Zusammenfassung von BGer-Urteil 5A_275/2025 vom 22. Oktober 2025

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Detaillierte Zusammenfassung des Urteils des Schweizerischen Bundesgerichts 5A_275/2025 vom 22. Oktober 2025 I. Einleitung

Das vorliegende Urteil des Bundesgerichts (II. Zivilrechtliche Abteilung) befasst sich mit der Löschung eines Nutzniessungsrechts an einem Chalet im Rahmen eines Scheidungsverfahrens. Der Beschwerdeführer (Ehemann) focht den Entscheid des Genfer Kantonsgerichts an, der die Löschung seines Nutzniessungsrechts ohne Entschädigung bestätigte. Die zentrale Frage war, ob das Nutzniessungsrecht gemäss Art. 736 Abs. 1 ZGB (vollständiger Nutzenverlust) entschädigungslos gelöscht werden konnte oder ob ein Entschädigungsanspruch nach Art. 736 Abs. 2 ZGB (verminderter Nutzen) bestand.

II. Sachverhalt

A._ (geb. 1963) und B._ (geb. 1975) heirateten 2010. Sie haben einen gemeinsamen Sohn (geb. 2012); der Ehemann hat zwei volljährige Kinder aus einer früheren Ehe. Ein Ehevertrag wurde nicht abgeschlossen.

Am 10. August 2018 erwarb die Ehefrau die Parzellen xxx und yyy in V._ (VS), auf denen ein Chalet steht. Im Kaufvertrag wurde ein lebenslängliches Nutzniessungsrecht zugunsten des Ehemanns mit einem Mietwert von 4 % des Katasterwerts begründet. Der Vertrag hielt fest, dass die Ausübung dieses Rechts "gemeinsam mit Frau B._" erfolgen sollte, und machte die Parteien auf die Tragweite des Nutzniessungsrechts hinsichtlich Unterhaltspflichten, Steuerlast und Hypothekarzinsen aufmerksam.

Zuvor, am 27. Juli 2018, hatten die Parteien in einer E-Mail an den Notar erklärt, dass "B.__ die alleinige Eigentümerin des Grundstücks sein soll (wir sind nämlich eine Patchworkfamilie mit Kindern und möchten, dass später nur unser Kind dieses Immobilienvermögen erbt)".

Die Ehegatten trennten sich im Juni 2020.

III. Vorinstanzliche Beurteilung

Der Ehemann reichte am 22. Dezember 2021 die Scheidungsklage ein und forderte unter anderem, dass die Ehefrau ihm CHF 189'432 als finanzielle Entschädigung für den Verzicht auf sein Nutzniessungsrecht zahle und das Grundbuchamt X.__ angewiesen werde, dieses Recht nach Zahlung der Entschädigung zu löschen. Die Ehefrau beantragte die Löschung des Nutzniessungsrechts gegen eine maximale Zahlung von CHF 60'758 (im Zusammenhang mit Sanierungsarbeiten am Chalet), die im Rahmen der güterrechtlichen Auseinandersetzung zu berücksichtigen sei.

Das Genfer Tribunal de première instance (Urteil vom 28. November 2023) stellte die Beendigung des Nutzniessungsrechts des Ehemanns fest und ordnete dessen Löschung an. Es wies die Forderung des Ehemanns auf Entschädigung ab, mit der Begründung, das Recht habe jegliches Interesse verloren, da es nicht mehr dem ursprünglichen Zweck entsprechend ausgeübt werden könne.

Das Genfer Cour de justice bestätigte mit Urteil vom 4. März 2025 diese erstinstanzliche Entscheidung. Es führte aus, dass zur Bestimmung des ursprünglichen Zwecks des Nutzniessungsrechts festgestellt werden müsse, dass dieses "gemeinsam" mit der Ehefrau auszuüben sei und nicht ausschliesslich. Es sei darum gegangen, dem Ehemann die Nutzung der Liegenschaft mit der Ehefrau zu ermöglichen, oder im Falle ihres Todes oder ihrer Arbeitsunfähigkeit gemeinsam mit dem gemeinsamen Sohn, der allein erben sollte. Eine solche Mitbenutzung setze eine Intimität voraus, die normalerweise nur unter Ehepartnern oder Familienmitgliedern bestehe. Daher sei dieses Recht untrennbar mit dem Ehekontext verbunden. Die Trennung und das Ende der Lebensgemeinschaft hätten dem Nutzniessungsrecht seinen Sinn genommen, nicht eine einseitige Kündigung durch die Eigentümerin. Da der Ehefrau weder zugemutet werden könne, das Chalet mit ihrem Ex-Mann zu nutzen, noch ihm trotz Scheidung die Nutzung zu gestatten, sei die vereinbarte gemeinsame Ausübung des Rechts auf absehbare Zeit objektiv unmöglich. Dies gelte auch für eine Zweitresidenz. Folglich sei das Nutzniessungsrecht gemäss Art. 736 Abs. 1 ZGB als nutzlos anzusehen und entschädigungslos zu löschen.

IV. Rügen des Beschwerdeführers (A.__)

Der Beschwerdeführer rügte eine Verletzung von Art. 736 Abs. 1 ZGB und Willkür bei der Sachverhaltsfeststellung.

  1. Willkürliche Sachverhaltsfeststellung bezüglich des Parteiwillens: Das Kantonsgericht habe die Beweismittel, insbesondere die E-Mails zwischen den Parteien und dem Notar, nicht angemessen gewürdigt. Diese hätten gezeigt, dass die Parteien ursprünglich Miteigentum in Erwägung gezogen hätten und erst später aufgrund der Patchwork-Familiensituation (Schutz des gemeinsamen Sohnes vor den Kindern des Ehemanns aus erster Ehe) ein Alleineigentum der Ehefrau mit einem Nutzniessungsrecht für den Ehemann vereinbart hätten. Der Zweck sei gewesen, dem Ehemann gleiche Rechte am Chalet zu verschaffen, nicht nur eine gemeinsame Nutzung im Ehekontext.
  2. Verletzung von Art. 736 Abs. 1 ZGB: Das Gericht habe die Anforderungen dieser Bestimmung missachtet, indem es die Nutzniessung nach der Scheidung als objektiv unmöglich zu nutzende angesehen habe.
    • Es handele sich um eine Zweitresidenz, bei der eine zeitliche Aufteilung der Nutzung (alternierende Nutzung) durchaus denkbar sei, was auch von Lehre und Rechtsprechung anerkannt werde.
    • Die Nutzniessung behalte auch ein Interesse, falls die Ehefrau das Chalet vermieten würde, da die Mieteinnahmen geteilt werden müssten.
    • Ebenso bleibe ein Interesse bestehen, falls die Ehefrau sterben oder handlungsunfähig werden sollte, da der Ehemann das Chalet dann allein nutzen oder vermieten könnte.
    • Ein Nutzenverlust müsse definitiv sein, was hier nicht der Fall sei, da die künftige Unmöglichkeit einer alleinigen Nutzung durch ihn nicht ausgeschlossen sei.
    • Der Verzicht auf ein Nutzniessungsrecht habe nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung (Verweis auf Art. 11 Abs. 1 ELG) einen Wert, solange es nicht völlig nutzlos sei, was hier nicht gegeben sei.
    • Da die Nutzniessung weiterhin ein Interesse habe, stelle sie eine Belastung für die Eigentümerin dar. Daher sei eine Entschädigung gemäss Art. 736 Abs. 2 ZGB in Höhe von CHF 189'432 (gemäss Schätzung des Notars) zu zahlen.
V. Stellungnahme der Beschwerdegegnerin (B.__)

Die Beschwerdegegnerin betonte, dass die Parteien nie Miteigentum am Chalet gewollt hätten. Das Nutzniessungsrecht sei eingerichtet worden, um zu verhindern, dass der gemeinsame Sohn das Eigentum mit den Halbgeschwistern teilen müsse. Es sei "gemeinsam" auszuüben gewesen, was laut Larousse "zusammen und gleichzeitig mit einer anderen Person" bedeute. Das Dienstbarkeitsrecht sei auf die gemeinsame Lebenszeit der Parteien beschränkt gewesen. Der Schutzzweck sei mit dem Ende der Lebensgemeinschaft weggefallen, daher sei das Recht zu löschen. Da nur eine gemeinsame Nutzung und keine "alternierende" Nutzung vereinbart worden sei, und diese nicht mehr möglich sei, stehe keine Entschädigung zu. Die vorinstanzliche Auslegung des Parteiwillens sei nicht willkürlich, sondern basiere auf dem klaren Vertragstext, dem familiären Kontext, der E-Mail an den Notar, dem Gesundheitszustand der Ehefrau und den Steuererklärungen.

VI. Erwägungen des Bundesgerichts A. Zulässigkeit

Das Bundesgericht trat auf die Beschwerde ein, da die formellen Voraussetzungen erfüllt waren (rechtzeitige Einreichung, Form, Parteifähigkeit, Endentscheid, Rechtsmittelweg, Streitwert).

B. Grundlagen der Nutzniessung und deren Löschung
  1. Nutzniessung (Art. 745 Abs. 2, 755 ff. ZGB): Die Nutzniessung ist eine eigentliche persönliche Dienstbarkeit, untrennbar mit der Person des Berechtigten verbunden, unveräusserlich und unübertragbar (ATF 143 II 402 E. 6.2). Sie verleiht dem Nutzniesser, sofern nichts anderes bestimmt ist, ein umfassendes Genussrecht an der Sache, das sowohl das Gebrauchsrecht als auch das Recht auf die natürlichen und zivilen Früchte umfasst. Die Parteien können jedoch bestimmte Befugnisse dem Eigentümer vorbehalten.
  2. Begründung und Auslegung (Art. 746 Abs. 2, 657 Abs. 1 ZGB): Die Begründung erfolgt durch Rechtsgeschäft (hier: Kaufvertrag) und bedarf bei Liegenschaften der öffentlichen Beurkundung. Bei der Auslegung von Verträgen muss der Richter zunächst den tatsächlichen und gemeinsamen Willen der Parteien ermitteln (subjektive Auslegung, Sachverhaltsfrage). Dabei sind alle Erklärungen, Verhaltensweisen und Umstände vor, während und nach Vertragsabschluss zu berücksichtigen. Gelingt dies nicht, ist der Vertrag nach dem Vertrauensprinzip objektiv auszulegen, wie eine Erklärung oder Haltung nach Treu und Glauben verstanden werden durfte (Rechtsfrage) (ATF 144 III 93 E. 5.2.2 f.).
  3. Beendigung der Nutzniessung (Art. 748 ZGB): Die Nutzniessung erlischt bei totalem Untergang der Sache. Bei Liegenschaften erlischt sie auch durch Löschung im Grundbuch, sofern die Eintragung für ihre Begründung notwendig war (Art. 748 Abs. 1 ZGB). Andere Erlöschungsgründe wie Fristablauf, Verzicht oder Tod des Nutzniessers geben dem Eigentümer lediglich das Recht, die Löschung zu verlangen (Art. 748 Abs. 2 ZGB).
  4. Analoge Anwendung von Art. 736 ZGB: Die Lehre bejaht die analoge Anwendung von Art. 736 ZGB (Dienstbarkeiten) auf die Beendigung der Nutzniessung. Dabei wird der Nutzniesser dem Eigentümer des berechtigten Grundstücks und der Nackteigentümer dem Eigentümer des belasteten Grundstücks gleichgestellt.
C. Art. 736 ZGB im Detail
  1. Art. 736 Abs. 1 ZGB (vollständiger Nutzenverlust): Der Eigentümer des belasteten Grundstücks kann die Löschung einer Dienstbarkeit verlangen, wenn diese für das berechtigte Grundstück jeden Nutzen verloren hat. In diesem Fall ist keine Entschädigung geschuldet.
  2. Art. 736 Abs. 2 ZGB (verminderter Nutzen): Hat eine Dienstbarkeit nur noch einen gegenüber der Belastung des Grundstücks unverhältnismässig geringen Nutzen, kann der Eigentümer des belasteten Grundstücks die vollständige oder teilweise Ablösung gegen Entschädigung verlangen. Dies setzt voraus, dass die Umstände, die zur unverhältnismässigen Belastung führen, nach Begründung der Dienstbarkeit eingetreten sind und das Interesse am Fortbestand der Dienstbarkeit relativ gering geworden ist (ATF 107 II 331 E. 4).
  3. Kriterien für "Nützlichkeit": Die Nützlichkeit für das berechtigte Grundstück definiert sich durch das Interesse des Eigentümers, die Dienstbarkeit ihrem Gegenstand und Inhalt entsprechend auszuüben. Dabei ist das Identitätsprinzip der Dienstbarkeit zu beachten, wonach ein solches Recht nicht für einen anderen Zweck als den ursprünglich begründeten aufrechterhalten werden kann (ATF 151 III 313 E. 2). Das Interesse des Berechtigten ist nach objektiven Kriterien zu beurteilen (ATF 130 III 554 E. 2). Die Beweislast für den Nutzenverlust obliegt dem Eigentümer des belasteten Grundstücks (Art. 8 ZGB). Die Frage, ob eine Dienstbarkeit noch einen ihrem ursprünglichen Zweck entsprechenden Nutzen hat, ist im Einzelfall nach richterlichem Ermessen (Art. 4 ZGB) zu beurteilen.
  4. Spezifische Anforderungen für Nutzniessung (Lehre): Mehrere Autoren sehen die Anwendbarkeit von Art. 736 Abs. 1 ZGB (vollständiger Nutzenverlust) bei der Nutzniessung als selten oder sogar theoretisch an. Es genüge nicht, dass der Nutzniesser subjektiv nicht mehr in der Lage ist, die Sache persönlich und direkt zu nutzen. Solange er die Sache in irgendeiner Weise nutzen oder von ihr profitieren kann (z.B. ihren wirtschaftlichen Wert ausschöpfen), bleibt ein objektives Interesse bestehen. Eine Anwendung von Art. 736 Abs. 1 ZGB ist nur denkbar, wenn das Recht aus dieser Sicht gänzlich uninteressant erscheint.
D. Anwendung auf den vorliegenden Fall
  1. Das Bundesgericht hielt zunächst fest, dass die vorinstanzliche Feststellung, das Nutzniessungsrecht sei lebenslänglich zugunsten des Ehemanns begründet worden, für das Bundesgericht verbindlich ist (Art. 105 Abs. 1 LTF). Dies widerlegte die Behauptung der Beschwerdegegnerin, das Recht sei nur für die Dauer der gemeinsamen Ehe vereinbart worden.
  2. Das Bundesgericht äusserte Zweifel an der vorinstanzlichen Auslegung der Parteienabsicht. Die Formulierung "gemeinsam" im Kaufvertrag und die Erklärungen der Parteien, den gemeinsamen Sohn vor den Halbgeschwistern zu schützen, führten nicht zwingend zu der Schlussfolgerung, dass der Ehemann das Chalet nur gleichzeitig mit der Ehefrau und ausschliesslich im Ehekontext nutzen durfte. Die gemeinsame Nutzung einer Sache bedeute nicht zwingend eine gleichzeitige Nutzung, und auch zwischen Personen ohne bestehende Beziehung sei eine solche Aufteilung (z.B. Time-Sharing) üblich.
  3. Massgeblicher Fehler der Vorinstanz: Das Bundesgericht stellte fest, dass die vorinstanzlichen Erwägungen, die eine unauflösbare Verbindung zwischen der Mitbenutzung des Chalets und dem Ehekontext sowie die Unzumutbarkeit einer weiteren Nutzung durch den Ex-Ehemann postulierten, sich ausschliesslich auf das Gebrauchsrecht des Nutzniessers konzentrierten. Sie liessen ausser Acht, dass die Nutzniessung nicht nur das Gebrauchsrecht, sondern auch das Recht auf Genuss (droit d'en jouir) umfasst (Art. 745 Abs. 2 ZGB). Dieses Recht ermöglicht es dem Nutzniesser, den wirtschaftlichen Wert der Sache auszuschöpfen, solange sein Recht besteht.
  4. Fazit zur Nutzniessung im konkreten Fall: Auch wenn man dem Beschwerdeführer einen subjektiven Interessensverlust an der Nutzung des Chalets aufgrund der Scheidung unterstellen würde, so behält er doch zumindest ein objektives Interesse an der Verwertung ihres wirtschaftlichen Wertes.
  5. Rechtsverletzung: Folglich hat das Kantonsgericht Art. 736 Abs. 1 ZGB verletzt, indem es davon ausging, die Nutzniessung habe objektiv jegliches Interesse verloren und könne entschädigungslos gelöscht werden. Die Voraussetzungen für einen vollständigen Nutzenverlust im Sinne dieser Bestimmung waren nicht erfüllt.
  6. Folge: Die Beschwerde ist begründet. Das angefochtene Urteil muss aufgehoben und die Sache an das Kantonsgericht zurückverwiesen werden, damit es eine Ablösung des Nutzniessungsrechts unter Anwendung von Art. 736 Abs. 2 ZGB prüft, was eine Entschädigungspflicht impliziert.
VII. Kurze Zusammenfassung der wesentlichen Punkte

Das Bundesgericht hat entschieden, dass die Löschung eines lebenslänglichen Nutzniessungsrechts an einem Chalet im Falle einer Scheidung nicht entschädigungslos gemäss Art. 736 Abs. 1 ZGB erfolgen kann. Obwohl der Nutzniesser möglicherweise kein Interesse mehr an der persönlichen, gemeinsamen Nutzung der Liegenschaft mit der ehemaligen Ehefrau hat, behält das Nutzniessungsrecht seinen wirtschaftlichen Wert und damit ein objektives Interesse an dessen Verwertung (Genussrecht). Das blosse Fehlen eines Gebrauchsinteresses genügt nicht für einen vollständigen Nutzenverlust. Daher muss die Vorinstanz prüfen, ob die Voraussetzungen für eine Ablösung gegen Entschädigung gemäss Art. 736 Abs. 2 ZGB erfüllt sind. Die Sache wurde zu diesem Zweck an die Vorinstanz zurückgewiesen.