Beschwerde der Beklagten wurde abgewiesen. Die angeordnete Rechenschaftsablage bezüglich der C.__ AG bleibt bestehen.
IV. Zusammenfassende Würdigung der wesentlichen Punkte
Das Bundesgericht hat in diesem Urteil die folgenden entscheidenden Punkte geklärt:
- Umfang des Informationsanspruchs in der Stufenklage: Es wurde bestätigt, dass die Klägerin ihren Informationsanspruch (Rechenschaftsablage und Einsicht in Bücher und Belege) erfolgreich im Rahmen einer Stufenklage durchsetzen kann. Dies wurde auf die C._ AG beschränkt, da für weitere von der Klägerin beanspruchte Kunden (insbesondere D._ AG) keine Vermittlung nachgewiesen werden konnte.
- Verhältnis Schiedsgutachtenvereinbarung und gerichtlicher Stufenklage: Ein zentraler Aspekt war die Abgrenzung und das Verhältnis einer Schiedsgutachtenvereinbarung (Art. 189 ZPO) zu einem gerichtlichen Informationsbegehren. Das Bundesgericht bestätigte, dass eine vertragliche Schiedsgutachtenvereinbarung, welche die Feststellung der Provisionshöhe vorsieht, der vorgängigen gerichtlichen Durchsetzung von materiellrechtlichen Informationsansprüchen (Art. 418k Abs. 2 OR) mittels Stufenklage nicht entgegensteht. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Schiedsgutachtenvereinbarung keine detaillierten Mitwirkungspflichten der Parteien regelt und der Schiedsgutachter keine Zwangsmittel zur Durchsetzung der Auskunftsrechte besitzt. Prozessökonomische Gründe (vorherige gerichtliche Klärung der Anspruchsgrundlagen) wurden als weitere Rechtfertigung angeführt. Erst nach erfolgter Rechenschaftsablage wird das Schiedsgutachten zur Bezifferung der Forderung relevant.
- Berechnungsgrundlage der Provision: Das Gericht bestätigte die Auslegung des Handelsgerichts, wonach die Provision auf dem Nettoumsatz und nicht auf dem Bruttoumsatz zu berechnen ist. Es hielt fest, dass der Vertragswortlaut ("cumulative PRODUCT sales") nicht eindeutig ist und die Heranziehung vorvertraglicher Korrespondenz zur Auslegung nach dem Vertrauensprinzip (Art. 18 OR) bundesrechtlich nicht zu beanstanden war.
Insgesamt hat das Bundesgericht die Beschwerden beider Parteien abgewiesen, wodurch das Urteil des Handelsgerichts Bestand hat und die Beklagte zur Rechenschaftsablage für die Geschäfte mit der C.__ AG verpflichtet wird.