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Das Urteil des Schweizerischen Bundesgerichts 6B_899/2024 vom 29. Oktober 2025 befasst sich detailliert mit der Anordnung einer Landesverweisung und deren Ausschreibung im Schengener Informationssystem (SIS) für einen kosovarischen Staatsangehörigen. Das Bundesgericht hebt das Urteil der Vorinstanz, des Obergerichts des Kantons Solothurn, auf und weist die Sache zur neuen Entscheidung zurück.
1. Sachverhalt und Vorinstanzenentscheid
A.A.__, 1975 in der Republik Kosovo geboren und seit 1987 in der Schweiz wohnhaft (mit Niederlassungsbewilligung), wurde vom Amtsgerichtspräsidenten von Bucheggberg-Wasseramt am 24. Januar 2022 wegen mehrfachen Betrugs im Bereich der Sozialhilfe zu einer bedingten Freiheitsstrafe von elf Monaten verurteilt. Gleichzeitig wurde eine Landesverweisung von sieben Jahren und deren Ausschreibung im SIS angeordnet. Das Obergericht des Kantons Solothurn bestätigte in seinem Urteil vom 27. August 2024 die Landesverweisung und deren SIS-Ausschreibung, setzte die Dauer der Landesverweisung jedoch auf fünf Jahre herab.
2. Begehren des Beschwerdeführers und bundesgerichtliche Prozessführung
Der Beschwerdeführer A.A.__ beantragte mit Beschwerde in Strafsachen die Aufhebung der angeordneten Landesverweisung respektive der SIS-Ausschreibung. Das Bundesgericht legte sein Begehren reformatorisch aus (Art. 107 Abs. 2 BGG), als Antrag auf Verzicht der Landesverweisung und/oder deren SIS-Ausschreibung (E. 1).
3. Rechtliche Grundlagen und Argumente des Bundesgerichts
Der Beschwerdeführer machte geltend, die Vorinstanz habe das Vorliegen eines Härtefalls zu Unrecht verneint und dabei den massgeblichen Sachverhalt willkürlich festgestellt sowie Art. 13 BV (Recht auf Privat- und Familienleben), Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) und das Übereinkommen über die Rechte des Kindes (KRK) verletzt.
3.1. Obligatorische Landesverweisung und Härtefallklausel (Art. 66a StGB) Gemäss Art. 66a Abs. 1 lit. e StGB ist die obligatorische Landesverweisung für 5-15 Jahre aus der Schweiz für Ausländer vorgesehen, die wegen Betrugs im Bereich einer Sozialversicherung oder der Sozialhilfe verurteilt wurden. Da der Beschwerdeführer kosovarischer Staatsangehöriger ist und wegen mehrfachen Betrugs im Bereich der Sozialhilfe verurteilt wurde, sind die grundsätzlichen Voraussetzungen für eine Landesverweisung erfüllt (E. 2.3.1).
Die zentrale Norm für die Prüfung im vorliegenden Fall ist die Härtefallklausel von Art. 66a Abs. 2 StGB. Diese erlaubt es dem Gericht, ausnahmsweise von einer Landesverweisung abzusehen, wenn kumulativ zwei Voraussetzungen erfüllt sind: 1. Die Landesverweisung würde für den Ausländer einen schweren persönlichen Härtefall bewirken. 2. Die öffentlichen Interessen an der Landesverweisung überwiegen die privaten Interessen des Ausländers am Verbleib in der Schweiz nicht. Diese Klausel dient der Umsetzung des Verhältnismässigkeitsprinzips (Art. 5 Abs. 2 BV) und ist restriktiv anzuwenden (E. 2.3.2).
3.2. Kriterien für einen schweren persönlichen Härtefall Das Bundesgericht zieht für die kriteriengeleitete Prüfung des Härtefalls den Katalog des "schwerwiegenden persönlichen Härtefalls" gemäss Art. 31 Abs. 1 VZAE (Verordnung über Zulassung, Aufenthalt und Erwerbstätigkeit) heran. Massgeblich sind dabei namentlich: * Der Grad der persönlichen und wirtschaftlichen Integration. * Die familiären Bindungen in der Schweiz bzw. in der Heimat. * Die Aufenthaltsdauer. * Der Gesundheitszustand und die Resozialisierungschancen (E. 2.3.3). Ein schwerer persönlicher Härtefall ist gegeben, wenn ein Eingriff von einer gewissen Tragweite in das in Art. 13 BV und Art. 8 EMRK verankerte Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens vorliegt (E. 2.3.3).
3.3. Schutzbereich des Familienlebens (Art. 13 BV, Art. 8 EMRK) Das Recht auf Achtung des Familienlebens schützt nahe, echte und tatsächlich gelebte familiäre Beziehungen einer in der Schweiz gefestigt anwesenheitsberechtigten Person. Zur Kernfamilie gehören Ehegatten und minderjährige Kinder. Das Recht ist berührt, wenn es der Familie nicht ohne Weiteres möglich oder zumutbar wäre, ihr Familienleben andernorts zu pflegen (BGE 144 I 266 E. 3.3; E. 2.3.4).
3.4. Interessenabwägung bei Härtefallbejahung (Art. 66a Abs. 2 StGB und Art. 8 EMRK) Wird ein schwerer persönlicher Härtefall bejaht, erfolgt eine umfassende Interessenabwägung. Dabei sind die "öffentlichen Interessen an der Landesverweisung" massgebend, die sich an der verschuldensmässigen Natur und Schwere der Tatbegehung, der Gefährlichkeit des Täters für die öffentliche Sicherheit und der Legalprognose orientieren (E. 2.3.5). Ist Art. 8 EMRK betroffen, muss der Eingriff nach Art. 8 Ziff. 2 EMRK gerechtfertigt sein, d.h., er muss gesetzlich vorgesehen, einem legitimen Zweck dienend und verhältnismässig sein. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) berücksichtigt hierbei insbesondere: Art und Schwere der Straftat, Dauer des Aufenthalts, verstrichene Zeit seit der Tat, Verhalten des Betroffenen, sowie soziale, kulturelle und familiäre Bindungen im Aufnahme- und Heimatstaat (E. 2.3.6). Bei der Prüfung der "Notwendigkeit" eines Eingriffs in das Familienleben sind zudem die Staatsangehörigkeit der Familienmitglieder, die familiäre Situation (Ehedauer, Wissen des Ehepartners über Straftaten), das Vorhandensein und Alter der Kinder sowie die Schwierigkeiten des Ehegatten im Heimatland zu berücksichtigen (E. 2.3.7).
3.5. Kindesinteressen und Kindeswohl (KRK) Bei der Interessenabwägung ist den Kindesinteressen und dem Kindeswohl als wesentliches Element Rechnung zu tragen (BGE 143 I 21 E. 5.5.1; E. 2.3.8). Minderjährige Kinder teilen das ausländerrechtliche Schicksal des obhutsberechtigten Elternteils (BGE 143 I 21 E. 5.4). Eine Landesverweisung des Elternteils mit Sorge- und Obhutsrecht zwingt das Kind faktisch, die Schweiz zu verlassen. Dabei sind auch die Schwierigkeiten zu berücksichtigen, denen Kinder im Zielland begegnen könnten (EGMR Üner gegen Niederlande). Grundsätzlich ist Kindern im anpassungsfähigen Alter ein Umzug zumutbar (E. 2.3.8). Wichtig für den vorliegenden Fall: Bei intakten familiären Verhältnissen mit gemeinsamem Sorge- und Obhutsrecht der Eltern führt eine Landesverweisung, die zu einer Trennung der Familiengemeinschaft führt, wenn dem anderen Elternteil ein Wegzug nicht zumutbar ist, zu einem Abbruch der eng gelebten Beziehung zu einem Elternteil. Dies ist nicht im Interesse des Kindeswohls und spricht grundsätzlich gegen eine Landesverweisung. Ein solcher Eingriff in Art. 8 Ziff. 1 EMRK darf nur nach einer eingehenden und umfassenden Interessenabwägung und aus ausreichend soliden und gewichtigen Überlegungen erfolgen (E. 2.3.8).
4. Anwendung auf den konkreten Fall und Kritik des Bundesgerichts an der Vorinstanz
Der Beschwerdeführer lebt seit über 37 Jahren in der Schweiz, hat hier die prägenden Jahre verbracht und eine Kernfamilie mit vier Kindern aufgebaut. Trotz seiner als "unterdurchschnittlich" eingestuften Integration (aufgrund von Schulden und Vorstrafen, insbesondere mehrfacher Betrug und frühere Verurteilungen wegen Gewaltdelikten und Urkundenfälschung) erkannte das Bundesgericht eine gravierende Mangelhaftigkeit in der Beurteilung der Vorinstanz:
5. Entscheid und Auflagen für die neue Beurteilung
Das Bundesgericht hiess die Beschwerde gut, hob das Urteil des Obergerichts des Kantons Solothurn auf und wies die Sache zur neuen Entscheidung an die Vorinstanz zurück. Diese muss nun eine umfassende Interessenabwägung im Sinne von Art. 66a Abs. 2 StGB und Art. 8 Ziff. 2 EMRK vornehmen (E. 4).
Dabei hat sie insbesondere folgende Punkte zu beachten: * Aufenthaltsstatus der Ehefrau: Die Ehefrau des Beschwerdeführers verfügt entgegen den Annahmen der Vorinstanz nicht über eine Niederlassungs-, sondern eine abgeleitete Aufenthaltsbewilligung. Es kann daher nicht einfach angenommen werden, dass sie im Falle der Landesverweisung ihres Ehemannes in der Schweiz verbleiben könnte (E. 4). * Rechtliches Schicksal der Kinder: Minderjährige Kinder müssen grundsätzlich den Inhabern der elterlichen Sorge und Obhut folgen. Eine Zumutbarkeitsprüfung ist für alle betroffenen Kinder, einschliesslich der älteren, noch nicht volljährigen Kinder, vorzunehmen (E. 4). * Situation des kranken Sohnes: Die Vorinstanz muss sich detailliert mit der Erkrankung des Sohnes B.A.__, den Möglichkeiten seiner Behandlung und Beschulung im Kosovo befassen (E. 4). * Voraussetzungen für Familientrennung: Eine Trennung der Familiengemeinschaft darf nur aus ausreichend soliden und gewichtigen Gründen erfolgen (E. 4).
Zusammenfassende Essenz
Das Bundesgericht bejaht das Vorliegen eines schweren persönlichen Härtefalls entgegen der Vorinstanz. Dies aufgrund der intakten Kernfamilie des Beschwerdeführers in der Schweiz, seiner langen Aufenthaltsdauer und insbesondere der ignorierten schweren Erkrankung eines seiner Kinder durch die Vorinstanz. Es rügt die mangelhafte Interessenabwägung der Vorinstanz, die zu Unrecht das Bestehen einer gelebten Vater-Kind-Beziehung in Frage stellte und von einer faktischen Familientrennung ausging, ohne die Voraussetzungen dafür ausreichend zu prüfen. Die Sache wird zur umfassenden Interessenabwägung unter Berücksichtigung des Kindeswohls, der tatsächlichen aufenthaltsrechtlichen Situation der Familie und der spezifischen Bedürfnisse des kranken Sohnes an die Vorinstanz zurückgewiesen. Das Bundesgericht unterstreicht, dass eine Trennung der intakten Familiengemeinschaft nur aus äusserst gewichtigen Gründen erfolgen darf.