Zusammenfassung von BGer-Urteil 6B_1137/2023 vom 20. Oktober 2025

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Das Bundesgericht hatte über zwei Beschwerden in Strafsachen zu befinden, die gegen ein Urteil des Kantonsgerichts Basel-Landschaft vom 15. Februar 2023 gerichtet waren. Die Beschwerdeführer A._ (Beschwerdeführer 1) und B._ (Beschwerdeführer 2) wurden vom Kantonsgericht wegen Angriffs zum Nachteil von C._ (Anklagepunkt 2) schuldig gesprochen. A._ wurde zusätzlich wegen Raufhandels und Landfriedensbruchs (Anklagepunkt 1) verurteilt. Die Beschwerdeführer fochten die Schuldsprüche sowie damit verbundene Nebenfolgen an und rügten im Wesentlichen formelle Mängel des vorinstanzlichen Verfahrens sowie eine willkürliche Sachverhaltsfeststellung und Verletzung des Grundsatzes "in dubio pro reo".

I. Sachverhalt und Vorinstanzliche Entscheidungen

Das Kantonsgericht legte seinem Urteil im Wesentlichen folgenden Sachverhalt zugrunde: Am 8. Oktober 2016 kam es im Rahmen eines Oktoberfestbesuchs im Restaurant E._ zu einer Auseinandersetzung. Nachdem D._ Bier auf C._ verschüttet hatte und es zu gegenseitigen Provokationen (Blickkontakte, Gesten, "Basel, Basler Hooligans"-Rufe) kam, verständigte sich die Gruppe um D._, A._ und B._ auf der Galerie und stürmte anschliessend koordiniert und gezielt auf C._ zu. B._ und A._ bildeten die "Speerspitze des Angreifertrupps". B._ packte C._ am Hals und versetzte ihm einen Faustschlag gegen den Kopf. D._ schlug ebenfalls auf C._ ein. A._, der auf einen Tisch oder eine Festbank gestiegen war, traktierte C._ von dort aus mit Faustschlägen und Fusskicken und sprang schliesslich auf ihn herauf. C._ ging zu Boden und konnte sich aufgrund des unvermittelten Angriffs nicht wehren. Weitere Schläge und Tritte erfolgten durch nicht näher bestimmbare Personen, bevor Sicherheitsangestellte eingriffen. C.__ erlitt ein leichtes Schädel-Hirn-Trauma mit kurzzeitiger Amnesie sowie diverse Schürfwunden und Hauteinblutungen.

Das Strafgericht hatte A._ nur wegen Raufhandels (Anklagepunkt 2) verurteilt und B._ freigesprochen. Das Kantonsgericht verschärfte die Urteile, sprach A.__ zusätzlich des Raufhandels und Landfriedensbruchs (Anklagepunkt 1) sowie beide Beschwerdeführer des Angriffs (Anklagepunkt 2) schuldig.

II. Rügen der Beschwerdeführer vor Bundesgericht

  1. Befangenheitsrüge (Beschwerdeführer 1 A.__): A.__ rügte eine Befangenheit des Kantonsgerichts, begründet durch dessen Fragestellung an der Berufungsverhandlung, die eine Voreingenommenheit und Verletzung der Unschuldsvermutung erkennen lasse (Art. 56 StPO, Art. 30 Abs. 1 BV, Art. 6 Ziff. 1 EMRK).
  2. Rüge der Unverwertbarkeit von Einvernahmen des Beschwerdegegners C._ (Beschwerdeführer 1 A._): A._ machte geltend, C._ hätte aufgrund der Aktenlage von Anfang an als beschuldigte Person einvernommen werden müssen und nicht als Auskunftsperson. Seine ersten beiden Einvernahmen seien daher absolut unverwertbar gemäss Art. 158 Abs. 1 i.V.m. Art. 141 Abs. 1 StPO.
  3. Rüge der unzulässigen nachträglichen Würdigung anonymer Zeugenaussagen (beide Beschwerdeführer): Die Beschwerdeführer monierten, das Kantonsgericht habe die als unverwertbar qualifizierten Aussagen anonymer Zeugen, die zu ihren Gunsten hätten wirken können, erst im Rahmen der Ausarbeitung der schriftlichen Urteilsbegründung und damit nach Fällung des Urteils gewürdigt. Dies verstosse gegen den Grundsatz der freien Beweiswürdigung (Art. 10 Abs. 2 StPO) und sei willkürlich.
  4. Rüge der willkürlichen Sachverhaltsfeststellung und Verletzung des Grundsatzes "in dubio pro reo" (beide Beschwerdeführer): Die Beschwerdeführer beanstandeten die vorinstanzliche Beweiswürdigung im Allgemeinen und im Besonderen hinsichtlich ihrer Beteiligung am Angriff.

III. Erwägungen des Bundesgerichts

  1. Zur Befangenheitsrüge (E. 2):

    • Rechtliche Grundlagen: Das Bundesgericht verweist auf Art. 56 StPO, Art. 30 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK, welche den Anspruch auf einen unvoreingenommenen Richter gewährleisten. Der Anschein der Befangenheit muss objektiv begründet sein, nicht bloss auf subjektivem Empfinden beruhen. Eine Ausstandsrüge muss gemäss Art. 58 Abs. 1 StPO unverzüglich, d.h. in der Regel innert weniger Tage nach Kenntnis des Ausstandsgrundes, gestellt werden. Ein Zuwarten verstösst gegen Treu und Glauben.
    • Anwendung und Begründung: Das Bundesgericht verneinte die Zulässigkeit der Rüge, da diese erstmals vor Bundesgericht erhoben wurde, obwohl der Beschwerdeführer 1 die angeblichen Ausstandsgründe bereits an der Berufungsverhandlung gekannt haben müsste. Die Rüge sei verspätet und verstosse gegen Treu und Glauben. Selbst materiell wären die kritisierten Fragen des Kantonsgerichts (z.B. nach Strategien, oder bezüglich Vorstrafen und Begutachtung) nicht objektiv geeignet, den Anschein der Befangenheit zu erwecken. Sie gehörten zum Bereich zulässiger richterlicher Befragung, insbesondere angesichts früherer Einräumungen des Mitbeschuldigten und der Relevanz von Vorstrafen für die Strafzumessung.
  2. Zur Rüge der Unverwertbarkeit der Einvernahmen von C.__ (E. 3):

    • Rechtliche Grundlagen: Gemäss Art. 42 Abs. 2 und Art. 106 Abs. 2 BGG muss eine Rüge hinreichend begründet sein und deren Relevanz für den Ausgang des Verfahrens aufzeigen. Formelle Mängel sind gemäss Treu und Glauben so früh wie möglich geltend zu machen und können nicht für das Rechtsmittelverfahren "aufgespart" werden.
    • Anwendung und Begründung: Das Bundesgericht trat auf die Rüge nicht ein. Erstens begründete der Beschwerdeführer 1 nicht, inwiefern die behauptete Unverwertbarkeit der Aussagen des Beschwerdegegners 2 das vorinstanzliche Beweisergebnis massgeblich beeinflusst hätte, ohne sich mit der umfangreichen Beweiswürdigung im Kontext anderer Beweismittel auseinanderzusetzen. Zweitens handelte es sich um eine neue Rüge, die erstmals vor Bundesgericht erhoben wurde, obwohl der Beschwerdeführer 1 die betreffenden Aussagen im kantonalen Verfahren selbst seinen Sachvorbringen zugrundelegte, ohne die Verwertbarkeit zu beanstanden. Dies verstösst gegen Treu und Glauben. Drittens fehlte es an einer tatsächlichen Grundlage im angefochtenen Urteil, ab wann ein Tatverdacht gegen C.__ als gegeben hätte erachtet werden müssen.
  3. Zur Rüge der nachträglichen Würdigung anonymer Zeugenaussagen (E. 4):

    • Rechtliche Grundlagen: Ein Gericht ist an seinen mündlich eröffneten Entscheid in der Sache gebunden, nicht aber an dessen Begründung. Eine Verletzung des Grundsatzes der freien Beweiswürdigung muss sich in einer willkürlichen Sachverhaltsfeststellung niederschlagen, um revisionsrelevant zu sein.
    • Anwendung und Begründung: Das Bundesgericht liess offen, ob die Würdigung der anonymen Zeugenaussagen tatsächlich erst nach der mündlichen Urteilseröffnung erfolgte, da dies für den Ausgang der Beschwerde nicht entscheidend sei. Eine Abweichung der schriftlichen von der mündlichen Begründung sei zulässig. Es wurde auch nicht dargelegt, dass die schriftliche Begründung nicht von allen beteiligten Richtern mitgetragen wurde. Selbst wenn ein Verstoss gegen den Grundsatz der freien Beweiswürdigung vorläge, hätte dieser nur dann eine Rückweisung zur Folge, wenn er sich in einer willkürlichen Sachverhaltsfeststellung niederschlüge. Daher war die materielle Prüfung der Sachverhaltsrügen entscheidend.
  4. Zur Rüge der willkürlichen Sachverhaltsfeststellung und Verletzung des Grundsatzes "in dubio pro reo" (E. 5):

    • Rechtliche Grundlagen: Das Bundesgericht ist an den von der Vorinstanz festgestellten Sachverhalt gebunden (Art. 105 Abs. 1 BGG), ausser dieser sei offensichtlich unrichtig (willkürlich) oder beruhe auf einer Rechtsverletzung und sei für den Ausgang des Verfahrens entscheidend (Art. 97 Abs. 1 BGG). Willkür liegt vor, wenn die Beweiswürdigung schlechterdings unhaltbar ist oder in klarem Widerspruch zur tatsächlichen Situation steht. Der Grundsatz "in dubio pro reo" hat als Beweiswürdigungsregel im Bundesgerichtsverfahren keine über das Willkürverbot hinausgehende Bedeutung (Art. 9 BV). Die Rügepflicht ist qualifiziert (Art. 106 Abs. 2 BGG).
    • Vorinstanzliche Beweiswürdigung (Zusammenfassung durch das Bundesgericht): Das Kantonsgericht stützte sich massgeblich auf die detaillierten, stimmigen und glaubhaften Aussagen des Beschwerdegegners 2 (C._), die durch die Aussagen der Zeugen G._ (Sicherheitsangestellter), F._ (Kollege C._) und I.__ (Polizist/Restaurantbesucher) gestützt wurden. Die Aussagen der Beschuldigten wurden als unglaubhaft und kollusiv beurteilt, insbesondere aufgrund von Chatnachrichten, die Absprachen enthielten (z.B. zum Aussageverhalten, Löschen von Chats). Die Aussagen anonymer Zeugen wurden auf entlastende Elemente geprüft, jedoch ohne Erfolg, da diese den Hauptbeweisen nicht entgegenstanden. Die Verletzungen C.__s wurden durch medizinische Berichte untermauert.
    • Anwendung auf die Rügen der Beschwerdeführer:
      • A.__:
        • Verfahrensbesonderheiten: Seine Kritik bezüglich einer angeblich unfairen Verfahrensführung (z.B. Behandlung von C.__ als Polizist, Medienmitteilung) wurde als unsubstantiiert zurückgewiesen. Er zeigte nicht auf, wie diese Aspekte konkret zu einer willkürlichen Sachverhaltsfeststellung führten.
        • Aussagenwürdigung allgemein: A.__s Vorwurf einer unzureichenden aussagenpsychologischen Überprüfung wurde abgewiesen, da er lediglich allgemeine Grundsätze zitierte, aber die konkrete und ausführliche Beweiswürdigung der Vorinstanz nicht willkürfrei widerlegte. Die Vorinstanz hatte detailliert begründet, weshalb die Aussagen der Beschuldigten unglaubhaft waren und die der Belastungszeugen glaubhaft.
        • Verletzungsfolgen: Seine Behauptung, Schädel-Hirn-Trauma und Amnesie könnten nicht objektiv nachgewiesen werden, wurde als unzureichend erachtet. Die Vorinstanz hatte die Aussagen C.__s als glaubhaft befunden und die medizinischen Befunde als realistisch eingestuft, was nicht willkürlich sei.
      • B.__:
        • Beteiligung am ersten Faustschlag: B._ bestritt jegliche gewaltsame Mitwirkung. Das Bundesgericht hielt fest, seine detaillierte Kritik stelle lediglich eine alternative Beweiswürdigung dar, ohne die vorinstanzlichen Schlussfolgerungen als willkürlich auszuweisen. Die Vorinstanz stützte sich auf die eindeutige Identifikation B.__s als Erstschläger durch C._ und G.__, die ihn anhand von Fotokonfrontationen und Gruppenfotos erkannten. Kleinere Abweichungen in den Beschreibungen oder der Reihenfolge des Auftretens wurden von der Vorinstanz willkürfrei als nicht entscheidend bewertet, da das Geschehen dynamisch und hektisch war.
        • Beeinflussung durch Gruppenfotos: Die Annahme, C._ und G._ könnten durch die Sichtung von Gruppenfotos beeinflusst worden sein, wurde als spekulativ abgetan, da die Fotos nur Personen zeigten, nicht aber die konkreten Tatbeiträge, und somit keine falschen Vorstellungen über die Täterrolle wecken konnten.
        • Aussagen anonymer Zeugen (A.A. und Herr H.__): B._ versuchte, die Identifizierung durch A.A. und Herr H._ zu seinen Gunsten zu nutzen, da diese D._ oder A._ als erste Angreifer identifizierten. Das Bundesgericht bestätigte die vorinstanzliche Würdigung, wonach diese Zeugen den ersten Schlag wahrscheinlich nicht wahrgenommen hatten, da sie ihre Aufmerksamkeit auf andere Aspekte des Geschehens gerichtet hatten (A.A. stand mit dem Rücken zur Galerie, Herr H._ fokussierte die Galerie und den späteren Angriff von A._). Die vorinstanzliche Begründung, warum die Aussagen von C._ und G._ glaubhafter waren und die anonymen Zeugen eine spätere Sequenz des Geschehens beobachteten, sei nicht willkürlich.
        • Eigene Aussagen und Motivlage: B._s Hinweis auf seine konstant bestrittene Gewalt und ein angeblich fehlendes Motiv im Vergleich zu D._ wurden als selbstinteressiert und nicht geeignet befunden, die vorinstanzliche Beweiswürdigung zu erschüttern. Eine Gruppenattacke schliesse das Mitwirken auch ohne vorherigen direkten Kontakt nicht aus.
    • Gesamtfazit zur Sachverhaltsfeststellung: Das Bundesgericht kam zum Schluss, dass die Beschwerdeführer keine willkürliche Beweiswürdigung oder Sachverhaltsfeststellung nachweisen konnten und somit auch keine Verletzung des Grundsatzes "in dubio pro reo" vorliege.

IV. Ergebnis

Das Bundesgericht wies die Beschwerden der Beschwerdeführer A._ und B._ ab, soweit darauf eingetreten wurde. Die Gerichtskosten wurden den Beschwerdeführern auferlegt.

V. Kurze Zusammenfassung der wesentlichen Punkte

  • Verfahrensrügen abgewiesen: Die Rügen bezüglich Befangenheit des Kantonsgerichts und Unverwertbarkeit von Zeugenaussagen C.__s wurden als verspätet und/oder unsubstantiiert zurückgewiesen.
  • Keine relevante nachträgliche Würdigung: Die Rüge der verspäteten Würdigung anonymer Zeugenaussagen wurde als nicht entscheidend befunden, da selbst bei einer allfälligen Verzögerung keine Willkür im Ergebnis der Würdigung festgestellt wurde.
  • Sachverhaltsfeststellung bestätigt: Die detaillierte Beweiswürdigung des Kantonsgerichts, insbesondere die Identifikation der Beschwerdeführer als Angreifer und die Einschätzung der Zeugenaussagen (Glaubhaftigkeit der Belastungszeugen, Unglaubhaftigkeit und Kollusion der Beschuldigten), hielt einer umfassenden Willkürprüfung stand. Die Vorinstanz hatte die Aussagen verschiedener Zeugen (einschliesslich anonymer Zeugen) konsistent miteinander in Einklang gebracht und nachvollziehbar begründet, warum die Angaben der Belastungszeugen überzeugten und die der Beschuldigten nicht.
  • "In dubio pro reo" nicht verletzt: Es wurden keine offensichtlichen oder unüberwindlichen Zweifel an der Täterschaft festgestellt, die eine Anwendung des Grundsatzes "in dubio pro reo" erfordert hätten.