Zusammenfassung von BGer-Urteil 6B_510/2025 vom 27. Oktober 2025

Es handelt sich um ein experimentelles Feature. Es besteht keine Gewähr für die Richtigkeit der Zusammenfassung.

Nachfolgend wird das Urteil 6B_510/2025 des Schweizerischen Bundesgerichts vom 27. Oktober 2025 detailliert zusammengefasst.

Parteien: * Beschwerdeführerin: A.A._ (durch Advokat Me Cyril-Marc Amberger vertreten) * Beschwerdegegner 1: Ministère public central du canton de Vaud * Beschwerdegegner 2: B.A._

Gegenstand: Freispruch (qualifizierte einfache Körperverletzung, Beleidigung, Drohung, qualifizierte Drohung, Nötigung); Willkür.

Verfahrensgang und Sachverhalt:

  1. Vorgeschichte der Parteien: B.A._ (geb. 1977 in Guinea) und A.A._ heirateten 2009 in Guinea. Aus ihrer Ehe gingen zwei Kinder hervor (geb. 2011 und 2017). Die Eheleute trennten sich nach der Geburt des zweiten Kindes und sind mittlerweile geschieden. B.A.__ hat das Sorgerecht für die Kinder und bezieht Sozialhilfe. Sein Schweizer Strafregister weist eine Verurteilung wegen einfachen Diebstahls (2013) und eine weitere Verurteilung wegen einfacher Körperverletzung gegen den Ehepartner (2020) auf.

  2. Anklage: B.A.__ wurde mit Anklageschrift vom 19. Oktober 2023 wegen zweier Vorfälle angeklagt, wovon nur der zweite, vom Abend des 10. Januar 2022, Gegenstand des vorliegenden Verfahrens ist.

  3. Der streitige Vorfall (10. Januar 2022):

    • Um ca. 22:00 Uhr soll B.A._ seine Ex-Frau A.A._ (die Beschwerdeführerin), die sich bei ihm zu Hause aufhielt, als „dreckige Drogenabhängige“ beschimpft und ihr vorgeworfen haben, einige Tage zuvor eine selbstgebaute Pfeife zum Drogenkonsum in seiner Wohnung gelassen zu haben.
    • Er soll ihr befohlen haben, die Wohnung zu verlassen, andernfalls werde er sie töten.
    • Anschliessend soll er ihr mit geschlossener Faust ins Gesicht geschlagen haben, woraufhin sie versucht habe, sich mit den Armen zu schützen und sich auf den Boden gelegt habe, um weiteren Schlägen ins Gesicht zu entgehen.
    • Ihr Ex-Ehemann soll ihr dann mehrere Faust- und Fusstritte am ganzen Körper versetzt haben, die sie an Hand, unterem Rücken, Hüfte und Oberschenkeln trafen.
    • Danach soll B.A.__ ihr erklärt haben: „Geh weg, verschwinde von hier, sonst töte ich dich, und komm niemals wieder.“
    • A.A.__ sei daraufhin geflohen und habe sofort zufällig vorbeikommende Sanitäter angesprochen.
  4. Medizinische Befunde:

    • 10. Januar 2022 (Konsultation im Spital): Die Beschwerdeführerin wies Schmerzen bei der Palpation der rechten lumbalen paravertebralen Region, der Dornfortsätze des 3. und 4. Lendenwirbels sowie des Darmbeinkamms auf.
    • 13. Januar 2022 (Untersuchung durch die UMV – Unité de médecine des violence): Sie wies mehrere Blutergüsse (Ecchymosen) am rechten Arm (2,2 x 1,7 cm), am linken Arm (4,8 x 2,2 cm, 5,5 x 2 cm und 1,5 x 1 cm), am rechten Bein (3 x 1,2 cm und 6,2 x 3,4 cm) und am linken Bein (mehrere Blutergüsse bis zu 5,5 x 4 cm) auf.
  5. Entscheide der Vorinstanzen:

    • 11. September 2024 (Tribunal de police de l'arrondissement de la Côte): Freispruch von B.A._ von allen Anklagepunkten. A.A._ wurde auf den Zivilweg verwiesen.
    • 25. März 2025 (Cour d'appel pénale du Tribunal cantonal du canton de Vaud): Bestätigte auf Berufung von A.A.__ den Freispruch.
  6. Bundesgerichtliche Beschwerde: A.A._ legte Beschwerde in Strafsachen beim Bundesgericht ein und beantragte primär die Verurteilung von B.A._ wegen qualifizierter einfacher Körperverletzung, Beleidigung, Drohung, qualifizierter Drohung und Nötigung sowie die Zusprechung einer Genugtuung von CHF 13'000. Subsidiär beantragte sie die Rückweisung zur Strafbemessung bzw. zu neuer Entscheidung. Sie ersuchte zudem um unentgeltliche Rechtspflege.

Erwägungen des Bundesgerichts:

Das Bundesgericht trat auf die Beschwerde bezüglich der qualifizierten einfachen Körperverletzung ein, da die Beschwerdeführerin hinreichend substantiierte Zivilforderungen (CHF 13'000 Genugtuung) geltend machte (Art. 81 Abs. 1 lit. b Ziff. 5 BGG). Für die anderen Delikte (Beleidigung, Drohung, Nötigung) wurden keine expliziten Rügen erhoben.

  1. Prüfungsrahmen des Bundesgerichts (Beweiswürdigung und Sachverhaltsfeststellung):

    • Das Bundesgericht ist keine Appellationsinstanz und an die Sachverhaltsfeststellungen der Vorinstanz gebunden (Art. 105 Abs. 1 BGG), es sei denn, diese seien willkürlich (Art. 9 BV) oder offensichtlich unrichtig erfolgt. Willkür liegt vor, wenn der Entscheid nicht nur diskutabel oder gar kritisierbar ist, sondern offensichtlich unhaltbar erscheint, sowohl in seiner Begründung als auch in seinem Ergebnis (BGE 150 IV 360 E. 3.2.1).
    • Bei der Rüge der Willkür in der Beweiswürdigung muss präzise dargelegt werden, inwiefern die Vorinstanz ein entscheidendes Beweismittel ohne ernsthaften Grund unberücksichtigt gelassen, sich in dessen Sinn und Tragweite offensichtlich geirrt oder gestützt auf die erhobenen Beweise unhaltbare Schlüsse gezogen hat (Art. 106 Abs. 2 BGG).
    • Unschuldsvermutung und in dubio pro reo (Art. 10 StPO, 32 Abs. 1 BV, 14 Abs. 2 UNO-Pakt II, 6 Abs. 2 EMRK): Dieser Grundsatz betrifft sowohl die Beweislast als auch die Beweiswürdigung. Als Beweiswürdigungsregel bedeutet er, dass der Richter von einem für den Angeklagten ungünstigen Sachverhalt nicht überzeugt sein darf, wenn objektiv ernsthafte und nicht nur abstrakte oder theoretische Zweifel an dessen Bestehen bestehen. In Bezug auf die Beweiswürdigung hat in dubio pro reo keine über die Willkür hinausgehende eigenständige Bedeutung (BGE 148 IV 409 E. 2.2).
    • Aussagen des Opfers: Die Aussagen des Opfers stellen ein Beweismittel dar, das der Richter im Rahmen einer Gesamtwürdigung aller Beweismittel frei würdigen muss (vgl. Urteile 6B_256/2025 E. 3.1.4, 6B_416/2025 E. 1.1.4, 6B_578/2024 E. 1.1.3). Fälle von "Aussage gegen Aussage" führen nicht zwingend zum Freispruch aufgrund des Grundsatzes in dubio pro reo; die endgültige Würdigung obliegt dem Sachgericht (BGE 137 IV 122 E. 3.3).
  2. Detaillierte Begründung der Vorinstanz (vom Bundesgericht gebilligt): Die Vorinstanz hatte den Freispruch des Beschwerdegegners primär mit den folgenden Punkten begründet, welche das Bundesgericht als nicht willkürlich erachtete:

    • Besonderer familiärer Kontext: Es wurde der langjährige und intensive Konflikt zwischen den geschiedenen Eheleuten berücksichtigt, einschliesslich der Trennung, des Sorgerechtsentzugs für die Beschwerdeführerin, Schutzmassnahmen und der offensichtlich sehr starken Feindseligkeit gegenüber dem Beschwerdegegner. Dieser Kontext war entscheidend für die Bewertung der Glaubwürdigkeit der Parteiaussagen.
    • Inkonstanz und Unglaubwürdigkeit der Aussagen der Beschwerdeführerin:
      • Frühere Übertreibungen: In einem früheren Verfahren hatte die Beschwerdeführerin selbst zugegeben, gewisse Aussagen übertrieben zu haben.
      • Widersprüchliche Schilderungen der Gewalt: Ihre Angaben zu den Schlägen waren inkonstant: Mal sprach sie von Fusstritten, dann von Faustschlägen; zuerst in den Rücken, dann ins Gesicht, dann auf die Seite des Schädels; in erster Instanz von "Schlägen in alle Richtungen" und in zweiter Instanz von "vielen Fusstritten gegen den Kopf, die Hüften und das Gesäss".
      • Fehlende Gesichtsverletzungen: Obwohl sie teilweise einen gewaltsamen Faustschlag ins Gesicht erwähnte, wurden in keinem der medizinischen Berichte (weder im Spital noch bei der UMV) Verletzungen im Gesichtsbereich festgestellt. Dies widersprach ihren Aussagen signifikant.
      • Diskrepanz zwischen medizinischen Berichten: Die medizinischen Befunde wiesen erhebliche Unterschiede auf. Am Tag des Vorfalls (10. Januar 2022) gab die Beschwerdeführerin im Spital an, mehrere Fusstritte in den Lendenbereich erhalten zu haben, und klagte nur über Schmerzen auf der rechten Seite. Drei Tage später (13. Januar 2022) erklärte sie den Ärzten der UMV, sie sei auf die rechte Seite gelegt und dann auf der linken Seite mit Schlägen traktiert worden, wobei sie Schmerzen auf der linken Seite angab. Die unterschiedlichen Verletzungsbilder und das Auftreten zahlreicher Blutergüsse in der Zwischenzeit blieben ungeklärt.
    • Aussagen des Beschwerdegegners: Dieser hatte eine verbale Auseinandersetzung in seiner Wohnung über eine von der Beschwerdeführerin zurückgelassene Drogenpfeife zugegeben. Er räumte ein, sie „manu militari“ (an den Händen ziehend, dann stossend) aus seiner Wohnung entfernt zu haben, nachdem sie wütend geworden war und ein Glas auf den Boden geworfen hatte. Diese Version hielt er auch vor dem Appellationsgericht aufrecht.
    • Anwendung von in dubio pro reo: Angesichts der unstimmigen und widersprüchlichen Aussagen der Beschwerdeführerin, insbesondere in Abgleich mit den medizinischen Befunden, war es den kantonalen Richtern nicht möglich, mit der für eine Verurteilung erforderlichen Überzeugung festzustellen, dass der Beschwerdegegner für die von der UMV festgestellten Verletzungen verantwortlich war. Die Vorinstanz stellte folglich ernsthafte und nicht zu überwindende Zweifel fest und sprach den Beschwerdegegner gestützt auf die Unschuldsvermutung frei.
  3. Überprüfung der Rügen der Beschwerdeführerin durch das Bundesgericht:

    • Willkür in der Beweiswürdigung: Die Beschwerdeführerin scheiterte daran, schlüssig darzulegen, dass die Berücksichtigung des familiären Kontextes oder die Würdigung der widersprüchlichen Aussagen willkürlich gewesen sei. Ihre Kritik an der Würdigung der Aussagen des Beschwerdegegners als inkonstant wurde als rein appellatorisch und unsubstantiiert beurteilt. Das Bundesgericht hielt fest, dass die Vorinstanz die frühere Verurteilung des Beschwerdegegners sowie die medizinischen Berichte sehr wohl berücksichtigt habe.
    • Eigene widersprüchliche Aussagen: Die Beschwerdeführerin erhob keine substantiierte Rüge gegen die detaillierte Analyse der Vorinstanz bezüglich ihrer eigenen sich wandelnden und widersprüchlichen Aussagen, insbesondere im Zusammenhang mit den medizinischen Befunden, die keine Gesichtsverletzungen zeigten, trotz gegenteiliger Behauptungen.
    • Fehlende Protokollierung von Aussagen: Die Behauptung der Beschwerdeführerin bezüglich "Aussagen der Sanitäter", ohne diese zu transkribieren oder auf Aktenstellen zu verweisen, erfüllte die Anforderungen an eine sachlich begründete Rüge nicht.
    • Andere Delikte: Bezüglich der nicht-körperlichen Gewalt betreffenden Anklagepunkte (Beleidigung, Drohung, qualifizierte Drohung, Nötigung) wurden keine expliziten und den Formvorschriften entsprechenden Rügen erhoben.
    • Rüge der Verletzung der Untersuchungspflicht und des rechtlichen Gehörs: Die Beschwerdeführerin rügte eine Verletzung von Art. 6 und 398 Abs. 2 StPO (Ermittlungspflicht zugunsten und zuungunsten des Angeklagten) sowie Art. 29 Abs. 2 BV (Recht auf rechtliches Gehör / Begründungspflicht). Das Bundesgericht stellte fest, dass sich diese Argumente vollständig mit ihrer Kritik an der Beweiswürdigung und der Anwendung von in dubio pro reo vermischen. Da die Beweiswürdigung als nicht willkürlich befunden wurde, waren auch diese Rügen unbegründet.

Entscheid des Bundesgerichts:

Das Bundesgericht wies die Beschwerde, soweit darauf eingetreten werden konnte, ab. Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wurde mangels Erfolgsaussichten der Beschwerde ebenfalls abgewiesen. Die Gerichtskosten von CHF 1'200 wurden der Beschwerdeführerin auferlegt, wobei ihre angespannte finanzielle Situation berücksichtigt wurde.

Kurzfassung der wesentlichen Punkte:

Das Bundesgericht bestätigte den Freispruch des Beschwerdegegners von den Vorwürfen der qualifizierten einfachen Körperverletzung, Beleidigung, Drohung, qualifizierten Drohung und Nötigung. Die Beschwerdeführerin rügte primär eine willkürliche Beweiswürdigung und die Verletzung der Unschuldsvermutung durch die kantonalen Gerichte. Das Bundesgericht folgte der Argumentation der Vorinstanz, wonach die Aussagen der Beschwerdeführerin unstimmig und widersprüchlich waren, insbesondere im Vergleich zu den medizinischen Befunden (z.B. keine Gesichtsverletzungen trotz behaupteter Schläge ins Gesicht). Die Vorinstanz hatte zudem den familiären Konfliktkontext sowie die Einlassungen des Beschwerdegegners (der eine "manu militari" Vertreibung einräumte, jedoch keine darüber hinausgehende Gewalt) berücksichtigt. Da die Vorinstanz aufgrund dieser Umstände nicht mit der für eine Verurteilung nötigen Überzeugung zur Täterschaft des Beschwerdegegners gelangte, wandte sie den Grundsatz in dubio pro reo an. Das Bundesgericht befand diese Beweiswürdigung als nicht willkürlich und wies die Beschwerde ab. Die unentgeltliche Rechtspflege wurde verweigert.