Das vorliegende Urteil des Schweizerischen Bundesgerichts (BGer) 7B_367/2025 vom 2. Oktober 2025 behandelt eine Beschwerde gegen die Nichtanhandnahme eines Strafverfahrens wegen fahrlässiger Körperverletzung nach einem Schlittelunfall. Der Beschwerdeführer, A._, verlangt die Eröffnung einer Strafuntersuchung gegen Verantwortliche der Schulgemeinde U._ und der Sportbahnen V.__ AG.
I. Sachverhalt
Im Winter 2021 erlitt der Beschwerdeführer A._, damals Schüler der 5. oder 6. Klasse, während eines Schneesporttages auf einer Schlittelpiste in V._ einen schweren Unfall. In einer Linkskurve geriet er mit seinem Bob über den rechtsseitigen Pistenrand, stürzte eine Böschung hinunter und kollidierte schliesslich mit einer hölzernen Lawinenverbauung. Dabei zog er sich schwere Verletzungen am Kopf (inkl. Hirnnervenschädigung), im Brust- und Bauchbereich sowie eine Oberschenkelfraktur zu, welche einen längeren Rehabilitationsaufenthalt im Kinderspital Zürich erforderlich machten. Bei seiner Entlassung bestanden noch neuropsychologische Einschränkungen und reduzierte muskuläre Ausdauer.
II. Prozessgeschichte
A.__ stellte am 15. April 2021 Strafantrag gegen Unbekannt wegen fahrlässiger Körperverletzung und konstituierte sich als Privatkläger. Die Staats- und Jugendanwaltschaft des Kantons Glarus verfügte am 8. November 2024 die Nichtanhandnahme des Verfahrens. Eine dagegen erhobene Beschwerde wies das Obergericht des Kantons Glarus am 28. März 2025 ab. Der Beschwerdeführer gelangte daraufhin mit Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht.
III. Erwägungen des Bundesgerichts
Das Bundesgericht prüfte zunächst die Zulässigkeit der Beschwerde (Legitimation) und sodann die materielle Rechtmässigkeit der Nichtanhandnahme.
A. Zulässigkeit der Beschwerde (Legitimation)
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Rechtliche Grundlagen zur Legitimation:
- Gemäss Art. 81 Abs. 1 lit. b Ziff. 5 BGG ist die Privatklägerschaft zur Beschwerde in Strafsachen grundsätzlich nur berechtigt, wenn der angefochtene Entscheid sich auf die Beurteilung ihrer Zivilansprüche auswirken kann.
- Zivilansprüche sind solche, die ihren Grund im Zivilrecht (insbesondere Schadenersatz und Genugtuung nach Art. 41 ff. OR) haben und nicht öffentlich-rechtlicher Natur sind (z.B. Staatshaftungsansprüche, welche nicht adhäsionsweise im Strafprozess geltend gemacht werden können). (BGE 146 IV 76 E. 3.1; 141 IV 1 E. 1.1).
- Das Bundesgericht stellt strenge Anforderungen an die Begründung der Legitimation, insbesondere bei der Nichtanhandnahme eines Verfahrens. Genügt die Begründung nicht, kann nur eingetreten werden, wenn aufgrund der Natur der Straftat ohne Weiteres ersichtlich ist, um welche konkrete Zivilforderung es geht, namentlich bei einer starken Beeinträchtigung der körperlichen, psychischen oder sexuellen Integrität (BGE 141 IV 1 E. 1.1; Urteil 7B_1236/2024 E. 1.2.4).
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Anwendung im vorliegenden Fall:
- Der Beschwerdeführer legte seine Legitimation nur pauschal dar. Das Bundesgericht hielt diese Ausführungen als unzureichend fest.
- Jedoch stellte das Gericht fest, dass die im Austrittsbericht des Kantonsspitals Graubünden und des Kinderspitals Zürich dokumentierten schweren Verletzungen (Schädel, Hirnnerven, Thorax, Abdomen, Oberschenkelfraktur, neuropsychologische Einschränkungen) eine so starke Beeinträchtigung der körperlichen Integrität darstellen, dass sich daraus unmittelbar ein konkreter Zivilanspruch ergibt. Daher sei die Beschwerdelegitimation ungeachtet der Begründungsmängel gegeben.
- Wichtige Einschränkung: Die Vorwürfe des Beschwerdeführers richten sich sowohl gegen die Verantwortlichen der Schulgemeinde U._ als auch gegen jene der Sportbahnen V._ AG. Allfällige von Mitarbeitenden der Schulgemeinde zu verantwortende Schäden könnten jedoch nur öffentlich-rechtliche Staatshaftungsansprüche nach dem glarnerischen Staatshaftungsgesetz begründen. Da solche Ansprüche keine Beschwerdelegitimation im Sinne von Art. 81 Abs. 1 lit. b Ziff. 5 BGG schaffen, erweist sich die Beschwerde nur insoweit als zulässig, als eine Untersuchung allfälliger Verfehlungen bei den Sportbahnen V.__ AG verlangt wird.
B. Materielle Prüfung der Nichtanhandnahme
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Grundsätze der Nichtanhandnahme und richterliche Kontrolle:
- Eine Staatsanwaltschaft eröffnet eine Untersuchung, wenn ein hinreichender Tatverdacht besteht (Art. 309 Abs. 1 lit. a StPO). Steht fest, dass die Straftatbestände eindeutig nicht erfüllt sind, verfügt sie die Nichtanhandnahme (Art. 310 Abs. 1 lit. a StPO).
- Das aus dem Legalitätsprinzip abgeleitete Prinzip "in dubio pro duriore" besagt, dass eine Nichtanhandnahme nur in sachverhaltsmässig und rechtlich klaren Fällen ergehen darf. Insbesondere bei Ereignissen mit schwerwiegenden Folgen, bei denen eine strafrechtliche Drittverantwortung nicht eindeutig ausgeschlossen werden kann, ist in der Regel eine Untersuchung durchzuführen (BGE 137 IV 285 E. 2.3).
- Das Bundesgericht prüft bei Beschwerden gegen Nichtanhandnahmen nicht die Willkür der Sachverhaltsfeststellungen (Art. 97 Abs. 1 BGG) wie bei einem Schuldspruch, sondern nur, ob die Vorinstanz willkürlich von einer klaren Beweislage ausgegangen ist oder Tatsachen willkürlich für klar erstellt angenommen hat. Willkür muss explizit und substanziiert begründet werden (Art. 106 Abs. 2 BGG; BGE 143 IV 241 E. 2.3.2).
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Rechtliche Grundlagen zur Fahrlässigkeit und Verkehrssicherungspflicht:
- Fahrlässigkeit (Art. 12 Abs. 3, 125 Abs. 1 StGB): Begeht ein Verbrechen/Vergehen, wer die Folge seines Verhaltens aus pflichtwidriger Unvorsichtigkeit nicht bedenkt oder darauf nicht Rücksicht nimmt. Pflichtwidrig ist die Unvorsichtigkeit, wenn die gebotene Vorsicht nicht beachtet wird.
- Sorgfaltswidrigkeit: Liegt vor, wenn der Täter eine Gefährdung hätte erkennen können und müssen und die Grenzen des erlaubten Risikos überschritten hat. Das Mass der Sorgfalt bestimmt sich nach besonderen Normen (z.B. Unfallverhütung), allgemein anerkannten Verhaltensregeln oder dem allgemeinen Gefahrensatz (BGE 148 IV 39 E. 2.3.3).
- Verkehrssicherungspflicht von Bergbahnunternehmen: Diese sind verpflichtet, zumutbare Vorsichts- und Schutzmassnahmen gegen Gefahren auf Pisten zu treffen. Dies umfasst den Schutz vor nicht ohne Weiteres erkennbaren, "fallenartigen" Gefahren und solchen, die selbst bei vorsichtigem Fahrverhalten nicht vermieden werden können. Grenzen bilden die Zumutbarkeit und die Selbstverantwortung der Pistenbenutzenden (BGE 130 III 193 E. 2.2 f.).
- Massstab der Sorgfalt: Die Schweizerischen Kommission für Unfallverhütung auf Schneesportabfahrten (SKUS-Richtlinien) und die Kommission Rechtsfragen auf Schneesportabfahrten der Seilbahnen Schweiz (SBS-Richtlinien) dienen als Konkretisierung der Verkehrssicherungspflicht, obwohl sie kein objektives Recht darstellen. Das Bundesgericht ist an sie nicht gebunden, berücksichtigt sie aber massgeblich. Örtliche Verhältnisse können einen höheren Standard erfordern. Das Ermessen der Vorinstanz wird nur zurückhaltend überprüft, d.h. nur bei unvertretbaren Schlussfolgerungen (BGE 130 III 193 E. 2.3).
- Spezifika für Schlittelpisten (nach SKUS- und SBS-Richtlinien 2019):
- Benutzende fahren auf eigenes Risiko, müssen Geschwindigkeit und Fahrweise Können, Gelände, Schnee und Witterung anpassen (Ziff. 2 Anhang C SKUS). Ausaperungen, Vereisungen etc. sind grundsätzlich selbst zu meistern (Ziff. 25 SBS/SKUS).
- Schlittelwege müssen vor atypischen Gefahren gesichert werden, die Benutzende nicht erkennen oder selbst bei vorsichtigem Fahren nicht vermeiden können (Ziff. 230 SBS).
- Der Pistenrandbereich von zwei Metern Breite ist zu sichern, wenn Hindernisse oder Absturzgefahr bestehen (Ziff. 24 SKUS). Sturzräume müssen nicht geschaffen werden. Hindernisse in diesem Bereich sind zu signalisieren oder entschärfen (Ziff. 29 SKUS, Ziff. 144 SBS). Das gilt insbesondere an der Aussenseite von Kurven bei ausgeprägter Querneigung oder am Ende von Steilhängen (Ziff. 146 SBS).
- Die Pistenrandsicherung schützt vor Gefahrenstellen, die bei geringfügigem Übertreten des Pistenrandes auftreten. Sie dient aber nicht dazu, Benutzer zu schützen, die aufgrund nicht angepasster Geschwindigkeit oder Fahrweise unkontrolliert über den Pistenrand fahren (Ziff. 108 und 109 SBS).
- Absturzgefahr (Ziff. 153 SBS) liegt vor, wenn Schneesportler unabhängig von der Geschwindigkeit unweigerlich mehrere Meter tief fallen und sich schwerwiegende Verletzungen zuziehen (z.B. Felsabbrüche, Gletscherspalten, Stützmauern, Brücken). Dort sind Abschrankungen nötig (Ziff. 31 SKUS).
- Eine Erweiterung der Verkehrssicherungspflicht über den unmittelbaren, zweimetrigen Randbereich hinaus (Ziff. 113 SBS) setzt eine atypische bzw. aussergewöhnliche Gefahr voraus:
- Eine besonders grosse Gefahr für Leib und Leben (wie bei Absturzgefahr).
- Pisten- und Geländeverhältnisse, die auch für vorsichtige Pistenbenutzende die nahe Gefahr bergen, im Falle eines Sturzes auf der Piste ungewollt in den Einzugsbereich der ausserhalb gelegenen Gefahrenstelle zu geraten (z.B. bei Tücken der Piste, ausgeprägter Querneigung, starkem Abfall des angrenzenden Geländes, wodurch ein Weiterrutschen unaufhaltsam wird).
Das blosse steile Abfallen des Geländes abseits der Piste ist typisch für die Topografie in den Bergen und begründet keine aussergewöhnliche Gefahr (Ziff. 115 SBS).
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Anwendung auf den vorliegenden Unfall:
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Der Unfall ereignete sich an einem sonnigen Wintertag auf einer mehrfach befahrenen, frisch präparierten Piste mit Hartschnee (kein Eis). Die Unfallkurve war mit einem Richtungspfeil versehen und mit einer Schneemade abgegrenzt. Das Gefälle der Piste betrug 9.71 Grad. Die hölzerne Lawinenverbauung lag mehr als zwei Meter vom Pistenrand entfernt.
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a) Notwendigkeit einer Sicherung der Unfallkurve (z.B. Netz):
- Das Bundesgericht verneinte dies. Weder aus dem angefochtenen Beschluss noch aus den Vorbringen des Beschwerdeführers ergibt sich, dass es sich um eine absturzgefährliche Stelle im Sinne von Ziff. 153 SBS handeln würde. Die Fotodokumentation zeige, dass die Kurve in fliessendem, teils steilem Gelände lag, nicht an einem praktisch senkrecht abfallenden Hang mit mehreren Metern Sturzhöhe. Im zwei Meter breiten Randbereich der Kurve waren keine Hindernisse, welche eine Sicherung erfordert hätten.
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b) Notwendigkeit einer Polsterung der Lawinenverbauung:
- Die Lawinenverbauung lag ausserhalb des zwei Meter breiten Pistenrandbereichs. Eine Sicherung wäre nur bei atypischer oder aussergewöhnlicher Gefahr (Ziff. 114 SBS) erforderlich gewesen.
- Erste Voraussetzung ("besonders grosse Gefahr für Leib und Leben"): Der Beschwerdeführer verwies pauschal auf die "Gefährlichkeit der Schneerechen", ohne dies näher zu erläutern. Eine hohe Wahrscheinlichkeit schwerer bis lebensgefährlicher Verletzungen bei Kollision mit der Verbauung war den Feststellungen nicht zu entnehmen. Diese Voraussetzung wurde als nicht erfüllt erachtet.
- Zweite Voraussetzung ("nahe Gefahr, ungewollt in den Einzugsbereich zu geraten"): Diese wurde ebenfalls verneint.
- Die Unfallkurve befand sich nicht am Ende eines Steilhanges, sondern in einem Abschnitt mit 9.71 Grad Gefälle. Erst ab 15 Grad Neigung ist eine besondere Kennzeichnung erforderlich (Ziff. 75 SKUS). Dies spricht gegen eine erhöhte Gefährlichkeit.
- Der blosse Umstand, dass der Abhang neben der Piste teilweise steil ist, begründet gemäss Ziff. 115 SBS keine besondere Gefährlichkeit, da dies typisch für Bergtopografie ist.
- Die Behauptung des Beschwerdeführers, vor der Kurve nicht mehr bremsen gekonnt zu haben, konnte keine Willkür in der vorinstanzlichen Sachverhaltsfeststellung aufzeigen. Die Vorinstanz hielt unwidersprochen fest, dass die Gruppe zuvor an dieser Stelle angehalten hatte. Dass der Beschwerdeführer selbst angab, die Bremse seines Bobs sei nicht mehr gut gewesen, schwächte seine Argumentation.
- Schliesslich fuhren andere Kinder zwar ebenfalls über den Pistenrand hinaus, blieben aber unverletzt und gerieten nicht in die Nähe der Lawinenverbauung. Dies widerlegte die Annahme, dass jemand, der stürzt, unaufhaltsam in Richtung der Gefahrenstelle weiterrutschen würde.
- Fazit zur Lawinenverbauung: Sie war gemäss den Richtlinien nicht von der Verkehrssicherungspflicht erfasst.
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c) Gesamtwürdigung und Beweisanträge:
- Die Unfallstelle befand sich in einer für Schlittelwege üblichen Umgebung ohne aussergewöhnliche Gefahren. Das Unterlassen zusätzlicher Absicherungen begründete keine Sorgfaltspflichtverletzung im Sinne von Art. 12 Abs. 3 StGB.
- Beweisanträge auf Befragung weiterer Schüler zum Zustand der Piste oder der gefahrenen Geschwindigkeit durften abgewiesen werden (Art. 139 Abs. 2 StPO). Selbst eisige Stellen sind für Schlittler hinzunehmen, und die Aussage von Mitschülern (C._, D._), dass ein Rennen gefahren wurde und alle schnell waren, würde eine strafrechtliche Verantwortlichkeit der Sportbahnen V.__ AG nicht wahrscheinlich erscheinen lassen.
IV. Schlussfolgerung des Bundesgerichts
Das Bundesgericht gelangt zum Schluss, dass die Vorinstanz ohne Rechtsverletzung von einem Fall klarer Straflosigkeit im Sinne von Art. 310 Abs. 1 lit. a StPO ausgehen durfte. Die Beschwerde erweist sich als unbegründet und wird abgewiesen, soweit darauf eingetreten wurde. Die Gerichtskosten werden dem Beschwerdeführer auferlegt.
Kurze Zusammenfassung der wesentlichen Punkte:
Das Bundesgericht wies die Beschwerde gegen die Nichtanhandnahme eines Strafverfahrens nach einem schweren Schlittelunfall ab. Es bejahte die Legitimation des Beschwerdeführers aufgrund der Schwere seiner Verletzungen, schränkte diese jedoch auf die Ansprüche gegen die privaten Sportbahnen (nicht die öffentliche Schulgemeinde) ein. In der materiellen Prüfung verneinte das Bundesgericht eine Sorgfaltspflichtverletzung der Sportbahnen. Die Unfallstelle wies keine atypischen oder aussergewöhnlichen Gefahren auf, welche gemäss den massgeblichen SKUS- und SBS-Richtlinien eine über den zweimetrigen Pistenrandbereich hinausgehende Sicherungspflicht (z.B. Polsterung der weit entfernten Lawinenverbauung oder ein Sicherheitsnetz in der Kurve) begründet hätten. Die vorinstanzliche Annahme einer klaren Straflosigkeit, auch unter Ablehnung weiterer Beweisanträge, wurde als rechtmässig bestätigt.