Zusammenfassung von BGer-Urteil 4A_537/2024 vom 9. September 2025

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Detaillierte Zusammenfassung des Urteils des Schweizerischen Bundesgerichts 4A_537/2024 vom 9. September 2025

I. Einleitung Das vorliegende Urteil des Schweizerischen Bundesgerichts befasst sich mit einem zivilrechtlichen Rekurs in einer arbeitsrechtlichen Streitigkeit zwischen einer Arbeitgeberin (A._ AG, Beschwerdeführerin) und einem ehemaligen Arbeitnehmer (B._, Beschwerdegegner). Die Kernpunkte des Disputs betreffen die variable Lohnkomponente, den Fixlohn für den letzten Arbeitsmonat sowie die Rückerstattung von Lagerkosten für Arbeitsmuster.

II. Sachverhalt und vorinstanzliche Verfahren

  1. Arbeitsverhältnis und Vertragsgrundlagen:

    • Der Beschwerdegegner wurde am 15. Januar 2018 als "Directeur commercial" bei der Beschwerdeführerin eingestellt.
    • Der Arbeitsvertrag sah ein Ziellohn von CHF 120'000 pro Jahr vor, bestehend aus 80% Fixlohn und 20% variabler Vergütung. Die variable Komponente konnte jährlich oder monatlich (50% oder 100%) ausbezahlt werden. Bei monatlicher Auszahlung von 100% musste ein Überschuss zurückerstattet werden, falls die vereinbarten Ziele nicht erreicht wurden. Die Arbeitgeberin hatte hierfür ein explizites Abzugsrecht im Lohnabrechnungszeitraum.
    • Ein Spesenreglement sah eine monatliche Pauschale von CHF 100 für "kleine Spesen" (Porto, Kleinmaterial, Parkgebühren, Kundenkaffee) vor und verlangte eine Information der Direktion bei voraussichtlichen monatlichen Kosten über CHF 500.
    • Ein Musterreglement schrieb die Rücksendung von Mustern an den Firmensitz nach Gebrauch vor, war jedoch nicht explizit als Anhang zum Arbeitsvertrag des Beschwerdegegners erwähnt.
    • Der Beschwerdegegner hatte für seine Tätigkeit einen von der Arbeitgeberin bezahlten Coworking-Space zur Verfügung. Zusätzlich mietete er vom 1. Oktober 2018 bis 30. September 2019 einen Lagerraum von seinem Vater für CHF 500 pro Monat zur Lagerung von Mustern.
  2. Leistungsdaten und Vergütung:

    • 2018: Verkaufsziel CHF 1'200'000; realisierter Umsatz CHF 818'365 netto. Die Arbeitgeberin zog im Januar 2019 CHF 2'483 vom Lohn ab, da das Ziel nicht erreicht wurde. Die erhaltene variable Vergütung betrug CHF 16'000. Die Arbeitgeberin gab später an, der Arbeitnehmer habe 66.9% der Ziele erreicht.
    • 2019: Verkaufsziel CHF 1'500'000; realisierter Umsatz CHF 974'564.32 netto. Die erhaltene variable Vergütung betrug CHF 11'000. Für Dezember 2019 wurde kein Lohn ausbezahlt. Die Arbeitgeberin gab später an, der Arbeitnehmer habe 65% der Ziele erreicht.
    • Das Arbeitsverhältnis endete durch Kündigung des Arbeitnehmers per 31. Dezember 2019.
  3. Vorinstanzliche Verfahren:

    • Der Beschwerdegegner reichte Klage ein und forderte CHF 30'000 für variablen Lohn 2019, Fixlohn Dezember 2019 und Lagerkosten.
    • In erster Instanz wurde die Arbeitgeberin zur Zahlung von CHF 21'000 verurteilt. Dabei wurde gemäss Art. 164 ZPO die Nichtteilnahme eines Vertreters der Arbeitgeberin an der Parteibefragung bei der Beweiswürdigung berücksichtigt.
    • Die kantonale Berufungsinstanz (Cour d'appel civile des Kantons Waadt) reformierte das Urteil und verurteilte die Arbeitgeberin zur Zahlung von CHF 12'600 brutto und CHF 6'000 netto (für die Lagerkosten).

III. Erwägungen des Bundesgerichts

Das Bundesgericht trat, soweit zulässig, auf die Beschwerde ein und prüfte die von der Beschwerdeführerin erhobenen Rügen. Gemäss Art. 105 Abs. 1 LTF stützt sich das Bundesgericht auf den Sachverhalt, wie er von der Vorinstanz festgestellt wurde, es sei denn, dieser wurde willkürlich (Art. 9 BV) oder rechtsfehlerhaft erhoben (Art. 97 Abs. 1 LTF). Appellatorische Kritik am Sachverhalt ist unzulässig.

  1. Anspruch auf variable Vergütung für 2019 (Ziff. 3):

    • Begründung der Vorinstanz: Die Vorinstanz qualifizierte die variable Lohnkomponente als eine "Gratifikation", die obligatorisch geschuldet war, da sie objektiv, anhand mathematischer Kriterien, bestimmbar war. Obwohl der Arbeitnehmer die volle Zielerreichung für 2019 nicht beweisen konnte, folgerte die Vorinstanz aus dem Verhalten der Arbeitgeberin im Jahr 2018 auf einen anteiligen Anspruch. Da der Arbeitnehmer 2018 CHF 16'000 an variabler Vergütung erhalten hatte und die Arbeitgeberin selbst angab, er habe 66.9% seiner Ziele erreicht (was 66.9% von den vertraglichen CHF 24'000 variabler Anteil entspricht), wurde angenommen, dass bei teilweiser Zielerreichung ein proportionaler Anspruch besteht. Da die Arbeitgeberin für 2019 eine Zielerreichung von 65% zugestand, wurde dem Arbeitnehmer 65% von CHF 24'000, d.h. CHF 15'600, zugesprochen.
    • Rüge der Beschwerdeführerin (Verletzung des rechtlichen Gehörs): Die Beschwerdeführerin machte geltend, der Arbeitnehmer habe nie eine anteilige Zahlung bei Nichterreichung der Ziele gefordert, und die Vorinstanz habe einen neuen Punkt behandelt, ohne den Parteien die Möglichkeit zur Stellungnahme zu geben. Das Bundesgericht wies diese Rüge als "bösgläubig" zurück. Es stellte fest, dass der Arbeitnehmer diesen Standpunkt in der kantonalen Instanz sehr wohl vertreten hatte, indem er auf die Praxis von 2018 verwies, und die Beschwerdeführerin sich dazu ausdrücklich geäussert hatte.
    • Rüge der Beschwerdeführerin (Willkürliche Sachverhaltsfeststellung 2018): Die Beschwerdeführerin versuchte, die Feststellung der Vorinstanz zu widerlegen, wonach die Zahlung von CHF 16'000 im Jahr 2018 eine proportionale Zahlung zum Umsatz darstellte. Sie wollte darlegen, dass der Betrag CHF 12'000 betragen hätte oder spezifisch für 2018 gewesen sei. Das Bundesgericht erachtete diese Rüge als unzulässig. Sie wurde nicht bereits im Berufungsverfahren erhoben (Verletzung des Erschöpfungsgrundsatzes), und die Beschwerdeführerin hatte die Feststellung von CHF 16'000 in der Berufung sogar selbst übernommen. Auch diese Rüge wurde als "bösgläubig" qualifiziert.
  2. Fixlohn für Dezember 2019 (Ziff. 4):

    • Die Beschwerdeführerin behauptete, bereits vor Dezember 2019 einen Fixlohn von CHF 99'000 gezahlt zu haben, was CHF 3'000 mehr gewesen sei als geschuldet. Das Bundesgericht wies dies zurück. Die Behauptung entbehrte jeder Grundlage im von der Vorinstanz verbindlich festgestellten Sachverhalt (der eine Gesamtvergütung von CHF 94'261 für 2019 auswies). Die Rüge war appellatorisch und daher unzulässig.
  3. Rückerstattung der Mietkosten für den Lagerraum (Ziff. 5):

    • Die Beschwerdeführerin argumentierte, der Arbeitnehmer sei nicht berechtigt gewesen, Muster zu lagern oder einen Raum ohne vorherige Information zu mieten, und das monatliche Spesenpauschale von CHF 100 sei ausreichend gewesen. Das Bundesgericht verwarf diese Argumentation.
    • Begründung des Gerichts: Die Beschwerdeführerin setzte ihrerseits lediglich ihre eigene These gegen die zentrale Argumentation der Vorinstanz. Diese hatte festgestellt, dass die Arbeitgeberin wissen musste, dass Muster nicht sofort zurückgesandt wurden (was unrealistisch gewesen wäre), dass der zur Verfügung gestellte Coworking-Space für die Lagerung von Mustern ungeeignet war und dass die Pauschale von CHF 100 die tatsächlichen Lagerkosten nicht decken konnte. Die Beschwerdeführerin bestritt diese wesentlichen Erwägungen nicht substantiiert. Neue, nicht in den Akten belegte Fakten, die die Willkür der Beweiswürdigung hätten belegen sollen, wurden ebenfalls als unzulässig erachtet.
  4. Abwesenheit bei der Parteibefragung (Ziff. 6):

    • Die Beschwerdeführerin rügte eine Verletzung ihres rechtlichen Gehörs, da die erste Instanz ihre Abwesenheit bei der Parteibefragung bei der Beweiswürdigung berücksichtigt hatte (Art. 164 ZPO). Das Bundesgericht wies die Rüge als appellatorisch zurück, da die Beschwerdeführerin nicht darlegte, inwiefern die Anwendung von Art. 164 ZPO fehlerhaft gewesen wäre oder ein triftiger Grund für ihre fehlende Kooperation bestanden hätte.
  5. Verletzung von Art. 8 ZGB und Art. 322a OR (Ziff. 7):

    • Die Beschwerdeführerin rügte, der Arbeitnehmer habe das Erreichen der Verkaufsziele 2019 nicht bewiesen, insbesondere durch den Verzicht auf ein Gutachten. Das Bundesgericht erachtete diese Rüge als "kühn" (téméraire) und mangels Interesses unzulässig, da die Nichterreichung der Ziele durch den Arbeitnehmer in dieser Hinsicht bereits von den kantonalen Richtern festgestellt worden war.
  6. Festsetzung der Prozesskosten (Ziff. 8):

    • Die Beschwerdeführerin bestritt die Festsetzung der Prozesskosten für beide Instanzen. Das Bundesgericht stellte fest, dass die Beschwerdeführerin die Begründung der Vorinstanz, wonach die Kosten gemäss kantonalem Tarif und unter Berücksichtigung des Umfangs der zugesprochenen Forderungen festgesetzt wurden, ignorierte. Die Rüge war unbegründet.

IV. Fazit und Wesentliche Punkte

Das Bundesgericht wies die Beschwerde in dem geringen Umfang ihrer Zulässigkeit ab und auferlegte der Beschwerdeführerin die Gerichtskosten und eine Parteientschädigung zugunsten des Beschwerdegegners.

Wesentliche Punkte des Urteils:

  • Variable Vergütung als geschuldete Gratifikation: Das Bundesgericht bestätigte die Einordnung der variablen Lohnkomponente als obligatorisch geschuldete Gratifikation, da ihre Bestimmung objektiv und mathematisch erfolgte.
  • Proportionaler Anspruch bei teilweiser Zielerreichung: Aus der gelebten Praxis der Parteien im Jahr 2018 (Zahlung von CHF 16'000 bei 66.9% Zielerreichung, was einem proportionalen Anteil von 66.9% des vertraglichen variablen Anteils entspricht) wurde auf einen Anspruch des Arbeitnehmers auf eine proportionale variable Vergütung auch für 2019 geschlossen, basierend auf der von der Arbeitgeberin selbst zugestandenen Zielerreichung von 65%.
  • Arbeitgeberpflicht zur Kostentragung für Musterlagerung: Die Arbeitgeberin hatte die Mietkosten für den Lagerraum zu tragen, da sie um die Notwendigkeit der Lagerung wissen musste, der firmeneigene Coworking-Space ungeeignet war und die vertragliche Spesenpauschale die tatsächlichen Kosten nicht deckte.
  • Strikte Anforderungen an Sachverhaltsrügen: Das Bundesgericht betonte die strengen Anforderungen an die Rüge eines willkürlich festgestellten Sachverhalts (Art. 9 BV i.V.m. Art. 105 Abs. 2 LTF). Appellatorische Kritik und die Einführung neuer, nicht in den Vorinstanzen substanzierter Fakten sind unzulässig.
  • Pflicht zur Kooperation im Beweisverfahren: Die unbegründete Verweigerung der Kooperation bei der Parteibefragung kann zulässigerweise bei der Beweiswürdigung berücksichtigt werden (Art. 164 ZPO).
  • Erschöpfungsgrundsatz und Bösgläubigkeit: Das Gericht wies Rügen der Beschwerdeführerin zurück, die nicht bereits in den kantonalen Instanzen erhoben worden waren (Erschöpfungsgrundsatz) oder die sich als "bösgläubig" erwiesen, da die Beschwerdeführerin Sachverhaltsfeststellungen angriff, die sie zuvor selbst akzeptiert oder sogar vorgetragen hatte.