Gerne fasse ich das bereitgestellte Urteil des Schweizerischen Bundesgerichts (7B_530/2025 vom 13. November 2025) detailliert zusammen.
I. Parteien und Streitgegenstand
- Beschwerdeführer: A.__, vertreten durch Rechtsanwalt Me Samir Djaziri.
- Gegenpartei: Ministère public de la République et canton de Genève (Staatsanwaltschaft des Kantons Genf).
- Gegenstand: Ablehnung der Bestellung eines amtlichen Verteidigers.
- Vorinstanz: Chambre pénale de recours de la Cour de justice de la République et canton de Genève (Strafrechtliche Beschwerdekammer des Genfer Justizhofs).
II. Sachverhalt und Verfahrensgeschichte
- Ausgangslage: Gemäss Polizeibericht vom 3. April 2025 wurde A._, geboren 1997, aus Nigeria stammend, bei zwei Drogengeschäften (Verkauf von 1g Kokain für CHF 50.– und 3.15g Cannabis für CHF 40.–) beobachtet. Bei seiner Festnahme befand er sich im Besitz von CHF 287.90 mutmasslich zweifelhafter Herkunft. A._ war gemäss eigenen Angaben am 2. April 2025 aus Italien in die Schweiz eingereist und verfügte über einen Pass sowie eine italienische Identitätskarte.
- Verhöre und Strafbefehl: A._ weigerte sich, von der Polizei angehört zu werden, da sein gewünschter Anwalt nicht erreichbar war. Bei der Befragung durch die Staatsanwaltschaft am 4. April 2025, in Anwesenheit eines Anwalts und eines Dolmetschers, bestritt A._ zunächst die Drogengeschäfte, räumte schliesslich jedoch den Verkauf eines halben Gramms Kokain für CHF 40.– ein.
Aufgrund dieser Vorfälle erliess die Staatsanwaltschaft am 4. April 2025 einen Strafbefehl. A.__ wurde wegen Widerhandlungen gegen Art. 19 Abs. 1 lit. c des Betäubungsmittelgesetzes (BetmG) und Art. 115 Abs. 1 lit. a des Ausländer- und Integrationsgesetzes (AIG) zu einer Freiheitsstrafe von 90 Tagen verurteilt. Zudem wurde eine am 19. November 2024 bedingt ausgesprochene Geldstrafe von 120 Tagessätzen (mit einer Probezeit von 3 Jahren) um ein Jahr verlängert. Die frühere Verurteilung erfolgte wegen Delikten gegen das BetmG, Behinderung einer Amtshandlung, Widerhandlung gegen Art. 119 AIG und Drogenkonsum.
- Ablehnung der amtlichen Verteidigung:
- Am 8. April 2025 lehnte die Staatsanwaltschaft die Bestellung eines amtlichen Verteidigers für A.__ ab.
- Die Strafrechtliche Beschwerdekammer des Kantons Genf wies mit Urteil vom 9. Mai 2025 die dagegen erhobene Beschwerde von A.__ ab.
- Beschwerde an das Bundesgericht: A.__ reichte am 11. Juni 2025 Beschwerde in Strafsachen beim Bundesgericht ein. Er beantragte die Bestellung von Me Samir Djaziri als amtlichen Verteidiger mit Wirkung ab dem 4. April 2025 und subsidiär die Aufhebung des angefochtenen Urteils sowie die Rückweisung der Sache an die Vorinstanz zur Neubeurteilung. Ferner ersuchte er um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege.
III. Rügen des Beschwerdeführers
Der Beschwerdeführer rügte eine Verletzung von Bundesrecht (Art. 132 Abs. 1 lit. b, 2 und 3 StPO) sowie von Konventionsrecht (Art. 6 Abs. 3 lit. b und c der Europäischen Menschenrechtskonvention, EMRK). Er machte geltend, die Vorinstanz habe zu Unrecht die Bestellung eines amtlichen Verteidigers verweigert, obwohl die Bedingungen der Mittellosigkeit und der Schwere des Falles erfüllt seien und die Sache zudem eine Komplexität aufweise, die er alleine nicht bewältigen könne. Er berief sich insbesondere auf das Urteil des EGMR im Fall Hamdani c. Suisse vom 29. März 2023.
IV. Erwägungen des Bundesgerichts
Das Bundesgericht trat auf die Beschwerde ein, da es sich um einen anfechtbaren Zwischenentscheid handelte und der Beschwerdeführer als Beschuldigter ein schutzwürdiges Interesse an der Aufhebung der angefochtenen Entscheidung hatte, da die Verweigerung eines amtlichen Verteidigers einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil im Sinne von Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG bewirken kann.
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Gesetzliche Grundlagen der amtlichen Verteidigung:
- Ausserhalb der obligatorischen Verteidigungsfälle gemäss Art. 130 StPO setzt das Recht auf einen amtlichen Verteidiger nach Art. 132 Abs. 1 lit. b StPO kumulativ voraus, dass der Beschuldigte mittellos ist und die Wahrung seiner Interessen dies geboten erscheinen lässt.
- Die letztgenannte Bedingung ist im Lichte von Art. 132 Abs. 2 und 3 StPO auszulegen. Eine amtliche Verteidigung ist insbesondere geboten, wenn die Sache nicht geringfügig ist und tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten aufweist, die der Beschuldigte allein nicht überwinden könnte (Art. 132 Abs. 2 StPO). Eine Sache gilt in jedem Fall als nicht geringfügig, wenn dem Beschuldigten eine Freiheitsstrafe von mehr als vier Monaten oder eine Geldstrafe von mehr als 120 Tagessätzen droht (Art. 132 Abs. 3 StPO).
- Diese Kriterien entsprechen weitgehend der Rechtsprechung des Bundesgerichts zur unentgeltlichen Rechtspflege nach Art. 29 Abs. 3 BV und Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK. Eine amtliche Verteidigung drängt sich danach in jedem Fall auf, wenn ein Strafverfahren die Rechtsstellung einer Person besonders schwerwiegend beeinträchtigen kann (vgl. Art. 130 lit. a und b StPO). Sie kann ferner notwendig sein, wenn eine Freiheitsstrafe von wenigen Wochen bis zu einigen Monaten droht und sich zur relativen Schwere des Falles besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten gesellen, die der Beschuldigte allein nicht bewältigen könnte. Bei Bagatelldelikten, die lediglich eine Busse oder eine minimale Freiheitsstrafe nach sich ziehen, besteht hingegen kein verfassungsmässiger Anspruch auf einen Anwalt. Allerdings bedeutet das Unterschreiten der in Art. 132 Abs. 3 StPO genannten Schwelle nicht automatisch, dass es sich um einen Bagatellfall handelt (BGE 143 I 164 E. 3.6). Ein Strafbefehl stellt einen wichtigen Hinweis auf die voraussichtlich zu erwartende Strafe dar (BGE 139 IV 270 E. 3.1).
- Die Beurteilung der Komplexität eines Falles (Art. 132 Abs. 2 StPO) erfordert die Würdigung aller konkreten Umstände. Die Notwendigkeit eines Rechtsbeistandes muss auf objektiven (Art der Sache) und subjektiven (Fähigkeit des Beschuldigten) Elementen beruhen. Objektive Schwierigkeit wird bejaht, wenn die Subsumtion der Fakten allgemeine oder spezielle Zweifel aufwirft. Subjektiv sind Alter, Ausbildung, Vertrautheit mit der Justizpraxis, Sprachkenntnisse und notwendige Verteidigungsmassnahmen zu berücksichtigen. Je stärker die Interessen einer Person durch das Strafverfahren betroffen sind, desto weniger streng sind die Anforderungen an die Komplexität der Sache.
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Abgrenzung zum EGMR-Urteil Hamdani c. Suisse:
- Der Beschwerdeführer berief sich auf das EGMR-Urteil Hamdani c. Suisse, wonach die Analyse der Komplexität des Falles "überflüssig" gewesen sei, wenn Mittellosigkeit und eine nicht geringfügige Freiheitsstrafe vorlägen.
- Das Bundesgericht wies diese Argumentation zurück. Es hielt fest, dass der EGMR mit dem Hamdani-Urteil seine etablierte Rechtsprechung zur amtlichen Verteidigung nicht ändern und insbesondere die Prüfung des Kriteriums der Komplexität nicht allein wegen einer drohenden Freiheitsstrafe aufheben wollte (unter Verweis auf frühere EGMR-Urteile wie Twalib, Pham Hoang und Quaranta). Im Übrigen sei im Fall Hamdani die Verteidigung des Beschwerdeführers letztlich nicht beeinträchtigt worden, da dieser von einem Anwalt seiner Wahl hatte unterstützt werden können.
- Das Bundesgericht stellte fest, dass die Vorinstanz das Konventionsrecht nicht verletzt habe, indem sie die Kriterien des Art. 132 Abs. 2 und 3 StPO, insbesondere das der Komplexität, prüfte, obwohl eine Freiheitsstrafe im Raum stand. Da der Widerruf der früheren bedingten Strafe als "unwahrscheinlich" beurteilt wurde (was der Beschwerdeführer nicht bestritt), sei nur die konkrete Freiheitsstrafe von 90 Tagen zu berücksichtigen. Diese liege unter der Schwelle von Art. 132 Abs. 3 StPO (vier Monate, d.h. 120 Tage). Der Fall sei somit nicht allein aufgrund der drohenden Freiheitsstrafe als "nicht geringfügig" im Sinne dieser Bestimmung zu qualifizieren. Eine amtliche Verteidigung dränge sich unter diesen Umständen nicht allein wegen einer Freiheitsstrafe auf, unabhängig von ihrer Dauer oder anderen Umständen.
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Beurteilung der Komplexität des Falles im konkreten Fall:
- Keine objektive Schwierigkeit: Die Vorinstanz hatte festgestellt, dass die dem Beschwerdeführer zur Last gelegten Delikte (illegaler Aufenthalt und Drogenhandel) keine besonderen Verständnis- oder Anwendungsschwierigkeiten aufwiesen. Die Fakten seien einfach und klar umrissen, die Anklagepunkte gängig, und es seien keine zusätzlichen Untersuchungsmassnahmen erforderlich. Der Strafbefehl sei ausserdem noch am Tag der Einvernahme durch die Staatsanwaltschaft erlassen worden, was auf die Einfachheit des Sachverhalts hindeute. Das Bundesgericht bestätigte diese Einschätzung. Allein die Bestreitung der Fakten durch den Beschwerdeführer mache das Verfahren nicht wesentlich komplexer. Der Beschwerdeführer bestreite gemäss Vorinstanz im kantonalen Rekurs lediglich noch die Höhe der Strafe, was er vor Bundesgericht nicht beanstandet habe. Die pauschale Behauptung weiterer Untersuchungsmassnahmen sei appellatorisch und nicht überzeugend. Ein Rügepunkt bezüglich der "Verwertung bestimmter Dokumente" sei mangels präziser Begründung gemäss Art. 42 Abs. 2 und 106 Abs. 2 BGG unzulässig.
- Keine rechtliche Schwierigkeit: Die dem Beschwerdeführer vorgeworfenen Strafnormen (Art. 115 Abs. 1 lit. a AIG und Art. 19 Abs. 1 lit. c BetmG) seien auch für juristisch nicht vorgebildete Personen verständlich. Die Frage des Widerrufs der bedingten Strafe sei eine gängige strafrechtliche Frage, die das Gericht ohnehin von Amtes wegen prüfe. Zudem habe die Staatsanwaltschaft den Widerruf nicht beantragt.
- Keine subjektive Schwierigkeit:
- Der Umstand, dass der Beschwerdeführer keinen Zugang zum Schweizer Hoheitsgebiet habe, mache die anwaltliche Vertretung nicht zwingend notwendig. Eine gegenteilige Annahme würde dazu führen, dass jeder im Ausland wohnhafte Beschuldigte systematisch einen amtlichen Verteidiger erhielte, selbst wenn er in der Lage wäre, seine Verteidigung effektiv selbst wahrzunehmen.
- Die Sprachbarriere rechtfertige ebenfalls keine amtliche Verteidigung; die Anwesenheit eines Dolmetschers sei in solchen Fällen ausreichend (unter Verweis auf BGE 1B_510/2022 und 1B_591/2021). Es gebe auch keinen Anspruch auf eine vollständige Übersetzung eines schriftlichen Urteils (BGE 145 IV 197 E. 1.3.3).
- Die Behauptung einer Behinderung der Akteneinsicht aufgrund des Einreiseverbots wurde ebenfalls zurückgewiesen. Der Beschwerdeführer könne Kopien per Post anfordern oder ein "sauf-conduit" (Sicherungsgeleit) bei der Verfahrensleitung beantragen. Es gebe keine Anhaltspunkte dafür, dass er solche Anträge nicht ohne anwaltliche Hilfe stellen könnte.
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Fazit des Bundesgerichts: Die Strafrechtliche Beschwerdekammer hat das Bundes- und Konventionsrecht nicht verletzt, indem sie das Kriterium der Komplexität als nicht erfüllt ansah und somit die Bestellung eines amtlichen Verteidigers ablehnte.
V. Entscheid über die unentgeltliche Rechtspflege und Kosten
Das Bundesgericht lehnte das Gesuch des Beschwerdeführers um unentgeltliche Rechtspflege ab, da die Beschwerde von vornherein aussichtslos war. Die Gerichtskosten von CHF 1'200.– wurden dem Beschwerdeführer auferlegt, wobei seine schwierige finanzielle Situation bei der Festsetzung berücksichtigt wurde (Art. 65 Abs. 2 und 66 Abs. 1 BGG).
Kurzfassung der wesentlichen Punkte:
- Ablehnung der amtlichen Verteidigung: Das Bundesgericht bestätigte die Ablehnung eines amtlichen Verteidigers für A.__, der wegen Drogenhandels und illegaler Einreise zu einer 90-tägigen Freiheitsstrafe verurteilt wurde.
- Kriterien für amtliche Verteidigung: Die Bestellung eines amtlichen Verteidigers setzt kumulativ Mittellosigkeit und die Notwendigkeit der Interessenwahrung voraus. Letztere ist gegeben, wenn der Fall nicht geringfügig ist und tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten aufweist, die der Beschuldigte allein nicht bewältigen kann (Art. 132 StPO).
- Schwere des Falles: Die drohende Freiheitsstrafe von 90 Tagen liegt unter der Schwelle von 4 Monaten (120 Tagen) gemäss Art. 132 Abs. 3 StPO. Die Verlängerung einer bedingten Strafe bedeutet nicht zwingend einen Widerruf, der im vorliegenden Fall als unwahrscheinlich beurteilt wurde.
- Komplexität des Falles: Der Fall wurde als objektiv und subjektiv nicht komplex eingestuft. Die Fakten und Anklagepunkte sind klar und gängig. Die blosse Bestreitung der Fakten oder die Sprachbarriere machen den Fall nicht hinreichend komplex, da Dolmetscher zur Verfügung stehen. Auch die Möglichkeit der Akteneinsicht durch den Beschuldigten selbst wird bejaht.
- EGMR-Rechtsprechung (Hamdani): Das Bundesgericht stellte klar, dass das Urteil Hamdani c. Suisse des EGMR die Notwendigkeit der Prüfung der Komplexität eines Falles nicht aufgehoben hat, selbst wenn eine Freiheitsstrafe droht.
- Fazit: Da die kumulativen Voraussetzungen für eine amtliche Verteidigung, insbesondere die Komplexität und die Schwere des Falles, nicht erfüllt sind, hat das Bundesgericht die Beschwerde abgewiesen und das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege mangels Erfolgsaussichten abgelehnt.