Zusammenfassung von BGer-Urteil 6B_294/2024 vom 22. Oktober 2025

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Zusammenfassung des Urteils des Schweizerischen Bundesgerichts (6B_294/2024 vom 22. Oktober 2025)

Parteien: * Beschwerdeführer: A.____ (vertreten durch Rechtsanwalt Thomas Stössel) * Beschwerdegegnerin: Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Luzern

Gegenstand: Mehrfache Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz (BetmG); Verwertbarkeit von Einvernahmen und Beweisen; Landesverweisung.

Vorinstanz: Kantonsgericht Luzern, 2. Abteilung (Urteil vom 17. Juli 2023)

I. Sachverhalt und Vorinstanzenurteil

Dem Beschwerdeführer A._ wurden in der Anklage vom 8. März 2018 vorgeworfen, im Auftrag von B._ im Dezember 2016 Treffen zum Drogenhandel (Kokain) organisiert und dabei zwei Übergaben von insgesamt 200 Gramm Kokain vermittelt zu haben. Zudem habe er im Dezember 2016 die Stellvertretung für B.______s Drogenhandel übernommen und Kokain in 5g-Portionen an diverse Abnehmer verkauft. Als Lohn seien ihm eine Thailandreise und Bordellbesuche bezahlt worden. Des Weiteren habe er regelmässig Kokain konsumiert.

Eine Zusatzanklage vom 11. November 2020 erweiterte die Vorwürfe: A._ sei als Teil einer Bande (bestehend aus E._, F.__, den Gebrüdern G.__ und H.__) in mittlerer Hierarchiestufe im Zeitraum Dezember 2016 bis Mai 2018 am Erwerb und Verkauf von insgesamt 5'450 Gramm Kokain beteiligt gewesen, mit einem Umsatz von Fr. 250'650.-- und einem Gewinn von Fr. 15'400.--. Auch Kokainkonsum wurde erneut thematisiert. Schliesslich wurde ihm eine einfache Körperverletzung an H.______ vorgeworfen.

Das Kriminalgericht des Kantons Luzern sprach A.____ am 2. Februar 2022 der mehrfachen Widerhandlung gegen Art. 19 Abs. 1 BetmG (teilweise als schwerer Fall nach Art. 19 Abs. 2 lit. a, b und c BetmG) sowie der einfachen Körperverletzung schuldig. Es verurteilte ihn zu einer Freiheitsstrafe von 4 Jahren und 9 Monaten sowie einer bedingten Geldstrafe. Zudem verfügte es eine Landesverweisung von 10 Jahren.

Gegen dieses Urteil erhob A.____ Berufung. Das Kantonsgericht Luzern bestätigte mit Urteil vom 17. Juli 2023 im Wesentlichen die Schuldsprüche wegen mehrfacher Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz als qualifizierter Fall. Es reduzierte die Freiheitsstrafe auf 4 Jahre und 2 Monate und die Landesverweisung auf 9 Jahre, erhöhte jedoch die bedingte Geldstrafe.

II. Beschwerde an das Bundesgericht und zentrale Rechtsfragen

A.____ beantragte dem Bundesgericht die vollumfängliche Aufhebung des vorinstanzlichen Urteils und die Rückweisung zur Neubeurteilung. Eventualiter forderte er einen reduzierten Schuldspruch und eine deutlich mildere Strafe ohne Landesverweisung.

Der zentrale Streitpunkt vor dem Bundesgericht betraf die Verwertbarkeit von Einvernahmen und Beweismitteln aufgrund eines vermeintlichen anwaltlichen Interessenkonflikts. Der Beschwerdeführer machte geltend, sämtliche Einvernahmen, bei denen er von seinem ehemaligen amtlichen Verteidiger, Rechtsanwalt K._, verteidigt wurde, seien absolut unverwertbar. Seine Begründung: Rechtsanwalt K._ und Rechtsanwalt L._, der zeitweise den Mitbeschuldigten B._ verteidigte, seien in derselben Kanzlei tätig gewesen und hätten sich gegenseitig vertreten. Daraus sei ein Interessenkonflikt gemäss Art. 131 Abs. 3 und Art. 141 Abs. 1 StPO entstanden, da theoretisch Informationen aus dem jeweils anderen Strafverfahren genutzt werden konnten. Insbesondere sei Rechtsanwalt L._ zu den Einvernahmen vom 11. und 18. September 2018 als Vertreter erschienen, bei denen sich der Beschwerdeführer schwer belastet habe. Es könne nicht ausgeschlossen werden, dass Rechtsanwalt L._ ihn im Interesse seines ehemaligen Klienten B.__ beraten habe.

III. Erwägungen des Bundesgerichts

Das Bundesgericht prüfte die Rüge des Beschwerdeführers zur angeblichen Verletzung seines Anspruchs auf eine wirksame Verteidigung (Art. 29 Abs. 3, Art. 32 Abs. 2 BV und Art. 6 EMRK) infolge eines anwaltlichen Interessenkonflikts.

1. Allgemeine Grundsätze zur anwaltlichen Interessenkollision: Das Bundesgericht legte seine ständige Rechtsprechung zu den Pflichten des Anwalts dar: * Nach Art. 128 StPO ist die Verteidigung allein den Interessen der beschuldigten Person verpflichtet. * Art. 12 lit. c BGFA konkretisiert dies, indem Anwälte jeden Konflikt zwischen den Interessen ihrer Klientschaft und anderen Personen vermeiden müssen. * Dies führt zu einem Verbot der interessenkollidierenden Doppelvertretung, insbesondere wenn Parteien mit gegenläufigen Interessen vertreten werden (BGE 145 IV 218 E. 2.1; 141 IV 257 E. 2.1). * Dieses Verbot dient dem Schutz der Klienteninteressen, der Gewährleistung einer uneingeschränkten Verteidigung und der Verhinderung der missbräuchlichen Verwendung von Wissen aus früheren Mandaten. * Die durch einen Interessenkonflikt verursachte Hinderung erstreckt sich grundsätzlich auf alle Anwälte derselben Kanzlei (BGE 145 IV 218 E. 2.2). * Eine unzulässige Doppelvertretung kann auch Verfahren mit einem engen Sachzusammenhang betreffen, selbst wenn es nicht dasselbe Verfahren ist (BGE 134 II 108 E. 3). * Entscheidend ist das Vorliegen eines konkreten Risikos sich gegenläufiger Interessen, das sich aus den gesamten Umständen ergibt. Eine blosse theoretische oder abstrakte Möglichkeit genügt nicht. Es ist jedoch nicht erforderlich, dass sich der Konflikt bereits realisiert hat oder der Anwalt sein Mandat schlecht ausgeführt hat (BGE 145 IV 218 E. 2.1).

2. Anwendung auf den vorliegenden Fall: Das Bundesgericht stellte die folgenden Sachverhaltsfeststellungen der Vorinstanz, die für das Bundesgericht verbindlich sind (Art. 105 Abs. 1 BGG), fest: * B._ wurde am 21. Juni 2017 verhaftet und Rechtsanwalt L._ als amtlicher Verteidiger beigegeben. Am 27. Juli 2017 wurde L._ auf Gesuch B.__s durch Rechtsanwalt M._ ersetzt. * Der Beschwerdeführer A._ wurde am 13. Juli 2017 verhaftet und Rechtsanwalt K._ als amtlicher Verteidiger beigegeben. * Die Rechtsanwälte K.__ und L.__ waren in derselben Kanzlei tätig. * L.__ vertrat K.______ als Substitut bei Einvernahmen des Beschwerdeführers am 11. und 18. September 2018 (betreffend den zweiten Sachverhaltskomplex).

Das Bundesgericht anerkannte, dass die Konstellation – ein Anwalt übernimmt die Verteidigung, während ein Kanzleikollege bereits einen Mitbeschuldigten im selben Sachzusammenhang verteidigt – grundsätzlich die Frage einer Interessenkollision aufwirft, die sich auch auf Kanzleikollegen erstreckt. Der Umstand, dass Rechtsanwalt L._ nur für kurze Zeit amtlicher Verteidiger von B._ war, änderte nichts an der grundsätzlichen Gefahr der Verwertung von Kenntnissen aus dem Mandat, da von einem Informationsaustausch auszugehen sei.

3. Mangelnde Substantiierung der Rüge durch den Beschwerdeführer: Das Bundesgericht kritisierte jedoch, dass der Beschwerdeführer es unterlassen hatte, in einer den qualifizierten Rügepflichten (Art. 42 Abs. 2 und Art. 106 Abs. 2 BGG) genügenden Weise darzulegen, inwiefern vorliegend tatsächlich ein konkretes Risiko eines Interessenkonflikts bestanden habe. Der Beschwerdeführer habe sich auf eine unzutreffende Rechtsauffassung gestützt, wonach eine Interessenkollision abstrakt zu evaluieren sei, und habe ignoriert, dass es dafür eines aus den gesamten Umständen sich ergebenden konkreten Risikos bedarf. Er habe nicht ansatzweise dargelegt, welche Sachverhaltsdarstellungen und Interessen tatsächlich divergierten oder welche konkreten Umstände auf ein solches Risiko schliessen liessen. Das Bundesgericht sah sich nicht veranlasst, die fehlenden tatsächlichen Substantiierungen des Beschwerdeführers nachzuholen.

4. Folgen der mangelnden Substantiierung: Da die zentrale Rüge einer anwaltlichen Interessenkollision und damit einer nicht wirksamen Verteidigung ungenügend begründet war, konnten alle darauf aufbauenden Vorbringen des Beschwerdeführers nicht weitergeprüft werden. Dies betraf insbesondere: * Die abgeleitete absolute Unverwertbarkeit von Einvernahmen und weiteren Beweismitteln (Telefonkontrollen, GPS-, Audio- und Videoüberwachungen, Observationen). * Die Unverwertbarkeit sämtlicher Verfahrenshandlungen von Rechtsanwalt K._. * Die Rüge, Rechtsanwalt K._ habe eine passive Rolle eingenommen und keine Ergänzungsfragen gestellt (ebenfalls ungenügend substanziiert und nicht an den Erwägungen der Vorinstanz ansetzend). * Die pauschale Rüge der Unverwertbarkeit "diverser delegierter Einvernahmen von Mitbeschuldigten", da diese nicht konkretisiert und nicht dargelegt wurde, dass die Rüge bereits vor Vorinstanz vorgebracht wurde. * Die Anträge zur Neufeststellung des Sachverhalts, der Rolle des Beschwerdeführers und der Strafzumessung, da diese ebenfalls von der Prämisse unverwertbarer Beweise ausgingen.

5. Ergebnis: Das Bundesgericht wies die Beschwerde ab, soweit darauf eingetreten werden konnte. Die Gerichtskosten wurden dem Beschwerdeführer auferlegt.

IV. Kurze Zusammenfassung der wesentlichen Punkte
  1. Zentrale Rüge: Der Beschwerdeführer rügte die absolute Unverwertbarkeit von Einvernahmen und Beweisen aufgrund eines anwaltlichen Interessenkonflikts, da sein amtlicher Verteidiger und der Verteidiger eines Mitbeschuldigten zeitweise in derselben Kanzlei tätig waren.
  2. Rechtliche Grundlagen: Das Bundesgericht bestätigte die Grundsätze des Anwaltsgeheimnisses, der Treuepflicht und des Verbots der interessenkollidierenden Doppelvertretung, die sich auch auf Kanzleikollegen erstrecken.
  3. Erforderlichkeit eines konkreten Risikos: Für das Vorliegen eines Interessenkonflikts ist gemäss konstanter bundesgerichtlicher Rechtsprechung ein konkretes Risiko sich widersprechender Interessen erforderlich, keine blosse abstrakte Möglichkeit.
  4. Mangelnde Substantiierung: Das Bundesgericht wies die Rüge des Beschwerdeführers zurück, weil dieser es unterlassen hatte, in einer den qualifizierten Rügepflichten genügenden Weise darzulegen, inwiefern ein solches konkretes Risiko in seinem Fall bestanden habe. Er habe sich auf eine unzutreffende abstrakte Argumentation beschränkt.
  5. Folge: Mangels Nachweises eines konkreten Interessenkonflikts wurden alle auf dieser Prämisse basierenden Rügen zur Unverwertbarkeit von Beweisen und zur Neubeurteilung des Sachverhalts abgewiesen.
  6. Entscheid: Die Beschwerde wurde abgewiesen, soweit darauf einzutreten war.