Zusammenfassung von BGer-Urteil 2C_64/2025 vom 21. Oktober 2025

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Detaillierte Zusammenfassung des Urteils des Schweizerischen Bundesgerichts 2C_64/2025 vom 21. Oktober 2025 I. Einleitung und Sachverhalt

Das Urteil des Bundesgerichts 2C_64/2025 vom 21. Oktober 2025 betrifft die Umwandlung einer vorläufigen Aufnahme (Ausweis F) in eine Aufenthaltsbewilligung. Das Staatssekretariat für Migration (SEM) rekurrierte gegen einen Entscheid des Genfer Cour de justice, welcher die Umwandlung der vorläufigen Aufnahme des Beschwerdegegners A.__ angeordnet hatte.

Der Beschwerdegegner, ein 1985 geborener eritreischer Staatsangehöriger, reiste am 1. August 2014 mit seiner Familie in die Schweiz ein. Sein Asylgesuch wurde am 20. September 2016 vom SEM abgewiesen, jedoch wurde ihm aufgrund der Unzumutbarkeit der Wegweisung eine vorläufige Aufnahme (gemäss Art. 83 Abs. 4 AIG) gewährt. Seit September 2016 besitzt er eine F-Bewilligung, die regelmässig verlängert wurde. Bei seiner Ankunft legte A.__ eine schlechte Kopie seiner eritreischen Identitätskarte vor und gab an, das Original in Libyen verloren zu haben, sowie den Militärdienst in Eritrea nicht absolviert zu haben.

Im November 2019 ersuchte A._ um Umwandlung seiner vorläufigen Aufnahme in eine Aufenthaltsbewilligung. Nach einer anfänglichen Ablehnung durch das kantonale Amt und das erstinstanzliche Verwaltungsgericht, welches die Notwendigkeit eines gültigen eritreischen Passes betonte, verwies die Genfer Cour de justice die Sache zur Ergänzung des Sachverhalts zurück. In einem erneuten Verfahren lehnte das kantonale Amt das Gesuch erneut ab, was vom Verwaltungsgericht bestätigt wurde. Die Cour de justice Genf hiess jedoch am 10. Dezember 2024 die Beschwerde des A._ gut und wies das kantonale Amt an, der Umwandlung der vorläufigen Aufnahme in eine Aufenthaltsbewilligung zuzustimmen. Dagegen reichte das SEM beim Bundesgericht Beschwerde ein.

II. Streitgegenstand

Der Kern des Rechtsstreits dreht sich um die Frage, ob die Umwandlung der vorläufigen Aufnahme in eine Aufenthaltsbewilligung von der Bedingung abhängig gemacht werden darf, dass der Beschwerdegegner einen gültigen eritreischen Pass vorlegt, insbesondere wenn dies die Unterzeichnung eines sogenannten "Reueschreibens" erfordert.

III. Massgebende Rechtsgrundlagen und Vorinstanzliche Würdigung
  1. Umwandlung der vorläufigen Aufnahme (Art. 84 Abs. 5 AIG): Nach Art. 84 Abs. 5 AIG werden Gesuche von vorläufig aufgenommenen Ausländern, die seit mehr als fünf Jahren in der Schweiz leben, vertieft geprüft, unter Berücksichtigung ihres Integrationsgrades, ihrer familiären Situation und der Zumutbarkeit einer Rückkehr ins Herkunftsland. Diese Bestimmung begründet keinen automatischen Rechtsanspruch, sondern verpflichtet die Behörden zur umfassenden Prüfung dieser Parameter. Art. 96 Abs. 1 AIG verlangt eine ähnliche Interessenabwägung wie Art. 8 Abs. 2 EMRK. Das öffentliche Interesse an der Aufrechterhaltung der vorläufigen Aufnahme nimmt ab, wenn eine Wegweisung in absehbarer Zeit nicht möglich ist.

  2. Identitätsnachweis und Ausweispflicht (Art. 13 Abs. 1, 89, 90 lit. c AIG, Art. 8 Abs. 1, 31 Abs. 2 OASA): Gemäss Art. 13 Abs. 1 und 89 AIG muss jeder Ausländer einen gültigen und anerkannten Ausweis besitzen. Art. 90 lit. c AIG statuiert eine Mitwirkungspflicht zur Beschaffung von Identitätspapieren. Art. 31 Abs. 2 OASA verlangt bei der Umwandlung der vorläufigen Aufnahme die "Offenlegung der Identität". Obwohl diese Bestimmung nicht explizit die Vorlage eines gültigen Ausweises verlangt, leitet das Bundesgericht diese Forderung aus dem systematischen Zusammenhang mit Art. 89 und 90 AIG ab. Die Beschaffung eines gültigen Reisepasses als Zusatzbedingung zur Bewilligungserteilung ist grundsätzlich zulässig.

  3. Ausnahmen von der Ausweispflicht (Art. 8 Abs. 2 OASA): Auf die Vorlage eines gültigen ausländischen Ausweises kann verzichtet werden, wenn dessen Beschaffung nachweislich unmöglich (lit. a) ist oder wenn die Beantragung oder Verlängerung bei den Behörden des Herkunftsstaates dem Betroffenen nicht zugemutet werden kann (lit. b). Dies gilt insbesondere, wenn die vorläufige Aufnahme wegen Unzulässigkeit der Wegweisung (Art. 83 Abs. 3 AIG) erfolgte und ein Zusammenhang zwischen dieser Unzulässigkeit und dem Risiko schlechter Behandlungen durch die Behörden besteht.

  4. Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens): Der Status der vorläufigen Aufnahme kann unter Umständen einen Eingriff in das Privatleben gemäss Art. 8 EMRK darstellen. Ein solcher Eingriff ist nur gerechtfertigt, wenn er einem öffentlichen Interesse dient und verhältnismässig ist.

IV. Würdigung der Vorinstanz durch das Bundesgericht

Die Genfer Cour de justice hatte festgestellt, dass der Beschwerdegegner seit zehn Jahren in der Schweiz lebt und seit über fünf Jahren vorläufig aufgenommen ist. Er sei umfassend integriert: keine Strafverfolgung, keine Vorstrafen, seit 2019 finanziell unabhängig und beim gleichen Arbeitgeber tätig, sowie französischsprachig. Ferner sei nicht absehbar, dass der Status der vorläufigen Aufnahme in absehbarer Zeit aufgehoben und eine Wegweisung vollzogen werden könnte. Das SEM bestritt diese Feststellungen nicht. Damit erfüllte der Beschwerdegegner alle Kriterien des Art. 84 Abs. 5 AIG.

Die Cour de justice hielt grundsätzlich an der Notwendigkeit eines eritreischen Passes fest, befand aber im konkreten Fall, dass dem Beschwerdegegner die Unterzeichnung des von eritreischen Behörden geforderten "Reueschreibens" nicht zugemutet werden könne, da ein Risiko von Behandlungen gemäss Art. 3 EMRK bei einer Rückkehr nach Eritrea nicht ausgeschlossen werden könne. Sie erachtete das öffentliche Interesse an der Aufrechterhaltung der vorläufigen Aufnahme als gering und das private Interesse des Beschwerdegegners (erschwerter Arbeitsmarktzugang, Mobilitätseinschränkungen) als höherwertig.

V. Erwägungen des Bundesgerichts zur Passbeschaffung und zum "Reueschreiben"

Das Bundesgericht fokussierte seine Prüfung auf die Frage, ob die Verpflichtung zur Beschaffung eines eritreischen Passes, die die Unterzeichnung des "Reueschreibens" beinhaltet, zulässig ist.

  1. Identitätsnachweis und Rückkehrgewährleistung: Die Passpflicht dient primär der Identitätsprüfung und der Sicherstellung der jederzeitigen Rückkehrmöglichkeit. Im vorliegenden Fall hatte das kantonale Amt "keine Zweifel" an der Identität des Beschwerdegegners, und das SEM führte keine konkreten Probleme im Zusammenhang mit seiner Identität an. Die Anforderung eines Passes zielte somit primär auf die Rückkehr ab, die jedoch im Rahmen dieses Bewilligungsverfahrens nicht im Vordergrund stand und nicht absehbar war. Das öffentliche Interesse an der Vorlage eines eritreischen Passes war daher "nicht evident". Die Passpflicht ist zudem nicht absolut (Art. 8 Abs. 2 OASA).

  2. Das "Reueschreiben":

    • Inhalt und Kontext: Eritreische Behörden verlangen von Staatsangehörigen, die das Land illegal verlassen oder den Nationaldienst nicht absolviert haben, neben einer "Diaspora-Steuer" (die hier nicht strittig ist) die Unterzeichnung eines "Reueschreibens". Dieses Schreiben enthält ein Schuldeingeständnis: "Ich bedauere, eine Straftat begangen zu haben, indem ich den Nationaldienst nicht abgeschlossen habe, und bin bereit, zu gegebener Zeit eine angemessene Strafe zu akzeptieren." Das Bundesgericht war an die Feststellung der Vorinstanz gebunden, dass der Beschwerdegegner dieses Schreiben unterzeichnen müsste.
    • Menschenrechtslage in Eritrea: Die Menschenrechtslage in Eritrea wird als "kritisch" und "besonders besorgniserregend" bezeichnet (UNO-Sonderberichterstatter-Bericht 2025). Der Nationaldienst dauert in der Praxis unbestimmt lang und ist von willkürlicher Behandlung, unhygienischen und unmenschlichen Bedingungen geprägt. Wer sich dem Militärdienst entzieht oder desertiert, riskiert bei einer Rückkehr gemäss ständiger Rechtsprechung (u.a. BGE 6B_550/2023, E-4073/2024 des Bundesverwaltungsgerichts) eine Behandlung im Widerspruch zu Art. 3 EMRK.
    • Folgen des "Reueschreibens": Die Auswirkungen des "Reueschreibens" sind umstritten. Während einige Quellen suggerieren, es könnte einen gewissen Schutz bieten und die Situation "legalisieren" (EGMR M.O. gegen Schweiz 2017), betonen andere (EASO, CAT), dass es keine Garantie vor Verfolgung bietet und die Informationslage schwierig ist. Der Ausschuss gegen Folter (CAT) hielt fest (Kibrom Berhane gegen Schweiz 2023), dass die Unmöglichkeit, genaue Informationen über die Behandlung von Rückkehrern zu erhalten, es unmöglich mache, das Fehlen eines Risikos von Art. 3 CAT-Verletzungen anzunehmen.
  3. Vergleich mit relevanter Rechtsprechung:

    • Schweizerische Rechtsprechung: Das Bundesverwaltungsgericht (u.a. F-4605/2022) vertritt die Auffassung, dass das "Reueschreiben" und die 2%-Steuer per se keine Unzumutbarkeit oder Unmöglichkeit zur Beschaffung von Reisedokumenten (Art. 10 ODV) begründen. Das Bundesgericht selbst hatte in einem Strafverfahren (6B_1471/2021) entschieden, dass diese Bedingungen allein keine objektive Unmöglichkeit zur Passbeschaffung im Sinne des Strafrechts begründen. Das nemo tenetur-Prinzip (Selbstbezichtigungsverbot) wurde in diesem Zusammenhang für das Strafverfahren als nicht anwendbar erachtet.
    • Deutsche Rechtsprechung (Querverweis): Das deutsche Bundesverwaltungsgericht (BVerwG 1 C 9.21, 2022) hat eine abweichende Position eingenommen. Es verlangte eine Interessenabwägung und kam zum Schluss, dass die Koppelung der Passerteilung an ein Selbstbezichtigungsgeständnis sich derart von einem rechtsstaatlichen Verfahren entferne, dass der Ausländer von den deutschen Behörden nicht dazu gezwungen werden dürfe. Ein solches Vorgehen sei unzulässig. Diese Auffassung wurde auch in einer BMI-Zirkular von 2023 übernommen.
  4. Würdigung des Bundesgerichts im vorliegenden Fall:

    • Das Bundesgericht betonte, dass der vorliegende Fall nicht die Ausstellung von Reisedokumenten betrifft, sondern die Umwandlung einer Aufenthaltsbewilligung. Das Argument der "Souveränität" Eritreas sei hier weniger relevant.
    • Die Rechtsprechung des TAF und des Bundesgerichts im Strafrecht sei hier nicht direkt anwendbar, da die Folgen des "Reueschreibens" bei einer Rückkehr nach Eritrea zwar schwierig abzuschätzen seien, aber im Rahmen des aktuellen Bewilligungsverfahrens eine Rückkehr nicht zur Debatte stehe. Ein "risikofreier" Rückkehrzeitpunkt sei nicht absehbar, daher sei eine aktuelle Risikoanalyse sinnlos.
    • Interessenabwägung und Grundsatz der Nicht-Selbstbezichtigung: Das Bundesgericht führte eine Interessenabwägung zwischen dem öffentlichen Interesse am Identitätsnachweis und den privaten Interessen des Beschwerdegegners durch. Es stellte fest, dass der Grundsatz der Nicht-Selbstbezichtigung (nemo tenetur se ipsum accusare) zum Kern eines fairen Verfahrens gehört (Art. 6 § 1 EMRK, Art. 14 Abs. 3 lit. g UNO-Pakt II, Art. 29 Abs. 1, 32 Abs. 1 und 2 BV, Art. 7 BV, Art. 113 Abs. 1 und 158 Abs. 1 lit. b StPO).
    • Das "Reueschreiben" ist ein Schuldeingeständnis und die Akzeptanz einer künftigen Strafe. Zwar werde der Beschwerdegegner in der Schweiz nicht bestraft, wenn er die Zusammenarbeit verweigert, doch werde er gezwungen, sich selbst zu bezichtigen oder auf einen Aufenthaltstitel zu verzichten, für den er ansonsten alle gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt.
    • Das Bundesgericht erachtete es als unzulässig, das Ergebnis eines schweizerischen Verwaltungsverfahrens von einer Selbstbezichtigungserklärung abhängig zu machen, die offensichtlich den allgemein anerkannten internationalen Garantien und der schweizerischen Rechtsordnung widerspricht. Es sei "schockierend", eine solche Massnahme zu verlangen, die zudem keinen direkten Zusammenhang mit dem Erhalt von Identitätspapieren habe (da keine eritreische Rechtsgrundlage für diese Pflicht ersichtlich sei). Da die Identität des Beschwerdegegners unzweifelhaft feststand und er alle anderen gesetzlichen Voraussetzungen für eine Aufenthaltsbewilligung erfüllte, gab es keine Rechtfertigung für ein Vorgehen, das der schweizerischen Rechtsordnung so eklatant widerspricht.
  5. Relevanz von Art. 8 EMRK: Die Frage, ob die vorläufige Aufnahme im konkreten Fall einen Eingriff in Art. 8 EMRK darstellt (Mobilitätseinschränkungen, Schwierigkeiten auf dem Arbeitsmarkt), liess das Bundesgericht offen. Dies, weil die Forderung, einen eritreischen Pass unter den genannten Bedingungen zu beschaffen, bereits nach schweizerischem Landesrecht unzulässig ist.

VI. Entscheid des Bundesgerichts

Das Bundesgericht weist die Beschwerde des SEM ab. Es werden keine Gerichtskosten erhoben, und die Konföderation (SEM) hat dem Beschwerdegegner eine Parteientschädigung von 2'500 CHF zu zahlen.

VII. Kurze Zusammenfassung der wesentlichen Punkte

Das Bundesgericht hat entschieden, dass einem vorläufig aufgenommenen eritreischen Staatsangehörigen, der alle Integrationskriterien für eine Aufenthaltsbewilligung erfüllt, die Beschaffung eines eritreischen Passes nicht zugemutet werden kann, wenn dies die Unterzeichnung eines "Reueschreibens" erfordert. Dieses Schreiben, das ein Schuldeingeständnis und die Akzeptanz einer künftigen Strafe für die Nichterfüllung des Militärdienstes darstellt, verstösst gegen das in der schweizerischen Rechtsordnung und den internationalen Menschenrechtsgarantien (insbesondere Art. 6 EMRK, Art. 29, 32 BV) verankerte Prinzip der Nicht-Selbstbezichtigung (nemo tenetur se ipsum accusare). Die Identität des Betroffenen war unbestritten. Es ist nach Auffassung des Bundesgerichts unzulässig, die Erteilung eines schweizerischen Aufenthaltstitels von einer derart rechtsstaatswidrigen Forderung eines Herkunftsstaates abhängig zu machen. Die Frage einer Verletzung von Art. 8 EMRK wurde nicht abschliessend beurteilt, da bereits das Landesrecht die Forderung nach dem Pass als unzulässig erachtete.