Zusammenfassung von BGer-Urteil 7B_813/2025 vom 17. November 2025

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Detaillierte Zusammenfassung des Urteils des Schweizerischen Bundesgerichts 7B_813/2025 vom 17. November 2025

1. Einleitung und Sachverhalt

Das vorliegende Urteil des Schweizerischen Bundesgerichts (II. strafrechtliche Abteilung) befasst sich mit der Beschwerde von A.__ gegen einen Beschluss des Obergerichts des Kantons Bern. Gegenstand ist die Genehmigung eines personellen Zufallsfundes aus einer Echtzeitüberwachung und dessen Verwertbarkeit im Strafverfahren.

Ausgangslage: Seit 2019 führte die Staatsanwaltschaft des Kantons Bern ein umfangreiches Strafverfahren ("Aktion E._") gegen B._, C._ und D._ wegen schwerwiegender Delikte wie Menschenhandel, gewerbsmässigem Wucher und qualifizierten Widerhandlungen gegen das Ausländer- und Integrationsgesetz (AIG). In diesem Rahmen wurde eine gerichtlich genehmigte Echtzeitüberwachung einer Rufnummer inklusive Raum- und Hintergrundgespräche gegen B._ und C._ durchgeführt und mehrfach verlängert.

Rolle von A.__: * 14. Januar 2020: Im Rahmen der "Aktion E._" erfolgte eine Hausdurchsuchung bei A._ und dessen Einvernahme als Auskunftsperson. Dabei wurde ihm eine Sequenz aus der Telefonüberwachung vorgespielt, in der er selbst als Gesprächspartner auftrat. Es wurde von einem "Zufallsfund" gesprochen. Die Befragung konzentrierte sich auf den Sachverhalt im Hauptverfahren. * 9. August 2022 (Eingang 28. August 2022): Die Kantonspolizei Bern übermittelte der Staatsanwaltschaft einen Anzeigerapport betreffend A._, der ihm (qualifizierte) Widerhandlungen gegen das AIG vorwarf und sich auf Erkenntnisse aus der früheren Überwachung stützte. * 6. September 2022: Die Staatsanwaltschaft eröffnete eine Strafuntersuchung gegen A._ wegen Förderung des rechtswidrigen Aufenthalts, Beschäftigung von Ausländern ohne Bewilligung und allenfalls Wucher. * 19. Oktober 2022: Die Staatsanwaltschaft ersuchte um Genehmigung des personellen Zufallsfundes aus der Überwachung gegen A._. * 20. Oktober 2022: Das Zwangsmassnahmengericht erteilte die Genehmigung und stellte die Verwertbarkeit der gewonnenen Erkenntnisse im Verfahren gegen A._ fest. * 17. Dezember 2024: Abschluss der Untersuchung gegen A._ und Zustellung des Anklageentwurfs. * 19. Dezember 2024: Mitteilung der Staatsanwaltschaft an A._ über die Genehmigung des Zufallsfundes.

Vorinstanzliches Verfahren: A._ erhob Beschwerde an das Obergericht des Kantons Bern. Das Obergericht stellte eine Verletzung des rechtlichen Gehörs von A._ fest, erachtete diese jedoch als geheilt und wies die Beschwerde im Übrigen ab.

Beschwerde an das Bundesgericht: A.__ beantragte die Aufhebung der obergerichtlichen Abweisung der Beschwerde, die Aufhebung des Genehmigungsentscheids des Zwangsmassnahmengerichts und die Nichtverwertbarkeit der Beweismittel.

2. Rechtliche Würdigung durch das Bundesgericht

2.1. Zulässigkeit der Beschwerde (E. 1) Das Bundesgericht trat auf die Beschwerde in Strafsachen ein, da es sich um einen kantonal letztinstanzlichen Zwischenentscheid betreffend die Genehmigung von Überwachungsmassnahmen bzw. die Verwertbarkeit von Zufallsfunden handelt. Solche Entscheide können einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil im Sinne von Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG bewirken.

2.2. Sachverhaltsfeststellung und Rügen (E. 2) Das Bundesgericht legte seinem Urteil den von der Vorinstanz festgestellten Sachverhalt zugrunde, da A._ keine offensichtlich unrichtigen oder auf einer Rechtsverletzung beruhenden Feststellungen substanziiert rügen konnte. Die Vorbringen von A._ bezogen sich primär auf die Rechtsanwendung, nicht auf willkürliche Sachverhaltsfeststellungen.

2.3. Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV) (E. 3)

2.3.1. Heilung der Gehörsverletzung (E. 3.1): * Rechtsgrundlage: Das Bundesgericht führte aus, dass die Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV) grundsätzlich zur Aufhebung des angefochtenen Entscheids führt, da sie formeller Natur ist. Eine Ausnahme besteht jedoch, wenn die Gehörsverletzung nicht schwer wiegt oder geheilt wird, indem die betroffene Partei sich vor einer Instanz äussern kann, die sowohl die Tat- als auch die Rechtsfragen uneingeschränkt überprüft. Dies soll einen formalistischen Leerlauf und unnötige Verzögerungen vermeiden (Verweis auf BGE 147 IV 340 E. 4.11.3). * Anwendung: Die Vorinstanz hatte eine Gehörsverletzung im erstinstanzlichen Verfahren festgestellt, diese aber mit Verweis auf die Verfahrenseffizienz als geheilt erachtet. Das Bundesgericht bestätigte diese Einschätzung. Es stellte fest, dass die Vorinstanz die Sache umfassend prüfen konnte, da ihr dieselbe Kognition wie dem Zwangsmassnahmengericht zukam und sich A.__ in seinem Beschwerdeverfahren vor dem Obergericht ausführlich zu allen strittigen Punkten äussern konnte. Eine Rückweisung an die erste Instanz hätte lediglich einen Leerlauf dargestellt.

2.3.2. Verletzung der Begründungspflicht bezüglich Editionsantrag (E. 3.2): * Rüge: A._ rügte eine weitere Gehörsverletzung, weil das Obergericht seinen Antrag auf Edition der Akten aus den Hauptverfahren gegen B., C. und D. unbeantwortet liess. Er wollte damit belegen, dass bereits vor der formellen Genehmigung des Zufallsfundes gegen ihn ermittelt worden sei. * Anwendung: Das Bundesgericht befand, dass A._ keine konkreten Hinweise oder Anhaltspunkte für solche vorzeitigen Ermittlungen oder die Notwendigkeit der Edition vorbrachte. Eine sachliche Veranlassung zur Edition bestand somit nicht. * Ergebnis: Gleichwohl stellte das Bundesgericht fest, dass die Vorinstanz ihre aus dem Anspruch auf rechtliches Gehör abgeleitete Begründungspflicht verletzt hatte, indem sie auf den Editionsantrag nicht einging und ihre Ablehnung nicht begründete. Dieser formelle Mangel wurde im Dispositiv des Bundesgerichts festgestellt, ohne jedoch zur Aufhebung des Sachentscheids zu führen.

2.4. Verletzung des Unverzüglichkeitsgebots bei der Genehmigung von Zufallsfunden (Art. 278 Abs. 3 StPO) (E. 4)

2.4.1. Rechtsgrundlagen und Natur des Unverzüglichkeitsgebots (E. 4.1): * Zufallsfunde: Nach Art. 278 Abs. 2 StPO können Erkenntnisse über Straftaten einer Person, die nicht ursprünglich überwacht wurde, verwendet werden, wenn die Voraussetzungen für eine Überwachung dieser Person erfüllt gewesen wären. Dies dient dem Schutz der Privatsphäre (Art. 13 BV) und der Sicherstellung der Zulässigkeit der ursprünglichen Überwachung. * Unverzüglichkeitsgebot: Art. 278 Abs. 3 StPO verlangt, dass die Staatsanwaltschaft in solchen Fällen unverzüglich die Überwachung anordnet und das Genehmigungsverfahren einleitet. Art. 274 Abs. 1 StPO sieht für das Genehmigungsgesuch eine Frist von 24 Stunden seit Anordnung oder Auskunftserteilung vor. * Rechtsprechung: Das Bundesgericht stellte klar, dass die Vorgabe "unverzüglich" in Art. 278 Abs. 3 StPO sowie die 24-Stunden-Frist in Art. 274 Abs. 1 StPO als Ordnungsvorschriften zu verstehen sind, deren Verletzung nicht zwingend die Unverwertbarkeit des Beweises zur Folge hat. Dies gilt insbesondere, wenn der Zufallsfund vor seiner Genehmigung nicht gegen die betroffene Person verwendet wurde. Begründet wird dies mit der Natur umfangreicher Verfahren und der Schwierigkeit, den Zeitpunkt der "Erkennbarkeit" eines Zufallsfundes exakt zu bestimmen (Verweis auf BGE 150 IV 139 E. 5.8; Urteile 7B_91/2024, 7B_92/2024 vom 16. Oktober 2024 E. 5.2.2).

2.4.2. Anwendung auf den vorliegenden Fall – Analyse der Zeiträume:

  • Zeitraum bis zur Hausdurchsuchung/Einvernahme (14. Januar 2020) (E. 4.2):

    • Die Vorinstanz hatte festgehalten, dass die Rolle und der Kenntnisstand von A._ zu diesem Zeitpunkt noch unklar gewesen seien und sich die Ermittlungen auf die Hauptbeschuldigten konzentrierten. Zudem seien die AIG-Verstösse keine Katalogtaten gemäss Art. 269 Abs. 2 oder 3 StPO, sodass vor der Identifizierung eines hinreichenden Tatverdachts gegen A._ keine Grundlage für eine Genehmigung als Zufallsfund bestanden habe.
    • Das Bundesgericht schloss sich dem an. Obwohl A.__ eine Sequenz aus der Überwachung vorgespielt wurde, stellte dies keine "Verwendung" des Zufallsfundes gegen ihn im Sinne einer aktiven Beweismittelgewinnung dar, sondern diente der Klärung im Hauptverfahren. Die Bezeichnung "Zufallsfund" allein sei keine verbindliche rechtliche Einordnung. Eine angebliche Zusage eines Verwertungsverbots wurde nicht substantiiert bestritten.
  • Zeitraum zwischen Hausdurchsuchung (Januar 2020) und Anzeigerapport (August 2022) (E. 4.3):

    • In diesem Zeitraum erfolgte keine Genehmigung des Zufallsfundes. Das Bundesgericht bekräftigte, dass es den Strafverfolgungsbehörden in umfangreichen und komplexen Verfahren wie der "Aktion E._" ein gewisser Ermessensspielraum bei der Priorisierung der Ermittlungen zustehe. Es sei nachvollziehbar, dass der Fokus zunächst auf den Hauptbeschuldigten lag und die Ermittlungen gegen A._ erst später aufgenommen werden konnten. Auch das Vorliegen rückblickender Verdachtsmomente sei für die Frage der Unverzüglichkeit nicht entscheidend.
  • Zeitraum nach Anzeigerapport (August 2022) bis Genehmigungsgesuch (Oktober 2022) (E. 4.4):

    • Festgestellte Verletzung: Der Anzeigerapport ging am 28. August 2022 bei der Staatsanwaltschaft ein und begründete einen Tatverdacht gegen A._, der sich auch auf den Zufallsfund stützte. Spätestens mit der Eröffnung der Strafuntersuchung gegen A._ am 6. September 2022 war ein entsprechender Tatverdacht vorhanden. Die Staatsanwaltschaft ersuchte jedoch erst am 19. Oktober 2022 um Genehmigung des Zufallsfundes. Das Bundesgericht stellte fest, dass die Staatsanwaltschaft das Genehmigungsverfahren damit nicht unverzüglich eingeleitet hat. Es lag eine Verletzung des Unverzüglichkeitsgebots vor.
    • Folge der Verletzung: Trotz dieser festgestellten Verletzung des Unverzüglichkeitsgebots führte das Bundesgericht aus, dass in der Zeit zwischen dem Eingang des Anzeigerapports (28. August 2022) bzw. der Eröffnung der Untersuchung (6. September 2022) und der Genehmigung des Zufallsfundes (20. Oktober 2022) keine Ermittlungshandlungen gegen A.__ erfolgten, die auf dem Zufallsfund basierten. Der Zufallsfund wurde somit nicht vor seiner Genehmigung verwendet. Gemäss der bundesgerichtlichen Rechtsprechung, die die Unverzüglichkeitsfrist als Ordnungsvorschrift qualifiziert, führt deren Verletzung in einem solchen Fall nicht zur Unverwertbarkeit des Beweismittels (Art. 141 StPO wurde daher nicht geprüft).

3. Fazit und Dispositiv

Das Bundesgericht hiess die Beschwerde von A._ teilweise gut, indem es die Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör durch die Vorinstanz (wegen der fehlenden Begründung des Editionsantrags) feststellte. Im Übrigen wies es die Beschwerde ab. Die materiellen Argumente von A._, insbesondere bezüglich der Unverwertbarkeit des Zufallsfundes wegen verspäteter Genehmigung, wurden nicht geschützt. Die Gerichtskosten wurden A.__ auferlegt, der Kanton Bern musste ihm jedoch eine reduzierte Parteientschädigung zahlen.

Kurze Zusammenfassung der wesentlichen Punkte:
  1. Heilung der Gehörsverletzung: Eine erstinstanzliche Gehörsverletzung kann vom Bundesgericht als geheilt betrachtet werden, wenn die höhere Instanz (hier: Obergericht) die Sach- und Rechtsfragen uneingeschränkt überprüfen konnte und ein formalistischer Leerlauf vermieden wird.
  2. Begründungspflicht der Vorinstanz: Obwohl ein Editionsantrag sachlich nicht begründet war, verletzte die Vorinstanz ihre Begründungspflicht aus Art. 29 Abs. 2 BV, indem sie den Antrag unbeantwortet liess. Dies führt zur Feststellung des Mangels, nicht aber zur Aufhebung des Sachentscheids.
  3. Unverzüglichkeitsgebot (Art. 278 Abs. 3 StPO): Die Pflicht zur unverzüglichen Einleitung des Genehmigungsverfahrens für Zufallsfunde ist eine Ordnungsvorschrift.
  4. Keine Unverwertbarkeit bei Fristverletzung: Eine Verletzung dieser Frist führt nicht zur Unverwertbarkeit des Zufallsfundes, sofern das Beweismittel vor seiner formellen Genehmigung nicht gegen die betroffene Person verwendet wurde.
  5. Anwendung im Fall A.__: Die Staatsanwaltschaft hatte die Frist für die Genehmigung des Zufallsfundes nach Eröffnung der Untersuchung gegen A._ überschritten. Da jedoch in der Zwischenzeit keine auf dem Zufallsfund basierenden Ermittlungshandlungen gegen A._ stattfanden, blieb der Zufallsfund verwertbar.