Zusammenfassung von BGer-Urteil 6B_1295/2023 vom 19. September 2025

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Das vorliegende Urteil des Schweizerischen Bundesgerichts (BGer) vom 19. September 2025, Az. 6B_1295/2023, befasst sich im Wesentlichen mit der Rüge einer Verletzung des Anklagegrundsatzes sowie mit der willkürlichen Sachverhaltsfeststellung und Beweiswürdigung im Zusammenhang mit Schuldsprüchen wegen mehrfacher Vergewaltigung und mehrfacher Drohung.

I. Ausgangslage und vorinstanzliche Entscheidungen

Der Beschwerdeführer A._ wurde vom Regionalgericht Bern-Mittelland am 8. Dezember 2021 der Nötigung und eines Vergehens gegen das Strassenverkehrsgesetz schuldig gesprochen, jedoch von den Vorwürfen der mehrfachen Vergewaltigung und mehrfachen Drohung zum Nachteil von B._ freigesprochen. Des Weiteren erfolgte ein Freispruch von Widerhandlungen gegen das Waffen- und Umweltschutzgesetz. Die Zivilklage von B.__ wurde auf den Zivilweg verwiesen.

Gegen dieses Urteil legten die Generalstaatsanwaltschaft und B.__ Berufung ein. Der Beschwerdeführer erhob weder Anschlussberufung noch beantragte er ein Nichteintreten.

Mit Urteil vom 17. Mai 2023 stellte das Obergericht des Kantons Bern eine Verletzung des Beschleunigungsgebots fest, wodurch die Freisprüche betreffend Waffen- und Umweltschutzgesetz sowie die Schuldsprüche wegen Nötigung und Strassenverkehrsgesetz rechtskräftig wurden. Das Obergericht erklärte den Beschwerdeführer jedoch der mehrfachen Vergewaltigung und der mehrfachen Drohung zum Nachteil von B.__ schuldig. Es verurteilte ihn zu einer Freiheitsstrafe von 41 Monaten und einer bedingten Geldstrafe. Im Zivilpunkt wurde A._ zur Zahlung einer Genugtuung von CHF 15'000 an B._ verurteilt, während die Schadenersatzforderung auf den Zivilweg verwiesen wurde.

Gegen dieses obergerichtliche Urteil reichte A.__ Beschwerde in Strafsachen beim Bundesgericht ein, mit dem Antrag, ihn von den Vorwürfen der mehrfachen Vergewaltigung und mehrfachen Drohung freizusprechen und die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.

II. Wesentliche Punkte und rechtliche Argumente des Bundesgerichts

Das Bundesgericht prüfte die vom Beschwerdeführer erhobenen Rügen, nämlich die Verletzung des Anklagegrundsatzes und des Rechts auf rechtliches Gehör sowie die willkürliche Sachverhaltsfeststellung und Beweiswürdigung.

1. Verletzung des Anklagegrundsatzes und des Rechts auf rechtliches Gehör (E. 1)

Der Beschwerdeführer machte geltend, die Vorinstanz sei hinsichtlich des Vorwurfs der Drohung (Ziff. 2.2 der Anklageschrift) von einem anderen Sachverhalt ausgegangen, insbesondere bezüglich des Orts der Tatausführung, was eine Verletzung des Immutabilitätsprinzips und des Rechts auf rechtliches Gehör darstelle.

  • Massgebende Rechtsgrundlagen: Das Bundesgericht erläuterte den aus Art. 29 Abs. 2 und Art. 32 Abs. 2 BV sowie Art. 6 Ziff. 1 und 3 lit. a und b EMRK abgeleiteten Anklagegrundsatz (Art. 9 und Art. 325 StPO). Dieser dient der Umgrenzungs- und Informationsfunktion. Die Anklageschrift muss die vorgeworfenen Taten mit Ort, Datum, Zeit, Art und Folgen möglichst genau bezeichnen (Art. 325 Abs. 1 lit. f StPO) und die erfüllten Straftatbestände nennen (Art. 325 Abs. 1 lit. g StPO). Entscheidend ist, dass die beschuldigte Person genau weiss, welcher Handlungen sie beschuldigt wird, um sich verteidigen zu können (BGE 143 IV 63 E. 2.2). Ungenauigkeiten sind unbedeutend, solange keine Zweifel am vorgeworfenen Verhalten bestehen. Das Gericht ist an den in der Anklage umschriebenen Sachverhalt, nicht aber an die rechtliche Würdigung gebunden (Art. 350 Abs. 1 StPO). Eine Verletzung liegt vor, wenn das Gericht über den angeklagten Sachverhalt hinausgeht oder die Anklage den Anforderungen nicht genügt. Änderungen im Tatgeschehen sind zulässig, sofern sie für die rechtliche Qualifikation nicht ausschlaggebend sind und die beschuldigte Person Stellung nehmen konnte (Urteil 6B_863/2024 vom 25. Juni 2025 E. 1.1).

  • Anwendung im vorliegenden Fall: Das Bundesgericht stellte fest, dass die vorgeworfene Tat – die Drohung mittels "Kehlenschnittgeste" durch den Beschwerdeführer in einem schwarzen Porsche in T._ am 7. November 2016 – stets klar identifizierbar war. Die Ungenauigkeit bezüglich der genauen Kreuzung ("S.__strasse, Höhe Restaurant D._" vs. "U.__strasse/V.__strasse") war nicht von entscheidender Bedeutung, da der Beschwerdeführer den Vorwurf der Tat an sich vollumfänglich bestritten hatte. Die Verteidigung hatte zudem Gelegenheit, die Unstimmigkeit in den Aussagen der Beschwerdegegnerin 2 bereits in der ersten Instanz und erneut vor der Vorinstanz zu thematisieren und Fragen zu stellen. Die Vorinstanz setzte sich in ihrer Beweiswürdigung eingehend mit diesen Fragen auseinander. Eine wirksame Verteidigung wurde nicht erschwert oder verunmöglicht. Das Bundesgericht verneinte somit eine Verletzung des Anklageprinzips oder des Anspruchs auf rechtliches Gehör.

2. Willkürliche Sachverhaltsfeststellung und Beweiswürdigung (E. 2)

Der Beschwerdeführer rügte eine Vielzahl von Aspekten der Beweiswürdigung als willkürlich, darunter die Nichtberücksichtigung der Ereignisse vor der Versöhnungskommission, die Ablehnung der Zeugenaussage E._, die Relativierung und Berücksichtigung von Widersprüchen in B._'s Aussagen, die Unglaubwürdigkeitseinstufung seiner eigenen Aussagen, die Ausblendung zivilrechtlicher Vorgänge und die "tatsachenwidrige" Interpretation der Ortsbeschreibung.

  • Allgemeine Grundsätze der Willkürprüfung: Das Bundesgericht erinnerte daran, dass die Rüge der Willkür gemäss Art. 106 Abs. 2 BGG qualifizierte Anforderungen stellt. Willkür liegt nur vor, wenn die Beweiswürdigung schlechterdings unhaltbar ist, d.h. wenn sie in klarem Widerspruch zur tatsächlichen Situation steht oder auf einem offenkundigen Fehler beruht. Eine andere mögliche Lösung genügt nicht (BGE 148 IV 356 E. 2.1). Die Willkürrüge muss explizit und substanziiert begründet werden. Der Grundsatz "in dubio pro reo" als Beweiswürdigungsregel hat vor Bundesgericht keine über das Willkürverbot hinausgehende Bedeutung. Bei Indizienbeweisen kann eine Mehrzahl von Indizien, die isoliert betrachtet Zweifel offenlassen, in ihrer Gesamtheit einen vollen Beweis ergeben (Urteil 6B_204/2024 vom 2. Juli 2025 E. 1.3.2). Eine willkürliche Beweiswürdigung muss sich auf die gesamte Beweislage beziehen, nicht nur auf einzelne Indizien.

  • Detaillierte Prüfung der Rügen:

    • Versöhnungskommission (E. 2.3.1): Das Bundesgericht stützte die Vorinstanz in deren Einschätzung, dass der Vereinbarung der kurdischen Versöhnungs- und Friedenskommission kein Beweiswert zukommt. Diese sei keine rechtsstaatlich anerkannte Institution, handle nicht nach den Regeln der StPO, und ihre Arbeitsweise sei unbekannt. Die Vereinbarung enthielt hauptsächlich belastende Eingeständnisse der Beschwerdegegnerin 2, welche angab, unter Druck und aus Angst unterschrieben zu haben. Die Vergewaltigungen seien dort kein Thema gewesen. Das Bundesgericht sah die Ansicht der Vorinstanz, wonach den angeblichen Eingeständnissen keine "Erstaussagequalität" zukomme, als nicht willkürlich an.
    • Aussagen der Zeugin E.__ (E. 2.3.2): Das Bundesgericht bestätigte die vorinstanzliche Würdigung, die Aussagen der Zeugin E.__ nicht zu berücksichtigen, da eine Beeinflussung unklar war, ihre Aussagen anderen übereinstimmten Aussagen widersprachen und sie zum Kerngeschehen keine sachdienlichen Angaben machen konnte. Ihre Schilderungen wirkten subjektiv und widersprachen dem Eindruck der Beschwerdegegnerin 2.
    • Glaubhaftigkeit der Aussagen der Beschwerdegegnerin 2 (E. 2.3.3 ff.):
      • Heiratsdatum: Die Schwierigkeit der Beschwerdegegnerin 2, sich an ein genaues Datum der traditionell-islamischen Hochzeit zu erinnern, wurde von der Vorinstanz schlüssig als erklärbar beurteilt (keine Heiratsurkunde, Heirat als Prozess, der Beschwerdeführer konnte sich ebenfalls nicht erinnern).
      • Anfängliches Verschweigen der Vergewaltigungsvorwürfe: Das Bundesgericht bestätigte die Vorinstanz, die das anfängliche Verschweigen der Vorwürfe als nachvollziehbar im Kontext von Angst, Scham und kulturellen Gründen erklärte, welche bei Opfern sexueller Gewalt (insbesondere in Beziehungen) notorisch seien (E. 2.3.5).
      • Realkennzeichen: Die Vorinstanz identifizierte zahlreiche Realkennzeichen in den konstanten, emotionalen und überzeugenden Aussagen der Beschwerdegegnerin 2. Diese umfassten detaillierte und plastische Schilderungen der Vergewaltigungen, das Fehlen von Aggravationstendenzen und eine chronologisch komplexe Erzählung, die nicht den Eindruck einer Erfindung vermittelte (E. 2.3.6).
      • Stützung durch weitere Berichte: Die Aussagen der Beschwerdegegnerin 2 wurden durch Berichte des Hausarztes, eines Polizeirapports zu häuslicher Gewalt, eines KESB-Berichts und polizeilicher Abklärungen zum negativen Verhalten des Beschwerdeführers bestätigt (E. 2.3.4).
    • Glaubwürdigkeit des Beschwerdeführers (E. 2.3.4): Die Vorinstanz stufte die Aussagen des Beschwerdeführers als "reich an Lügensignalen" ein, was das Bundesgericht nicht als willkürlich befand.
    • Unstimmigkeiten bei Drohvorwürfen (E. 2.3.7, 2.3.9):
      • Drohung Ziff. 2.1 (Ohrfeige): Die geringfügige Abweichung bei der Schilderung einer Ohrfeige wurde von der Vorinstanz als von untergeordneter Bedeutung und nicht geeignet, die ansonsten konstanten Aussagen zu entkräften, beurteilt. Dies hielt das Bundesgericht für nicht willkürlich.
      • Drohung Ziff. 2.2 (Ortsbezeichnung): Die detaillierte Auseinandersetzung der Vorinstanz mit den ursprünglichen Ungenauigkeiten der Ortsbezeichnung in der Anklageschrift und der Erklärung der Beschwerdegegnerin 2 (agitierter Zustand, polizeiliche Optionen, spätere Präzisierung mittels Google Maps) wurde als überzeugend und nicht willkürlich befunden.
    • Kein Eintreten auf neue Rügen (E. 2.4): Die erstmals vor Bundesgericht vorgebrachten Rügen bezüglich Aussagen in anderen Verfahren wurden mangels materieller Ausschöpfung des Instanzenzugs nicht zugelassen (Art. 80 Abs. 1 BGG).
    • Zurückweisung appellatorischer Kritik (E. 2.5): Viele Ausführungen des Beschwerdeführers wurden als reine appellatorische Kritik an der vorinstanzlichen Beweiswürdigung gewertet, auf die das Bundesgericht gemäss Art. 42 Abs. 2 und Art. 106 Abs. 2 BGG nicht eintrat. Der Beschwerdeführer präsentierte lediglich seine Sicht der Dinge, ohne Willkür im Sinne der bundesgerichtlichen Rechtsprechung darzulegen.
    • Keine willkürliche Gesamtbetrachtung (E. 2.6): Das Bundesgericht kam zum Schluss, dass die Vorinstanz eine umfassende und nicht willkürliche Beweiswürdigung vorgenommen hat, indem sie die gesamthafte Konstanz der Aussagen der Beschwerdegegnerin 2 höher gewichtete als vereinzelte Widersprüche und psychologischen sowie sozialen Umständen Rechnung trug. Eine festgestellte Unsicherheit bezüglich des Heiratsdatums war nicht ausreichend, um den aus der Gesamtheit der Indizien gezogenen Schluss als willkürlich zu erachten.

III. Fazit

Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit darauf eingetreten wird. Der Beschwerdeführer hat die Gerichtskosten zu tragen.

Zusammenfassung der wesentlichen Punkte:

  1. Anklagegrundsatz: Eine Ungenauigkeit in der Ortsbezeichnung einer Drohung verletzt den Anklagegrundsatz nicht, solange das vorgeworfene Verhalten klar identifizierbar bleibt, die beschuldigte Person keine Zweifel am Vorwurf haben konnte und die Verteidigung die Möglichkeit hatte, dazu Stellung zu nehmen.
  2. Willkürliche Beweiswürdigung: Die Rüge der Willkür erfordert den Nachweis, dass die vorinstanzliche Würdigung schlechterdings unhaltbar ist, nicht lediglich, dass eine andere Lösung möglich wäre.
  3. Beweiswert von "Versöhnungskommissionen": Einer Vereinbarung, die unter nicht rechtsstaatlichen Bedingungen zustande kommt und hauptsächlich einseitige Zugeständnisse enthält, wird im Strafverfahren kein Beweiswert beigemessen, insbesondere wenn Anzeichen von Druck oder mangelnder Information bestehen.
  4. Glaubhaftigkeit von Opferaussagen: Das anfängliche Verschweigen von Sexualdelikten durch das Opfer ist aufgrund psychologischer und sozialer Faktoren (Angst, Scham, kulturelle Gründe) nachvollziehbar und begründet in der Regel keinen Zweifel an der Glaubhaftigkeit der Aussagen. Die Identifizierung von Realkennzeichen und die Bestätigung durch weitere Beweise stützen die Glaubhaftigkeit.
  5. Umgang mit Widersprüchen: Geringfügige oder erklärbare Unstimmigkeiten in Aussagen, insbesondere bei lange zurückliegenden Ereignissen oder in emotional aufgewühlten Situationen, sind nicht per se geeignet, die Glaubhaftigkeit einer Zeugenaussage zu untergraben, wenn die Aussagen im Kern konstant und schlüssig sind und eine Gesamtwürdigung überzeugend ist.